„Wir schreien uns nur noch an“Jugendamt hilft gegen familiäre Gewalt in Corona-Zeiten
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Leverkusen – Es ist nur wenige Tage her, da äußerte Reiner Hilken – Leiter des Jugendzentrums Bunker in Manfort – eine große Sorge: Die nämlich, dass vielen Jugendlichen der Stadt durch die Zeit der Kontaktsperre und der Corona-Isolation das Leben entgleite. Er spielte damit vor allem auf jene Jugendlichen an, die daheim schon im normalen Alltag abseits von Corona mit Problemen zu kämpfen haben – weil sie vielleicht bei nur einem, nun besonders unter Druck stehenden Elternteil aufwachsen. Weil sie in einer Familie aufwachsen, die mit finanziellen Problemen zu kämpfen hat. Weil sie in einem Umfeld leben, in dem womöglich häusliche Gewalt an der Tagesordnung ist. „Nach außen hin“, hatte Hilken gesagt, „wirkt die Stadt ruhig. Aber unter den Dächern brodelt es.“
Wie reagieren nun jene Institutionen der Stadt, die diese Jugendlichen und deren Familien betreuen , auf diese Gefahr? Eine Gefahr, die mit zunehmender Dauer der Restriktionen zur Eindämmung der Infektionen wohl nicht kleiner werden wird.
Betreuung ins Netz verlegt
Hilken und sein Team des Bunkers beispielsweise verlegten die Betreuung ihrer Jugendlichen und Kinder kurzerhand ins Internet und versuchen derzeit durch Chats, Online-Aktionen und interaktive Überraschungen die Langeweile und drohende Eskalation zu vermeiden. Für Gründonnerstag ist eine Osteraktion geplant (siehe Kasten). Die städtischen Jugendhäuser Lindenhof, Rheindorf, Schöne Aussicht, das Haus der Jugend in Opladen und der Mädchentreff zogen bereits mit Quizrunden, Spielturnieren, Bastelpaketen, Fitnessvideos und gar einer Boxstunde mit Boxtrainer René Hennen für daheim nach.
Dennoch sagt Reiner Hilken: „Die Mails, die ich von unseren Jugendlichen bekomme und die Anlass zur Sorge geben, nehmen nicht ab.“ Mitunter habe er sogar schon Anfragen nach Schlafplätzen erhalten von Minderjährigen, die es zu Hause nicht mehr aushalten. „Wir schreien uns nur noch an“ oder „Ich will nur noch raus“ – derlei Sätze lese er regelmäßig.
Anregungen
Das Jugendzentrum Bunker bietet am kommenden Donnerstag, 9. April, um 14 Uhr eine Fragestunde mit Oberbürgermeister Uwe Richrath an. Am Telefon und im Livestream können junge Leverkusener den OB mit ihren Anliegen und Fragen konfrontieren. Diese können schon vorher per E-Mail (jzbunker@gmx.de) geschickt oder auf den Anrufbeantworter des Jugendzentrums (☎ 0214 / 4 19 06) gesprochen werden. Fragen per WhatsApp gehen an ☎ 0163 / 868 47 00. Die Fragerunde wird auf „Bunker TV“, dem You-Tube-Kanal des Jugendzentrums, live übertragen. Die Telefonleitungen sind am Donnerstag ab 13.55 Uhr freigeschaltet. Neben Uwe Richrath wird die Chefin des Leverkusener Jugendamtes, Angela Hillen, zugeschaltet sein.An einem Kreativ-Wettbewerb können sich zudem alle interessierten Kinder und Jugendlichen der Stadt zwischen sechs und 18 Jahren beteiligen. Das Thema lautet: „Was macht mir in der Freizeit Spaß?“. Dazu können sie Fotos machen, Bilder malen (und dann abfotografieren) oder einen Videoclip drehen und das Ergebnis bis zum 19. April an folgende Mail-Adressen schicken:ulrike.hector@stadt.leverkusen.desandra.loh@stadt-leverkusen.devolker.menge@stadt.leverkusen.deAls Preise winken Karten für das Phantasialand, Lieferando-Gutscheine, Kino- oder CaLEVornia-Gutscheine. (frw)
Angela Hillen, Leiterin des Jugendamtes, kann ihre Arbeit und die ihres Teams wiederum nicht ins Internet verlegen. Sie muss auch in der Krise die Stellung halten. Das, sagt sie, sei nicht leicht. Aber es sei unerlässlich. Man sei sensibilisiert. Man sei vorbereitet. „Wir fahren auf allen Ebenen Maßnahmen.“ So sei die Elternberatung des Jugendamtes auch weiterhin besetzt (montags bis donnerstags von jeweils 8.3 bis 15.30 Uhr, freitags von 8.30 bis 13.30 Uhr). Ebenso verhalte es sich mit der Erziehungsberatung, der Schulpsychologie, dem Sozialdienst und dem Kinderschutzbund. „Zudem stehen wir in enger Abstimmung mit den jeweiligen Familien.“ Sprich: Mit den Familien, in denen es zu Problemen kommen könnte. Es würden Videotelefonate geführt, um Kontakt zu halten. Auch die Teams der Schule und Kitas seien möglichst eng mit den entsprechenden Familien im Austausch. „Und notfalls fahren wir auch raus und suchen die Familien auf.“
Rausfahren ist unerlässlich
Dieses Rausfahren und Aufsuchen bringe viele Probleme mit sich. Pandemie-Probleme. Natürlich, denn: „Wenn es um solche Besuche bei Familien geht, dann drohen für unsere Mitarbeiter Konflikte. Dann ist das immer eine Abwägung zwischen dem Gesundheitsschutz auf der einen und dem Schutz von Kindern, Jugendlichen und deren Familien auf der anderen Seite.“ Letztlich aber gelte die Maxime: „Wenn es wirklich eng wird, dann fahren wir raus. Dann machen wir uns ein Bild von der Situation vor Ort. Das geht nicht anders.“ Dann wird zuvor Rücksprache mit dem Gesundheitsamt gehalten. Dann wird die Frage geklärt: „Können wir reingehen in die Wohnung – oder muss das vielleicht die Polizei oder Feuerwehr leisten?“
Auch benötigten die Jugendamtsmitarbeiter Schutzkleidung für solche Fälle. Schutzkleidung, die noch nicht im ausreichenden Maß zur Verfügung stehe. Das werde auf Landesebene derzeit entsprechend diskutiert. Abhilfe soll geschafft werden, sagt Angela Hillen. Hofft Angela Hillen. Und ergänzt ebenso überzeugt wie trotzig: Notfalls müsse es eben „ohne“ gehen. „Wir können kein Kind gefährden wegen fehlender Schutzkleidung.“
Derzeit ist die Lage noch ruhig. „Es gab unter anderem einen Fall einer Familie, die sich von sich aus bei uns meldete und verzweifelt um Hilfe bat.“ Aber dabei sei es vor allem um materielle Hilfe gegangen. „Sie haben einen Säugling und befanden sich deswegen in einer Krisensituation. Da mussten und wollten wir dann auch hin.“ Indes: Es müsse jedem bewusst sein, dass es nicht einfacher werde, je länger die derzeitige Situation andauere. „Dass es bislang nicht eskaliert ist, heißt nicht, dass es nicht noch eskalieren kann.“ Was auf gar keinen Fall passiere dürfe: „Es darf niemand aus unserem Team ausfallen. Dann würde es eng werden.“
Schulentscheidung nach den Ferien
Spätestens nach den Ferien müsse über eventuelle Öffnungsklauseln für Schulen und Kitas nachgedacht werden. „Es ist wichtig, dass vor allem die gefährdeten Kinder und Jugendlichen wieder eine Tagesstruktur bekommen, um die Familien zu entlasten.“ Das sei aber die Aufgabe der politischen Entscheidungsträger, sagt Angela Hillen. Abhilfe verschafft sicherlich die Zusage des Landes, dass ab sofort auch so genannte „gefährdete Kinder“ in die Notfallbetreuung von Schulen und Kitas dürfen. Bislang galt dieses Vorrecht nur für die Kinder von Eltern, die in den derzeit unverzichtbaren systemrelevanten Berufen arbeiten.
Wie auch immer: Wenn Angela Hillen auf ihre Kollegen zu sprechen kommt, dann redet sie sich mit unverhohlener Leidenschaft in Rage. „Natürlich gilt der Fokus gerade den Pflegekräften, Medizinern oder den Kassierern im Supermarkt.“ Und das sei auch richtig. Aber: „Auch die Menschen im sozialen Dienst sind systemrelevant. Sie machen inmitten einer kritischen Infrastruktur und verschärfter Bedingungen einen tollen Job!“ Sprich: „Auch sie haben eine besondere Würdigung verdient!“