Kreisgesundheitsdezernent Christian Nettersheim spricht über die aktuelle Corona-Lage im Rhein-Erft-Kreis, die Entwicklungen in den vergangenen Wochen und die Aussagekraft des Inzidenzwertes.
Der Inzidenzwert ist in den vergangenen Tagen angestiegen, wenngleich er derzeit stagniert. Der Rhein-Erft-Kreis gehört zu den Landkreisen mit den höchsten Werten im Land NRW. Worauf führen Sie das zurück?
Nettersheim: Die eine Erklärung gibt es leider nicht. Wir haben etwa 20 Prozent der Neuinfektionen, die durch Reiserückkehrer verursacht sind, und eine überdurchschnittliche Anzahl an Infektionen bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis 40 – also Menschen, die sozial sehr mobil sind. Erfreulich ist aber, dass die Zahlen in Erftstadt nach der Flutkatastrophe nicht nennenswert gestiegen sind.
Fürchten Sie, dass sich die Lage im Herbst weiter zuspitzt?
Ja, das ist angesichts des stockenden Impftempos und der Tatsache, dass Kinder unter zwölf Jahren mangels zugelassenen Impfstoffs ungeimpft sind, zu befürchten. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Ungeimpfte mit der auch bei uns vorherrschenden Delta-Variante infizieren, ist leider hoch. Im Herbst werden nach meiner Schätzung noch rund 30 Prozent der Bevölkerung ungeimpft sein – bewusst gewollt oder ungewollt wie Kinder unter zwölf Jahren.
Wie aussagekräftig ist der Inzidenzwert heute noch? Sollte man andere Werte, wie die Belegung der Krankenhäuser, bei Schutzmaßnahmen mit berücksichtigen?
Sicherlich ist der Inzidenzwert nicht der einzige Wert, auf den wir achten sollten. Hier braucht es einen klugen Mix aus verschiedenen Indikatoren wie Hospitalisierungsquote, Altersquoten (welche Bevölkerungsgruppe infiziert sich) und R-Wert (er beschreibt, wie viele Menschen ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt, d. Red.). Allerdings kann man von dem Inzidenzwert schon für viele Bereiche Rückschlüsse ziehen, zum Beispiel mit Blick auf die Belastung der Gesundheitsämter bei der Nachverfolgung von Kontakten und bei zu erwartenden Einweisungen in die Krankenhäuser, die ja immer zeitverzögert auftreten.
Was sind die drei wichtigsten Dinge, die die Bürger nun beachten sollten?
Sofern sie noch nicht geimpft sind, bitte impfen lassen. Nie war es einfacher und niederschwelliger, sich impfen zu lassen. Ansonsten gilt es weiterhin die grundlegenden Regeln Abstand, Hygiene und Maske einzuhalten – zumindest in geschlossenen Räumen wie beim Einkaufen und im ÖPNV.
Mit welchen Argumenten versuchen Sie, „Impfmuffel“ zu überzeugen, sich doch noch impfen zu lassen?
Die Auswirkungen einer Corona-Infektion sind größer als die Nebenwirkungen einer Impfung. Und mit einer Impfung schützt man sich, seine Familie und seine Freunde – es ist also ein Akt der Solidarität im Kleinen mit großer Wirkung.
Kann eine dritte Impfung die Pandemie eindämmen?
Dazu liegen bislang zu wenig Daten vor. Dass die meisten Menschen nach einer gewissen Zeit eine Auffrischungsimpfung benötigen werden, davon gehe ich aber aus. Die Pandemie wird erst eingedämmt sein, wenn wir einen nennenswerten Teil der Weltbevölkerung geimpft haben. Sonst besteht immer die Gefahr der Entstehung neuer Varianten, auf die möglicherweise unsere Impfstoffe nicht so gut ansprechen.
Müssen wir uns darauf einrichten, dauerhaft mit dem Coronavirus leben zu müssen?
Ich denke mittelfristig ja. Die Impfung gegen das Coronavirus könnte so normal werden wie die Grippeschutzimpfung im Herbst oder Winter.
Halten Sie die Impfung von Kindern ab zwölf Jahren und Jugendlichen für sinnvoll?
Die Stiko hat ihre Gründe für die bisherige Empfehlung. Mit Blick auf das anstehende Schuljahr wäre es sicher gut, wenn viele Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren einen Impfschutz hätten, denn ich befürchte eine Dauerschleife aus Präsenzunterricht und Distanzunterricht wegen Quarantänemaßnahmen. Aber am Ende ist das eine Entscheidung, welche die Sorgeberechtigten treffen müssen, deren Verunsicherung ich angesichts der Meinungsvielfalt zu dem Thema durchaus verstehen kann. Mein Sohn ist erst neun, da stellt sich die Frage leider nicht.