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Alles wegen Netflix?Weshalb Schach grade einen echten Boom erlebt

Lesezeit 5 Minuten
Damengambit

Anna Tylor als Beth Harmon in einer Szene der Serie „Damengambit“

Bonn – Sizilianische Verteidigung, spanische Eröffnung, Caro-Kann. Begriffe, mit denen viele noch vor ein paar Monaten nichts anzufangen wussten. Bis zur Netflix-Serie „Das Damengambit“. Sie erzählt die fiktive Geschichte von Elizabeth „Beth“ Harmon, die in den 1960er Jahren vom Waisenkind zur Schach-Weltmeisterin aufsteigt. Von Folge zu Folge der siebenteiligen Miniserie lernt der Zuschauer nicht nur, wie die genannten Eröffnungsstrategien funktionieren, sondern auch die Faszination am Spiel der Könige. Die Serie holt das Schachspiel aus dem männerdominierten Nischendasein, kleidet es in ein glamouröses Gewand. Zeigt Harmon als schillernden Star, der in Luxushotels nächtigt und gegen Suchtprobleme ankämpft. Und Schach als packendes Psychoduell – bis zum letzten Zug.

63 Millionen Haushalte haben das Damengambit gesehen

Im ersten Monat nach der Veröffentlichung im Oktober 2020 sahen die Netflix-Serie nach Angaben des Streamingdienstes 63 Millionen Haushalte weltweit. Seitdem steigen die Zugriffszahlen auf Schachportalen. Bei Fachhändlern sind Bretter, Figuren und Uhren ausverkauft. Auch bei Schach Niggemann in Münster. „Wir sind seit 35 Jahren am Markt, und ich habe noch nie so viele leere Regale gesehen“, sagt Inhaber Christoph Kamp. Beliebt ist alles, was auch als Requisite für die Serie hätte herhalten können: Schachbretter und Figuren aus Holz sowie mechanische Uhren, wie sie in den 1960er Jahren verwendet wurden. Turnierspieler sind längst auf digitale Uhren umgestiegen.

Normalerweise bietet Kamp eine Auswahl von etwa 100 verschiedenen Holzbrettern an, derzeit sind nur etwa drei Prozent lieferbar. Er schätzt, dass es bis zum Frühjahr dauern wird, bis das Sortiment wieder komplett verfügbar sein wird. Die Hochphase erlebte er kurz vor Weihnachten, angestachelt durch den Serienstart und die üblichen Geschenkekäufe. Die Nachfrage sei „exponentiell“ höher als sonst gewesen. „Es ist nach Weihnachten weniger geworden.“ Dennoch sei die Nachfrage immer noch groß. Selbst aus den USA kamen Gesuche nach Holzbrettern – Frachtkosten egal.

Nur wenige Fabriken weltweit

Wer jetzt noch Schachzubehör aus Holz sucht, könnte länger warten müssen. Weltweit produzieren nur wenige Fabriken. Kamp bezieht seine Figuren aus Polen und Indien („Die haben fantastische Hölzer“), die Schachbretter kommen aus Polen und Spanien. Ein Hersteller aus dem Schwarzwald bietet handgefertigte Bretter an.

Aber auch Online-Schach boomt in Zeiten von Kontaktbeschränkungen. Auf dem Schachserver lichess.org beispielsweise waren bis März 2020 nur 40 000 Spieler pro Tag aktiv. Während des ersten Lockdowns verdoppelte sich die Zahl, nach dem Start der Serie waren es täglich 100 000 Mitglieder. Auf dem weltweit größten Schachserver, chess.com, haben sich allein in den vergangenen 24 Stunden etwa 99 000 neue Spieler registriert. Insgesamt zählt die Plattform 56 Millionen Mitglieder.

Analog ist besser

Für Kamp ist das virtuelle Spiel zwar eine Alternative in Corona-Zeiten, dennoch nicht vergleichbar: „Das Online-Schach ist nicht dasselbe. Es fehlt der psychologische Aspekt des Spielens.“ In seinem Verein, dem SK 32 Münster, beobachtet Kamp, dass die Onlinefaszination langsam abflaut. Es fehlt die Situation am Brett. Das Mienenspiel. Jedes Zucken um die Mundwinkel, um den nächsten Zug des Gegners zu erahnen.

Ältester Club

Als Ursprungsländer des Schachspiels gelten Indien, Persien und China. Die Entstehungszeit wird auf das 3. bis 6. Jahrhundert geschätzt. Über Spanien, Italien und Russland gelangte es spät nach Mitteleuropa. Im15. Jahrhundert wurden die Regeln so verändert, dass vom modernen Schach gesprochen werden kann. Als ältester deutscher Verein gilt der 1803 gegründete Berliner Schachclub. bsb

Und genau das inszeniert die Serie eindrucksvoll und realistisch. Das findet auch Stephen Kutzner, Schachspieler vom Godesberger Schachklub, einem der größten Vereine in Deutschland. Realistisch ist vor allem Harmons Lernprozess: angefangen bei den ersten Spielen gegen den Hausme ister übers Selbststudium bis hin zu Turnieren und systematischem Training. „Schach ist eine Mischung aus Theorie und Praxis“, sagt Kutzner. Er selbst lernte Schach von seinem Vater, nahm an Jugendmeisterschaften teil und kam über den SC Remagen zum Godesberger SK. 2018 wurde er Zweiter bei den Godesburger Open, hinter einem Großmeister. 2017 gewann er die Mittelrheinmeisterschaften. Pro Jahr spielt er fünf bis zehn Turniere. „Ich spiele viele aus Spaß“, sagt er. Zwei- bis dreimal pro Monat übt er mit einem Trainer, den Rest machen Spielpraxis und Selbststudium von Eröffnungen aus. „Die ersten zehn bis 20 Züge spult man schnell ab“, sagt er. Danach werde das Spiel automatisch langsamer. In der Serie ist das Tempo der Spielzüge hingegen konstant hoch, nicht unbedingt realitätsgetreu, aber spannender für den Zuschauer.

Serien-Macher von Weltmeistern beraten

Dass „Das Damengambit“ trotzdem so nah am echten Schach ist, ist dem US-amerikanischen Schach-Autor und -Trainer Bruce Pandolfini sowie Garri Kasparow, dem mehrmaligen Schachweltmeister aus Russland, zu verdanken. Beide berieten die Serien-Macher. So basiert das Finale zwischen Beth Harmon und dem russischen Weltmeister Vasily Borgov auf der realen Großmeisterpartie zwischen Wassyl Iwantschuk und Patrick Wolff aus dem Jahre 1993 – zumindest bis zum 36. Zug. Ab dann haben sich die Filmemacher für eine andere Variante entschieden, da die Originalpartie remis endete. Für die Zuschauer gibt es stattdessen einen Sieger.

Realistisch ist die Serie auch in puncto Frauenquote. Von den rund 87 800 Mitgliedern im Deutschen Schachbund ist noch nicht einmal ein Zehntel Frauen. Im Gegensatz zur Miniserie gab es in der Realität bislang keine Weltmeisterin – ausgenommen die Frauenweltmeisterschaft. 2005 schaffte es die Ungarin Judith Polgár unter die zehn besten Spieler der Welt. Elisabeth Pähtz ist derzeit die einzige Frau unter den Top 100 in Deutschland. Beim Godesberg er SK ist das Bild ähnlich: Während im Jugendbereich das Verhältnis noch ausgeglichen ist, kippt es bei den Erwachsenen. Immerhin: Mit Tamila und Michelle Trunz gibt es zwei talentierte Nachwuchsspielerinnen im Verein.

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Dass sich die Serie auch auf den Schachsport auswirkt, zeigt das Echo auf Schachportalen und Videoplattformen. Auf Youtube werden Harmons Partien analysiert, auf www.chess.com kann jeder gegen Beth Harmon antreten – speziell programmierte Bots machen es möglich.Und dem Schachsport könnte ab März eine weitere Aufwärtswelle bevorstehen, wenn die Golden Globes verliehen werden: Serie und Hauptdarstellerin Anya Taylor-Joy sind nämlich für eine der begehrten amerikanischen Filmtrophäen nominiert.