Anna Sorokin hat Hotels und Banken in den USA um hunderttausende Dollar betrogen. Ihre Geschichte wird zum Netflix-Hit.
In Eschweiler, wo sie ihre Jugend verbrachte, will man davon nichts wissen.
Eine Spurensuche
Eschweiler – Trotzig blicken die blauen Augen durch die Gläser der dicken, schwarzen Brille. Fast vorwurfsvoll. Als wollte das Mädchen sagen: „Was willst du von mir? Ich bin unschuldig.“ Bis vor ein paar Jahren hat Anna Sorokin (31) vor allem gesagt: „Ich bin eine millionenschwere Erbin aus Deutschland.“ Eine Lüge.
Genauso wie der Name, den sie sich gab, als sie aus Eschweiler bei Aachen in die USA zog. Dort begann das Leben der erfundenen „Anna Delvey“, die jahrelang die High Society in New York um Geldbeträge von insgesamt 275.000 Dollar betrügen sollte.
Sorokin, eine Meisterin der Täuschung, überzeugt Banken, ihr Geld zu leihen, um einen exklusiven Künstlerclub zu eröffnen. Sie wohnt in teuersten Luxus-Hotels, ohne dafür zu bezahlen. „Sie ist gut darin, Leute um den Finger zu wickeln“, sagte Annas Vater, Vadim Sorokin kürzlich in einem exklusiven Interview, dessen Rechte er an die Daily Mail verkauft hat.
Aus einem Vorort von Moskau nach Eschweiler gezogen
Er wohnt mittlerweile in Düren und hat dort eine eigene Firma, die Heizungen, Ventilatoren und Klimaanlagen verkauft. Eigentlich stammen die Sorokins aus Russland. Als Anna 16 war, zog die vierköpfige Familie aus Domodedovo, einem Vorort von Moskau, nach Eschweiler, wo heute rund 56.000 Menschen leben. Um Sohn und Tochter ein besseres Leben zu bieten, so heißt es.
Das nimmt vor allem Anna in Anspruch. Sie bekommt Privatunterricht in Englisch und Deutsch, nimmt Tanzstunden. Doch mehr als Bildung faszinierte Anna die Mode. Wie ihr Vater der Daily Mail erzählt, mussten die Eltern lange Strecken fahren, um der Tochter die gewünschte Designer-Kleidung zu kaufen.
Nicht immer habe sie so viel Wert auf ihr Äußeres gelegt, sagt ihr Vater. Sie sei ein unauffälliges Mädchen gewesen. „Sie hatte gute Freunde, verreiste mit ihnen. Anna war glücklich.“ Eine ganz andere Realität als Annas Leben in der Netflix-Serie „Inventing Anna“, die Sorokins Geschichte um einige erfundene Elemente ergänzt. Dort wird sie als Jugendliche kalt und unnahbar dargestellt. Hat Probleme, Freunde zu finden.
Das war im echten Leben anders, sagt Vadim Sorokin der Daily Mail und zeigt Fotos von Anna mit Freundinnen, mal in der Stadt in Eschweiler, mal auf einer Wiese beim Picknick. „Als sie älter wurde, wurde ihr Geschmack anspruchsvoller und sie hat sich immer mehr von ihnen distanziert, bis sie völlig den Kontakt zu ihnen verlor.“
In Eschweiler spricht man nicht über Anna Sorokin
Tatsächlich wollte Anna andere Wege gehen. 2011 zieht sie nach London, um dort an einer renommierten Kunstschule zu studieren. Dort fliegt sie aber nach kurzer Zeit raus und kehrt zurück nach Deutschland. Ein Jahr später arbeitet sie für eine PR-Agentur in Berlin, bevor sie nach Paris geht, um dort ein Praktikum beim Modemagazin „Purple“ zu machen. 400 Euro im Monat verdient sie dort. Die Eltern bezahlen ihre Wohnung, kaufen ihr ein Auto.
Die Netflix-Serie „Inventing Anna“
Die Geschichte der Anna Sorokin hat nicht nur tausende Menschen auf der Welt in ihren Bann gezogen, sondern wurde mittlerweile auch vom Streamingdienst Netflix in einer eigenen Serie erzählt. „Die ganze Geschichte ist komplett wahr“, heißt es im Trailer zur Serie „Inventing Anna“, „abgesehen von all den Teilen, die total erfunden sind“. Produziert wurde „Inventing Anna“ von Shonda Rhimes, die auch schon für Erfolgsserien wie „Grey's Anatomy“ und „Bridgerton“ verantwortlich war.
Als Hauptdarstellerin hatte sich Sorokin selbst zwar Hollywood-Star Jennifer Lawrence gewünscht, es wurde aber schließlich die zumindest bislang deutlich weniger berühmte Julia Garner. Anna Chlumsky spielt die Journalistin Jessica Pressler, die sich auf die Spur von Sorokins Geschichte macht. Sorokin selbst war auch an der Serie beteiligt. Als Beraterin wurde sie auch bezahlt. Mit dem Geld habe sie Schulden und Gerichtskosten abbezahlt, sagte sie in einem Interview der „New York Times“.
Eine weitere Doku-Serie ist bereits angekündigt und sie arbeite auch an einem Buch und einem Podcast, sagt Sorokin. Die Zeichnungen, die sie im Gefängnis gemacht haben soll, will sie nun ebenfalls als Kunst verkaufen. (dpa/ebu)
2013 geht sie nach New York und erfindet „Anna Delvey“, die Millionen-Erbin. Ihre Familie bleibt zurück. Was genau sie aus der Region um Aachen fortzog? Ihr Vater sagt: „Viele Leute in Eschweiler waren nicht wirklich modebewusst und hatten nicht denselben Sinn für Luxus wie Anna.“ Deswegen sei sie nach London, Berlin und Paris gegangen. „Sie hatte das Gefühl, die Stadt war nicht gut genug für sie.“
In Eschweiler hält man sich bedeckt, was Anna Sorokin betrifft. Kaum jemand will etwas darüber sagen. Die Bischöfliche Liebfrauenschule, das Gymnasium, wo Anna zur Schule ging, will sich zum Werdegang ihrer Schülerin nicht äußern. Auch Vadim Sorokin, Annas Vater, lässt die Anfrage dieser Zeitung unbeantwortet. Das Gespräch mit der Daily Mail ist bisher eines der wenigen Interviews, in denen sich Angehörige von Anna öffentlich äußern.
Auch die Stadt lässt Presseanfragen zu Anna Sorokins Vergangenheit unbeantwortet. Keine Rückmeldung gibt es von Sorokin selbst. Auf eine Nachfrage in einer Facebook-Gruppe für Eschweiler schreibt eine Nutzerin: „Ich kenne sie, Gott sei Dank, nicht. Schade, dass um eine Verbrecherin so ein Hype gemacht wird.“
Viele kennen die Geschichte nur aus dem Fernsehen
Es scheint, als sprechen die Menschen aus Eschweiler nicht gern über Anna und ihre Geschichte. Nicht einmal beim Friseur, wo sich das Plaudern geradezu anbietet. „Ich habe die Serie gesehen, aber sonst ist die Geschichte eigentlich kein Thema – auch nicht bei unseren Kunden“, sagt die Mitarbeiterin eines Friseurs in der Innenstadt. Eine andere erzählt: „Ich kenne die Geschichte auch nur aus dem Fernsehen, aber gesprochen wird im Ort darüber nicht. Gerade sind andere Themen wichtiger.“
Wer spricht also über Anna Sorokin? Bei einem Blick auf die Social Media Kanäle der Hochstaplerin zeigt sich: Vor allem sie selbst. Auf Twitter schreibt sie: „Mein Leben ist Performance-Kunst.“ Wie sehr sie diesem Anspruch gerecht werden will, zeigt nicht zuletzt ihr Verhalten vor Gericht. So wollte sie Medienberichten zufolge eine Verhandlung vor dem New Yorker Gericht verschieben lassen, weil ihr die vorgegebene Kleidung nicht gefallen habe.
Passend wirkt da ein Video, das Sorokin auf Twitter teilt. Darauf zu sehen, ist eine Filmszene aus Andy Warhols „Poor little rich girl“, wo Schauspielerin Edie Sedgwick in Unterwäsche vor einem Spiegel sitzt und sich weigert, das Haus zu verlassen. „Ich habe nichts anzuziehen“, sagt sie trotzig in die Kamera. Anna schreibt zu dem Video: „Jeden Morgen, bevor ich zu Gericht gehe.“
Am liebsten spricht Anna Sorokin über Anna Sorokin
Überhaupt scheint Sorokin eine Faszination für weibliche Filmfiguren und kriminelle Genies zu haben. Auf Instagram postet sie eine Szene aus dem Erotik-Thriller „Basic Instinct“ mit Sharon Stone und Michael Douglas. Auch eine Szene aus dem Film American Psycho 2 ist zu sehen, in der Mila Kunis die Serienmörderin Rachel Newman spielt. Annas Text dazu: „American Psycho 3 - ich bin bereit.“ Auskünfte über ihren Geisteszustand gibt Sorokin auf ihren Social Media Kanälen nicht. Sie schreibt jedoch bei Twitter: „Sagen Sie nie einem Soziopathen, dass er ein Soziopath ist.“ Für Fragen nach der Wahrheit ist Sorokin womöglich ohnehin die falsche Ansprechpartnerin.
Im März 2019 wurde sie von einem New Yorker Gericht zu vier bis 12 Jahren Haft verurteilt. Im Februar 2021 kam sie wegen guter Führung wieder frei, wurde aber im selben Jahr im Mai wegen eines abgelaufenen Visums erneut festgenommen. Seitdem sitzt sie wieder in Haft.
Mehrere Versuche sie nach Deutschland abzuschieben, sind bislang gescheitert. Bislang verhinderten ihre Anwälte die Ausreise. Sollte sie die USA verlassen, hätte sie dort lebenslanges Einreiseverbot, heißt es in Medienberichten. Eine Rückkehr nach Eschweiler scheint ohnehin unwahrscheinlich. In einem Interview sagte sie jetzt: „Lieber bleibe ich im Gefängnis, als bei meinen Eltern zu leben.“ Die Menschen in Eschweiler dürfte das wenig kümmern. Hier spricht man nicht über Anna Sorokin.