In der Nacht zu Dienstag ist der Kachowka-Staudamm in der Nähe von Cherson gesprengt worden. Die Ukraine spricht von russischem „Terror“.
Katastrophe in UkraineKachowka-Staudamm gesprengt – Peskow dementiert russische Täterschaft
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat am Dienstagmorgen den Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat einberufen. Selenskyj teilte dies im Nachrichtendienst Telegram mit. Grund ist die Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der Region Cherson, die weitreichende Auswirkungen auf die Sicherheit des Landes hat. Es gab eine Explosion im Wasserkraftwerk Kachowka, das sich auf der Staumauer befindet. Russland wird für die Sprengung verantwortlich gemacht.
Moskau dementierte das und sprach von ukrainischem Beschuss, der die Schäden am Kachowka-Staudamm ausgelöst haben soll. „Wir erklären offiziell, dass es sich hier eindeutig um eine vorsätzliche Sabotage der ukrainischen Seite handelt, die auf Befehl (...) des Kiewer Regimes geplant und ausgeführt wurde“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Dienstag. Beweise für die Anschuldigungen legte er nicht vor. Präsident Wladimir Putin werde über alle Entwicklungen informiert, sagte Peskow.
Wolodymyr Selenskyj: Russland hat Kaschowka-Staudamm mit Minen gesprengt
Selenskyj war am Dienstag beim Treffen der Staatsoberhäupter der sogenannten Bukarest-9-Gruppe in der slowakischen Hauptstadt Bratislava zugeschaltet und wies die Täterschaft eindeutig der Ukraine zu. Russland würde den Damm „leider“ seit über einem Jahr kontrollieren. Es sei „physikalisch unmöglich“, ihn von außen irgendwie durch Beschuss in die Luft zu jagen. Russland habe den Damm vermint und gesprengt, so der ukrainische Präsident.
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Die Darstellungen beider Seiten ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.
Das Wasserkraftwerk wurde nach Angaben beider Kriegsparteien zerstört. Es sei „offensichtlich“, dass eine Reparatur nicht möglich sei, sagte der von Moskau eingesetzte Bürgermeister in Nowa Kachowka Wladimir Leontjew am Dienstag im russischen Staatsfernsehen. Auch der ukrainische Kraftwerksbetreiber sprach von einer kompletten Zerstörung der Anlage.
Kachowka-Staudamm ist wichtig für Sicherheit der Ukraine
Der Damm staut den Dnipro und bildet den letzten von sechs Stauseen am Unterlauf des Flusses. Der Stausee hat eine Größe von 2155 Quadratkilometern, fasst 18,2 Mrd. Kubikmeter Wasser und weist eine maximale Wassertiefe von 32 Metern auf. Nun drohen Überschwemmungen und Probleme bei der Wasserversorgung für viele Menschen. In den sozialen Medien wurden zahlreiche Bilder und Videos verbreitet, die das ausströmende Wasser zeigen.
Auch Präsident Selenskyj selber twitterte Bilder der Überflutungen. Die Aufnahmen von den Zerstörungen sehen dramatisch aus. Selenskyj machte „russische Terroristen“ für die Explosion verantwortlich. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba schrieb bei Twitter von einem „abscheulichen Kriegsverbrechen“.
Der Präsident schrieb dazu, alle Einrichtungen bzw. Dienste würden funktionieren, man solle außerdem nur offiziellen Quellen Glauben schenken.
Der in der Regel gut unterrichtete Telegram-Kanal Rybar meldet, auf den flussabwärts gelegenen Inseln hätten die ukrainischen Einsatzkräfte mit Evakuierungen begonnen. 80 Siedlungen könnten von Überflutungen betroffen sein. 28 Stützpfeiler am Wasserkraftwerk seien zerstört worden, heißt es weiter.
Staudamm-Stadt Nowa Kachowka ist unter russischer Kontrolle
Während der russischen Invasion war der Stausee 2022 unter russische Kontrolle geraten. Im vergangenen Herbst gelang der ukrainischen Armee dann die Befreiung eines Teils der Region – darunter auch die der gleichnamigen Gebietshauptstadt Cherson. Städte südlich des Dnipro blieben allerdings unter russischer Kontrolle, darunter auch die Staudamm-Stadt Nowa Kachowka. Die Straßenbrücke, die über die Staumauer führt, war bereits im Sommer 2022 beschädigt worden.
Es heißt, die Zerstörung des Damms und des Wasserkraftwerks könnte zu Problemen bei Wasser- und Energieversorgung in weiten Teilen des Landes führen. Auch die von Russland annektierte Krim erhält Wasser aus dem Stausee. Der von Moskau eingesetzte Bürgermeister in Nowa Kachowka, Wladimir Leontjew, befürchtet hier Engpässe.
Vor allem könnte das Atomkraftwerks Saporischschja, das sich unter russischer Kontrolle befindet, betroffen sein. Die Anlage entnimmt ihr Kühlwasser dem See. Wenn hier der Wasserstand rapide sinkt, könnte dies zu Problemen führen. Allerdings besteht nach Angaben der Internationale Atomenergie-Organisation IAEA kein „unmittelbares nukleares Risiko“. „Die Experten der IAEA“ seien vor Ort und „beobachten die Situation“, teilte die Organisation am Dienstag im Onlinedienst Twitter mit.
Die flussabwärts Großstadt Cherson ist dagegen durch das steigende Wasser gefährdet. Der Militärgouverneur des Gebiets, Olexander Prokudin, warnte, innerhalb von fünf Stunden könne der Wasserstand eine kritische Höhe erreichen.
Cherson könnte von Überflutung betroffen sein
Bereits vor einigen Monaten hatte Experten ein Modell erstellt, das mögliche Auswirkungen einer Zerstörung des Kachowka-Staudamms simuliert. Die meisten Gebiete am Südufer des Dnipro würden demnach überflutet werden. Die größten Teile von Cherson würden vom Wasser verschont bleiben, aber Hafen und angrenzenden Gebieten droht demnach eine Überschwemmung.
Eine weitere Folge der Überflutungen: Eine Überquerung des Dnipro flussabwärts von Nowa Kachowka würde faktisch unmöglich. Das könnte die geplante Offensive der ukrainischen Armee betreffen. Der ukrainische Präsidentenberater Michailo Podoljak warf Russland vor, den Staudamm „gesprengt“ zu haben, um das Gebiet zu überfluten und so die geplante ukrainische Offensive zu behindern.
Ist Sprengung des Dammes in der Ukraine ein Kriegsverbrechen?
Obwohl Russland abstreitet, für die Zerstörung des Karowka-Staudammes verantwortlich zu sein, deuten Beobachter dies als die plausibelste Erklärung. Die Ukraine könne kein Interesse daran haben, ihre eigene Offensive zu stören oder weite Landstriche unter Wasser zu setzen, schreibt Politikwissenschaftler Carlo Masala.
Masala spricht außerdem von einem „Kriegsverbrechen“ und übernimmt damit die Perspektive der Ukraine. „Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms ist eine abscheuliche Tat“, schrieb Cleverly am Dienstag auf Twitter. „Vorsätzliche Angriffe auf rein zivile Infrastruktur sind ein Kriegsverbrechen.“Anton Geraschenko, Berater der ukrainischen Regierung, hatte zuvor von einer „technischen, ökologischen und humanitären Katastrophe“ gesprochen.
Der österreichische Rechtswissenschaftler Ralph Janik, Experte für Völkerrecht und Internationale Beziehungen, glaubt ebenfalls, Russland wolle mit der Sprengung des Dammes die ukrainische Offensive aufhalten.
Er meint, die Genver Konvention setze sehr hohe Hürden für eine solche Aktion. Dämme, Deiche oder Kraftwerke dürften demnach nicht attackiert werden, weil dann die Gefahr großer Verluste in der Zivilbevölkerung bestände. Ein solches Ausmaß der Zerstörung könne nicht gerechtfertigt werden. „Clear violation of the laws of war. A war crime to be exact“, ist die Auffassung von Janik.
Der britische Außenminister James Cleverly sprach ebenfalls von einem „Kriegsverbechen“. Ähnlich äußerten sich die Präsidenten der drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Sie sprachen von „russischem Terrorismus“ und „Terrorakt“.
Bundeskanzler Olaf Scholz sieht „neue Dimension“ des Krieges
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sieht in der teilweisen Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der ukrainischen Region Cherson eine „neue Dimension“ des Ukraine-Kriegs. Die Beschädigung des Damms sei etwas, „das zu der Art und Weise passt, wie Putin diesen Krieg führt“, sagte Scholz am Dienstag beim „Europaforum“ des WDR in Berlin.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg verurteilte die Zerstörung des Staudamms ebenfalls. Der Vorfall gefährde Tausende Zivilisten und verursache schwere Umweltschäden, schrieb Stoltenberg am Dienstag auf Twitter. „Dies ist eine ungeheuerliche Tat, die einmal mehr die Brutalität von Russlands Krieg in der Ukraine demonstriert.“