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„Würden das wieder so machen müssen“Prominenter Virologe spricht über den Corona-Lockdown

Lesezeit 6 Minuten
Ulf Dittmer, Leiter des Instituts für Virologie der Universitätsklinik, arbeitet in einem Labor an der sogenannten PCR-Maschine. Damit können Patientenabstriche, die sich in kleinen Glaskapillaren befinden, auf Viren untersucht werden. (zu dpa «Neue Corona-Studie: Antikörper können vermutlich für Immunität sorgen») +++ dpa-Bildfunk +++

Prof. Ulf Dittmer leitet das Institut für Virologie an der Universitätsklinik Essen.

Während der Pandemie hat die Rundschau mehrfach mit dem Essener Virologen Prof. Ulf Dittmer gesprochen – und ihn jetzt noch einmal befragt.

Vor fünf Jahren wurde in der Corona-Pandemie erstmals ein Lockdown verhängt. War das die richtige Maßnahme? Wurden insbesondere die Folgen für Kinder angemessen berücksichtigt? War dann später, seit 2021, der Umgang mit Ungeimpften fair?

Herr Dittmer, es ist jetzt fünf Jahre her, dass sich Bundeskanzlerin Angela Merkel an ihre Landsleute mit den Worten wandte: „Nehmen Sie es ernst.“ Wie erinnern Sie sich an den ersten Corona-Lockdown 2020?

Während viele Menschen zu Hause bleiben mussten, war ich als Virologe in dieser Zeit fast nie zu Hause. Ich habe die Situation also ganz anders erlebt als die meisten Mitmenschen. Aber natürlich, auch für uns Virologen war das eine Maßnahme, die wir so noch nie gesehen hatten.

Würden Sie sagen: Im Wiederholungsfall sollte man es wieder so machen?

Wenn wieder eine neuartige Virusinfektion im Umlauf wäre, vielleicht sogar mit mehr Todesfällen oder anderen Risikogruppen, würden wir das wieder so machen müssen. Und wenn Kinder betroffen wären, gäbe es auch Schulschließungen. Allein schon, weil viele Eltern ihre Kinder in so einem Fall gar nicht mehr zur Schule schicken würden.

Und wir sehen jetzt, welche schweren gesundheitlichen Folgen es für Kinder und Jugendliche hatte, dass sie nicht mehr zur Schule gehen und sich treffen durften.

Die Schulschließungen waren und sind allerdings besonders umstritten. Hat man da zu wenig an die Folgen für die Psyche der Kinder und die kindliche Entwicklung gedacht?

Da muss man zwischen dem ersten Lockdown und dem zweiten unterscheiden. Beim ersten Lockdown, also im März 2020, wussten wir nicht, wie stark Kinder von dieser Erkrankung betroffen sind. Es gibt ja durchaus respiratorische Infektionen, von denen Kinder sehr stark betroffen sind. Man denke an RSV. Hier stand die Sorge um die gesundheitliche Gefährdung im Vordergrund, und ja, die Spätfolgen von Schulschließungen kannten wir noch nicht vollständig. Anders sehe ich das bei den Schulschließungen seit Herbst 2020. Da wussten wir nämlich, dass Kinder selbst von der Infektion gesundheitlich nur unterdurchschnittlich betroffen sind. Auch wenn sie die Infektion natürlich weitertragen können. Und wir sehen jetzt, welche schweren gesundheitlichen Folgen es für Kinder und Jugendliche hatte, dass sie nicht mehr zur Schule gehen und sich treffen durften. Da hat die Abwägung nicht richtig funktioniert. Kinder und Jugendliche werden gesundheitlich belastet, um andere Risikogruppen zu schützen – ob das ethisch vertretbar war, darüber kann man streiten.

Ist das denn ordentlich kommuniziert worden? Hätte man beim ersten Lockdown nicht deutlicher sagen müssen: Leute, wir wissen es nicht genau, aber wir müssen vorsichtig sein? Und müsste man im Nachhinein nicht viel deutlicher über Fehleinschätzungen sprechen, zum Beispiel die von Ihnen genannten Folgen für Kinder?

Ich glaube, beim ersten Lockdown wurde schon angemessen kommuniziert. Wir kannten die dramatischen Berichte aus China, aus Bergamo, aus New York. Das Virus war sehr gefährlich, wir hatten aber noch keine vollständigen Kenntnisse darüber und mussten vorsichtig sein – das wurde kommuniziert. Beim zweiten Lockdown Ende 2020 hätte man differenzierter diskutieren müssen. Schulpolitik ist Ländersache, aber zumindest für unser Bundesland NRW muss ich sagen, hier ist es außerordentlich schlecht und chaotisch gelaufen. Vielleicht ist Deutschland da einfach durch den Föderalismus, die vielen Einzelentscheidungen in Schulangelegenheiten schlecht aufgestellt.

Und man kann auch nicht einfach sagen: So, jetzt haben wir für die nächste mögliche Pandemie das und das gelernt. Denn der nächste Erreger verhält sich vielleicht ganz anders.

Lässt sich im Rückblick abschätzen, wie effizient die einzelnen Maßnahmen waren?

Wir haben viele Daten, aber in der Tat: Die müssten besser aufbereitet werden. Dabei ist es allerdings schwer, die Wirkung einer einzelnen Maßnahme zu bewerten, denn es  liefen ja viele parallel. Und man kann auch nicht einfach sagen: So, jetzt haben wir für die nächste mögliche Pandemie das und das gelernt. Denn der nächste Erreger verhält sich vielleicht ganz anders.

2021 kamen dann Corona-Impfstoffe auf den Markt und mit ihnen die nächste Debatte: Darf man Geimpfte und Ungeimpfte unterschiedlich behandeln, zum Beispiel Impfzertifikate einfordern?

Im Laufe der Pandemie hat sich der Erreger verändert. Anfangs schützte die Impfung nicht nur den Empfänger selbst, sondern unterband auch wirksam eine Weiterübertragung. Deshalb war die Impfpflicht für medizinisches Personal absolut gerechtfertigt. Ich kenne einen Fall aus dem Bekanntenkreis, wo ein leukämiekranker Sohn von einen ungeimpften Arzt behandelt wurde – so etwas ging in der Pandemie gar nicht. Komplizierter wurde es, als die Alpha- und späte die Delta-Variante des Virus sich ausbreiteten. Da schützte der Impfstoff immer weniger vor Übertragung. Die damalige Debatte um eine allgemeine Impfpflicht kam daher viel zu spät. Anfangs haben wir an eine Herdenimmunität nach dem Schema geglaubt: Wenn 90 Prozent geimpft sind, bricht die Übertragungskette zusammen. So ist es aber bei Corona nicht. Wir haben erst im Laufe der Zeit gelernt, dass man Herdenimmunität auch anders verstehen kann: Durch die Impfung erkrankt kaum mehr jemand schwer an Covid-19. Hätten wir den Impfstoff nicht gehabt, dann wäre in der Delta-Welle unser Gesundheitssystem zusammengebrochen, denn diese Virusvariante war hoch pathogen. Auch junge Leute erkrankten schwer. Bei uns in der Klinik sind 17-Jährige, 20-Jährige, 25-Jährige daran gestorben. Deshalb war es zu diesem Zeitpunkt ok, zu sagen, da geimpfte Personen nicht mehr schwer erkranken, haben sie auch mehr Rechte als Ungeimpfte, die unser Gesundheitssystem zum Erliegen bringen können.

Wir haben eben schon über das Szenario einer neuen Pandemie gesprochen. Wie wahrscheinlich ist es?

Es gab gerade einen interessanten Film im Ersten: Spillover – Planet der Viren. Es geht um die Übertragung von Viren aus dem Tierreich auf Menschen. Wir verändern die Welt – Klimawandel, Verknappung der Ressourcen für viele Tierarten. Es gibt Hochrechnungen einer britischen Forschergruppe, nach denen die Wahrscheinlichkeit solcher Spillover-Ereignisse sich verhundertfachen könnte. Wir werden öfter Pandemien sehen als bisher.

Sind wir dann besser vorbereitet?

Ich hoffe, dass die Einlagerung von Schutzartikeln besser funktioniert als vor der Pandemie, denn die hat ja gezeigt: Wir brauchen als erstes den mechanischen Schutz, ob nun den Nasenschutz bei Atemwegserkrankungen oder Kondome bei sexuell übertragbaren Infektionen – denken Sie an Aids. Und: Wir haben jetzt Plattformen, auf denen wir bei wesentlich schneller Impfstoffe entwickeln können als zuvor. Aber dann brauchen wir auch den gesellschaftlichen Konsens, sie einzusetzen.

Sehen Sie denn dafür Chancen? Die Freiheitsbeschränkungen in der Corona-Pandemie sind doch noch gar nicht richtig verdaut.

Ich will kein Horrorszenario aufmachen. Aber wenn wir eine Pandemie erleben würden, in der jeder Zehnte an der Infektion stirbt, dann würden auch die größten Impfskeptiker zum Impfstoff greifen. Wenn nur 0,5 Prozent der Betroffenen sterben, wäre es anders. In diesem Fall sieht die Mehrheit das Leiden ja nicht, die Patienten sterben einsam auf der Intensivstation. Dann wird es schwieriger, so einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen.