Opfer von Missbrauch spricht„Im Grunde wusste das ganze Collegium Bescheid“
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Wegen rechtlicher Bedenken hat das Erzbistum Köln die für den 12. März geplante Veröffentlichung einer unabhängigen Untersuchung von Missbrauchsfällen vorerst abgesagt.
arl Haucke (69) wurde als Junge von einem Pater vergewaltigt. Mit ihm sprach Ingo Schmitz.
Zwar trug sich der an Ihnen verübte Missbrauch hinter den Mauern eines Ordens zu, der nicht dem Zugriff des Erzbistums unterliegt, dennoch muss der 12. März für Sie ein Tag gewesen sein, dem Sie mit hohen Erwartungen entgegensahen. Wie haben Sie die Absage empfunden?
Auch wenn ich nicht mit der Veröffentlichung von Namen von Tätern aus meiner Schulzeit rechnen konnte, wäre das ein bedeutender Tag für mich geworden. Denn ich habe viele Jahre erleben müssen, wie die Kirche mit Missbrauchsvorwürfen umgeht. Und so habe ich mich gefragt, werden sie denn dieses Mal wirklich Namen nennen und die Wahrheit sagen, oder uns wieder nur hinhalten? Als dann die Absage kam, war mein erster Gedanke tatsächlich: Wusste ich es doch. Das übliche Hinhalten, Vertrösten. Das eben, was wir Betroffene seit zehn Jahren erlebt haben, seitdem wir Aufklärung und Aufarbeitung fordern.
Die offizielle Begründung für die Absage lautet, ein kurzfristig erstelltes Gutachten habe aufgezeigt, die versprochene schonungslose Nennung der Namen derer, die sich schuldig gemacht haben, müsse rechtlich noch besser abgesichert werden. Schenken Sie dem Glauben?
Ich glaube schon, dass die angegebenen Gründe zutreffen. Und es ist auch besser, jetzt zu sagen: Stopp, wir sichern uns noch besser ab, als später sagen zu müssen, die Veröffentlichung ist unmöglich geworden.
Oder haben doch Schuldige innerhalb der Kirche kurz vor Veröffentlichung ihrer Namen mit juristischen Schritten gedroht?
Natürlich wird jeder, der keine weiße Weste hat, nicht wollen, dass sein Name öffentlich gemacht wird. Ich bin mir sicher, es wird auch nach der Veröffentlichung Relativierungen geben, wie es sie ja auch im Vorfeld schon gibt, wenn das Argument benutzt wird: Wir haben nach damaligem Stand gehandelt. Wer dieses Argument gebraucht, der übersieht, dass die Zehn Gebote niemals einem Zeitgeist unterlagen, dass sie damals schon so aktuell waren, wie sie es heute noch sind.
Sie haben also nicht die Sorge, dass es zu gar keiner Veröffentlichung mehr kommt? Immerhin nennt das Erzbistum bisher keinen neuen Termin.
Nein, die habe ich nicht. Kardinal Woelki mag als konservativer Theologe Reformen in der katholischen Kirche zurückhaltend gegenüber stehen, aber eins ist klar: Er nimmt es sehr ernst, dass seine geweihten Kollegen sich an die Regeln zu halten haben. Man kann sogar so weit gehen, es als heiligen Zorn zu bezeichnen, wie sehr Kardinal Woelki an der Aufklärung der Verbrechen und deren Vertuschung interessiert ist.
Über Jahre dem Peiniger hilflos ausgesetzt
Karl Haucke wurde 1951 in Duisburg geboren. Er wuchs mit vier Geschwistern in Odenthal auf. „Dort gab es eine Volksmission. Der Pater schwärmte von der Kanzel herunter von einer Jungengemeinschaft. Das hat mich fasziniert. Es gab den Wunsch meiner Mutter, einen Priester in der Familie zu haben. Und das sollte ich sein.“
So führte Karl Hauckes Weg nach Bonn zur Ordensschule der Redemptoristen, dem Collegium Josephinum. „Dort war ich insgesamt fünf Jahre und davon die letzten dreieinhalb Jahre dem pädophilen Gewalttäter ausgeliefert, der an der Schule Lehrer und Präfekt war.“ Es gelang dem Heranwachsenden nicht, zu entfliehen. „Man muss sich in die Zeit der frühen 60er Jahre hineinversetzen“, erklärt Haucke. „Alles, was mit dem Körper zu tun hatte, war tabu. Ich schämte mich dafür, was der Täter mit mir machte. Und ich hatte Angst. Er signalisierte mir: Ich bin sowieso stärker als du, du kannst erzählen, was du willst. Selbst zur Mutter schwieg er. „Erst auf ihrem Sterbebett hat sie gefragt: Was war da eigentlich damals. Da habe ich es ihr gesagt.“
Es war ein perfides System, dem Karl Haucke am Collegium Josephinum ausgesetzt war. „Jeden Tag physische Gewalt. Jeden Tag ein menschenverachtender Ton. Sein Peiniger vergewaltigte ihn „mindestens einmal wöchentlich“. Und nicht nur ihn. „Im Grunde wusste das ganze Collegium Bescheid. Aber soweit ich weiß, war der Leiter erpressbar, weil er ein Verhältnis mit der Küchenchefin hatte.“ Der Täter ging so weit, dass Karl Haucke die an ihm verübten Taten bei ihm beichten musste. „Als Buße hat er angekündigt, dass er die Nacht wieder an mein Bett kommen wird.“
Der Missbrauch hatte einschneidende Folgen für Karl Haucke. „Da war zu einem der Vertrauensverlust in die Kirche. Den Glauben als spirituelle Heimat habe ich vollständig verloren.“ Das reichte hinein bis in die Familie. „Ich hatte einfach kein Grundvertrauen mehr.“
Wie tief die seelischen Wunden gehen, verdeutlicht, dass Karl Haucke als Erwachsener einen Selbstmordversuch unternahm. Auslöser waren die vor rund zehn Jahren an die Öffentlichkeit gedrungenen Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg. „Meine Seele hat mich die Taten wohl zum Selbstschutz größtenteils vergessen lassen.“ Durch die Berichte aus dem Canisius-Kolleg brach die Erinnerung wieder über ihn ein.
Heute engagiert sich Karl Haucke bei verschiedenen Initiativen für Missbrauchsopfer und ist Mitglied des Betroffenenbeirates des Kölner Erzbistums.
Der 69-Jährige lebt in Köln, wo er als Dozent für Erziehungswissenschaften, Sozialwissenschaften und Qualitätsmanagement arbeitet. (ngo)
Sie sind Mitglied des Betroffenenbeirates, den das Erzbistum ins Leben gerufen hat. Haben Sie auch dort den Eindruck, dass es einen unbedingten Willen zur Aufklärung gibt?
Ja. In der Bistumsleitung weiß man sehr genau, dass Aufklärung Voraussetzung für die Prävention ist. Es gibt im Erzbistum einen Pool von Fachleuten zur Intervention, zur Prävention, zu Mitarbeitersensibilisierung. Hochkompetente Fachleute, hochmotiviert. Da hat es sich das Erzbistum nicht leicht gemacht bei der Personalauswahl.
Bleibt nicht doch der bittere Beigeschmack, dass die allergrößte Zahl der aufzudeckenden Fälle Jahre zurückliegen und damit verjährt sind?
Im Grunde wissen wir nicht, ob alles verjährt ist. Es gibt in der Kirche eine verbrecherische Routine zur Vertuschung der Straftaten. Ein System von Versetzungen und Verschweigen. Dieses System funktioniert teilweise immer noch. Noch vor wenigen Jahren wurden aus Italien Versetzungen geweihter Täter in nicht informierte Gemeinden Südamerikas gemeldet. Auch wenn im Erzbistum Köln umgedacht wird, kann man nicht sagen, die Kirche hat als Ganzes aus den publik gewordenen Fällen gelernt.
Die Deutsche Bischofskonferenz hat kürzlich einen Rahmen dafür entwickelt, wie eine Entschädigung der Opfer einheitlich gehandhabt werden kann. Ist das für Sie eine gute Lösung?
Damit bin ich nicht zufrieden. 2019 wurde in der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz ein Empfehlungspapier einer Expertenkommission mit Argumentationslinien, Modellen und Maßnahmen zur Entschädigung vorgestellt. Ich selbst war Mitglied dieser Kommission. Danach hat Bischof Ackermann erklärt, dass es in Zukunft um einen Ausgleich der lebenslangen Folgen der Verbrechen gehe und darum, dass die Kirche Verantwortung dafür übernimmt, diese Übergriffe weiterhin ermöglicht zu haben. Jetzt ist wieder von der Anerkennung des Leids die Rede. Das ist ein Rückschritt. Anerkennung ist einfach. Sie geht nicht mit Verantwortungsübernahme einher. Es lässt sich leicht sagen: Ich sehe, du hast gelitten. Vielleicht war es auf Seiten der Betroffenen kurzsichtig, in den zurückliegenden Jahren überwiegend mit der Kirchenleitung gesprochen zu haben. Ich kenne viele Betroffene, die nun das Gespräch mit den Gemeinden suchen, um das Missbrauchsthema auf einer breiteren Basis gesellschaftsrelevant zu machen.
Welche Resonanz erfahren Sie denn mit Ihrer Geschichte in der breiten Öffentlichkeit?
Das ist sehr unterschiedlich. In den Initiativen kriege ich selbstverständlich eine positive Resonanz. Ich stoße aber auch auf eine Menge Unverständnis: Was wollen Sie eigentlich? Aus Ihnen ist doch etwas geworden, Sie sind Hochschullehrer, haben immer gut verdient, höre ich da zuweilen. So etwas stößt mich natürlich sofort zurück in die Zeit, als ich als 13-Jähriger allein nachts im Toilettenraum an der Wand saß, weinte, weil ich mit niemanden sprechen konnte, weil es niemanden gab, der mir zuhörte; niemand, der mich verstand.