Stefano Bizzotto im Interview„Bei uns hätte sich Löw nicht im Amt gehalten“
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Er ist seit Jahrzehnten die Instanz, wenn in Italien über deutschen Fußball diskutiert wird.
Der Fernseh-Journalist Stefano Bizzotto verrät im Interview mit Harald Pistorius, wie man in seiner Heimat über die deutsche Elf denkt, erklärt, was Italien vom DFB gelernt hat, und spricht über die Gründe für den Höhenflug der „Squadra Azzurra“.
Wie schätzen Sie die Entwicklung der deutschen Nationalmannschaft ein?
Die Entwicklung der letzten Jahre hat sich in der Vorrunde dieser EM widergespiegelt: Es ist ein stetes Auf und Ab mit guten und schlechten Tagen – man weiß vorher nie, was bei der deutschen Mannschaft herauskommt. Gut gegen die Franzosen, sehr gut gegen Portugal und schlecht gegen Ungarn. Deutschland ist immer für eine Überraschung gut.
Halten Sie es für richtig, dass Joachim Löw nach der WM im Amt geblieben ist?
Ich an seiner Stelle wäre zurückgetreten, aber er geht seinen eigenen Weg. Er wollte weitermachen, und man hat ihn weitermachen lassen, auf die Gefahr hin, dass drei Jahre Entwicklung verloren gehen. In Italien hätte er sich nicht im Amt gehalten – ein solcher Misserfolg führt bei uns zum Rücktritt oder zur Entlassung.
Was trauen Sie der deutschen Mannschaft zu bei der Euro?
Eine Europameisterschaft ist fast immer eine Wundertüte – denken Sie an Griechenland 2004 oder Dänemark 1992, auch Portugal hatten 2016 nicht viele auf der Rechnung. Deshalb tut sich jeder Experte schwer mit einer Prognose, denn die wahre EM beginnt erst jetzt, mit dem Achtelfinale. Ich sehe vier, fünf Mannschaften, die auf dem Papier besser sind als die Deutschen, aber was heißt das schon? Wenn Deutschland sich mit einem Sieg gegen England Selbstvertrauen holt, kann die Mannschaft durchgehen bis ins Finale – den Mythos der Turniermannschaft kennt die ganze Welt, und alle haben Respekt davor.
Stefano Bizzotto
Der Sportjournalist und Buch-autor Stefano Bizzotto (60) ist seit Jahrzehnten der italienische Experte für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft und die Bundesliga. Der gebürtige Bozener begann seine Karriere bei der „Südtiroler Zeitung“ und arbeitete von 1984 bis 1991 für die legendäre „Gazzetta dello Sport“. Seitdem ist er für den staatlichen Fernsehsender RAI als Reporter, Kommentator und Moderator tätig und derzeit bei der Europameisterschaft im Einsatz. Einer der Höhepunkte seiner Laufbahn: Er kommentierte 2014 für RAI den deutschen WM-Triumph gegen Argentinien. (hp)
Wie sieht man in Italien auf den deutschen Fußball?
Zwei Ligen in Europa sind eindeutig stärker als die deutsche und auch als die italienische: in erster Linie England, aber auch Spanien. Bei uns genießt die Bundesliga immer noch hohe Aufmerksamkeit. Die Generation, die vor zehn, 15 Jahren entstanden ist und 2014 Weltmeister wurde, ist für uns eine Art Vorbild. Danach wollten wir Deutschland nacheifern mit den Leistungszentren und der Talentförderung. Das ist geschehen, das zahlt sich aus.
Fußballdeutschland ist begeistert von der Spielstärke und dem Offensivgeist. Sind Sie von dieser Entwicklung überrascht?
Nein, es hat mich nicht so überrascht. Aus des Jahrgängen 1997 bis 1999 haben wir eine tolle Generation talentierter, hungriger und gut ausgebildeter Spieler bekommen. Wo Deutschland in diesem Alter eigentlich nur Kai Havertz hat, haben wir Nicolo Barella, Manuel Locatelli, Federico Chiesa, Alessandro Bastoni, Gianluigi Donnarumma oder Matteo Pessina. Robero Mancini ist der richtige Trainer für diese Generation, denn es ist sein Verdienst, dass er keine Angst vor dem Risiko hat, Talente einzusetzen. Typisch für ihn: Einen jungen Spieler wie Nicolo Zaniolo setzte er in der Nationalmannschaft ein, obwohl der noch kein Spiel in der Serie A bestritten hatte.
In Deutschland wird von Fans heftig gekämpft gegen die Einflüsse von Sponsoren und Investoren. Gibt es diesen Trend auch in Italien?
Italien hat hier eine ganz andere Tradition – bei uns gibt es die 50+1 Regel nicht. Die Tifosi interessiert es nicht, wenn ihr Verein verkauft oder von Investoren kontrolliert wird, und es ihnen egal, ob die Geldgeber aus Italien, Amerika oder China kommen. Sie wollen Siege und guten Fußball sehen. Man akzeptiert das sicherlich auch, weil man es in Italien gewohnt war, dass Familienunternehmen Fußballvereine besaßen – von Juventus über Milan und Inter bis zu Sampdoria oder AC Parma. Bis auf die Agnellis bei Juve ist niemand übrig geblieben.
Andrea Agnelli ist Antreiber der Super League. Ist diese Idee nur aufgeschoben?
Das weiß ich nicht, aber für mich steht fest, dass es keine gute Idee ist. Warum? Ganz einfach: Beim Fußball muss der Beste gewinnen, nicht der Reichste.
Zurück zur EM 2021: Glauben Sie, dass Deutschland und Italien bei dieser Euro noch aufeinandertreffen?
Ich hoffe es – denn es wäre das Endspiel; vorher lässt der Turnierplan eine solche Paarung nicht zu. Ich hätte nichts dagegen. Es ist vielleicht nicht gerade bescheiden, aber ehrlich, wenn ich sage: Italien gebe ich die größere Chance auf eine Endspielteilnahme als Deutschland.