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Tag des vermissten KindesEndloses Warten auf ein Zeichen

Lesezeit 7 Minuten

Mutter Have Tahiri vor dem Schrank ihrer Tochter. Sie haben alles so gelassen, wie es war, auch wenn ihr wahrscheinlich die meisten Sachen nicht mehr gefallen oder passen würden.

Mechernich – Auf dem Dachboden steht ein Bett. Alleine. Seit mehr als einem Jahr. Sonst ist der Dachboden des rosafarbenen Hauses in der Weierstraße in Mechernich leer. Luljeta habe auf den Dachboden ziehen wollen, erzählt ihre Mutter Have Tahiri, das Bett habe man gemeinsam hochgetragen. In den folgenden Wochen habe Luljeta das Parkett und die Farbe für die Wände aussuchen wollen. Pink wäre es wohl nicht geworden, Luljeta sei kein pinkes Mädchen gewesen. Luljeta hätte ihr eigenes Reich gehabt, eine Etage über den drei kleinen Geschwistern. Seit über einem Jahr steht das Bett dort oben, geschlafen habe seit dem 26. April 2014 keiner mehr darin.

Der 26. April ist ein Freitag. Have Tahiri und ihr Mann Nijazi berichten, dass sie zu Hause gewesen seien: Sie habe in der Küche gearbeitet, er im Wohnzimmer gesessen, als es an der Tür klingelt habe. Have Tahiri sagt, dass eine türkische Familie davorgestanden habe: Vater, Mutter, drei Söhne. Der Älteste – er sei groß und habe dunkle Augen – habe mit Nijazi Tahiri sprechen wollen. „Mein Bruder ist mit ihrer Tochter zusammen“, habe er, so Luljetas Mutter, ihnen eröffnet: „Sie werden sich in den nächsten Wochen verloben.“

Luljeta war zu diesem Zeitpunkt 13 Jahre alt, sie besuchte die achte Klasse der Hauptschule in Mechernich. Ihr Freund sei damals 20 gewesen, das Paar habe sich über Facebook kennengelernt, berichtet die Mutter. Ihre Eltern sagen, sie hätten nichts von der Beziehung gewusst. Nijazi Tahiri habe die Familie hereingebeten – und gesagt, er könne seine Tochter doch nicht verloben: Sie sei erst 13 Jahre, noch ein Kind. Man habe auf dem dunklen Ledersofa im Wohnzimmer der Tahiris gesessen und diskutiert, mehrere Stunden lang. Nijazi

Tahiri sei bei seiner Meinung geblieben: Luljeta werde jetzt nicht verlobt und auch nicht in fünf Jahren. Als die türkische Familie gegangen sei, hätten sie sich, so die Tahiris, mit Luljeta gestritten. Das Mädchen habe sich daraufhin in ihr Zimmer eingeschlossen und geweint. Am nächsten Morgen sei Luljeta weg gewesen, zum ersten Mal verschwunden. Die Eltern berichten von der Suchaktion, die sie gestartet hätten: 20 Wagen seien in Mechernich und Umgebung unterwegs gewesen. Von einer ihrer Schwestern sei Luljeta in der Schule gesehen worden, sie habe nicht reagiert.

Fenster steht offen, Luljeta ist weg

Am folgenden Sonntagabend habe das Telefon bei Tahiris geklingelt: Die Polizei in Hürth habe gesagt, dass Luljeta sich gemeldet habe. Sei sei nass und durchgefroren gewesen, die Nacht habe sie draußen verbracht. Sie habe Angst und wolle nicht wieder zu ihren Eltern. Die Eltern berichten, dass sie zugestimmt hätten, dass ihre Tochter in ein Jugendheim gebracht wird. Ein Betreuer habe sich dann gemeldet und berichtet, dass es Luljeta schlecht gehe und sie sehr emotional sei. Man habe einen Termin verabredet: Am Freitag um 15 Uhr, fast genau eine Woche nachdem die türkische Familie bei den Tahiris geklingelt habe, hätte Luljeta mit ihren Eltern telefonieren sollen. Have und Nijazzi Tahiri sagen, dass sie sich die ganze Woche auf den Termin gefreut und sie sich die Wörter zurechtgelegt hätten.

Pünktlich um 15 Uhr habe das Telefon geklingelt: „Hallo, hier ist das Jugendamt. Ihre Tochter wird vermisst.“ Am Donnerstagsabend, 21.35 Uhr, sei sie zum letzten Mal gesehen worden. Als die Betreuer das nächste Mal nach ihr gesehen hätten, am Freitag um 11.40 Uhr, habe das Fenster offengestanden, Luljeta sei weg gewesen. Have und Nijazi Tahiri druckten einen Flyer. Er zeigt ein Bild von Luljeta, darunter steht: „Seit dem 1. Mai 2014, 22.00 Uhr, gilt die dreizehnjährige Luljeta vermisst. Bisherige Ermittlungen ergaben, dass sie sich vermutlich noch im Großraum Köln aufhält. Luljeta ist 170 cm groß, hat hellbraune glatte Haare. Sie trug am Tag ihres Verschwindens ein pinkes Sweatshirt und eine Bluejeans.“

Nun ist ein Jahr vergangen. Have Tahiri sitzt in ihrem Wohnzimmer, sie trägt schwarz. Es habe einige Hinweise gegeben, sagt sie. Doch keiner habe die Suche weitergebracht. Luljeta wird immer noch vermisst. Und Have Tahiri weiß nicht, ob sie je wiederkommen wird. Dabei habe sie früher auf die Minute gewusst, wann ihre Tochter nach Hause komme. Dann habe das Essen schon auf dem Tisch gestanden. Am liebsten habe Luljeta chinesisch gegessen. Have Tahiri sagt, dass sie schlecht schlafe. Wenn die Kinder zu Hause sind, rede sie nicht über Luljeta. Die Kleinste weine dann immer. Sie sei drei gewesen, als Luljeta verschwand. Nijazi Tahiri kommt kurz zum Gespräch dazu. Dann geht er wieder. „Es macht uns kaputt. Wir können das nicht mehr aushalten“, erklärt Have Tahiri. Jeden Tag denke sie an Luljeta, jede Minute. Sie hat keine Bilder in ihrem Wohnzimmer. Das Vermissen sei sowieso immer präsent. Doch in ihrem Schrank, links oben, da hat sie einen Umschlag. Ausgebeult, voll mit Bildern. Ganz viele Bilder von Luljeta als Baby, ganz wenige von Luljeta als Teenager, die meisten sind Selfies. Have Tahiri berichtet, dass sie versuche, den Umschlag nicht jeden Tag in die Hand zu nehmen. Meistens schaffe sie es nicht. Glücklich sei sie in den vergangenen Monaten nie gewesen. Nur die ganz schlimmen Tage, die würden weniger. Wenn man das sagen kann, bei einer Mutter, die nicht weiß, ob ihr Kind jemals wiederkommt.

Der damalige US-Präsident Ronald Reagan ernannte den 26. Mai im Jahr 1983 zum Tag der vermissten Kinder. Damit wollte er Etan Patz gedenken, der als Sechsjähriger am 26. Mai 1979 entführt wurde und nicht mehr auftauchte. Seit 2003 wird der Tag in Deutschland vom Weißen Ring gemeinsam mit der Elterninitiative vermisste Kinder ausgerichtet. Nach Angaben der Elterninitiative werden in Deutschland jährlich mehr als 100 000 Kinder und Jugendliche als vermisst gemeldet. Glücklicherweise tauchen die Kinder in mehr als 99 Prozent aller Fälle wohlbehalten wieder auf. Unter der Rufnummer 116000 gibt es eine europaweit einheitliche Hotline für vermisste Kinder, die rund um die Uhr und jeden Tag besetzt ist. Sie ist aus allen Netzen kostenlos zu erreichen. Dort erhalten Betroffene Beratung und Hilfe im Vermisstenfall. (mb)www.vermisste-kinder.de

In den ersten Monaten, so Have Tahiri, habe sie nicht gewusst, ob Luljeta noch lebt. Immer wieder sei sie aufgewacht, habe Luljeta tot in einem Graben vor Augen gehabt. Inzwischen sei sie sicher, dass Luljeta lebe. Und, dass sie bei der türkischen Familie sei. Sie sei freiwillig gegangen, aber Have Tahiri glaubt nicht, dass sie freiwillig geblieben sei. Das passe nicht zu der Luljeta, die sie im Kopf habe. Das liebe Mädchen, das sich um seine Geschwister gesorgt, die Hausaufgaben erledigt habe und pünktlich nach Hause gekommen sei. „Ich weiß, dass sie uns nicht ein Jahr ohne ein Zeichen lassen würde. Vielleicht ist sie auch schon in der Türkei“, sagt Have Tahiri. Luljeta wurde am 2. August 2000 im Mechernicher Krankenhaus geboren. Ihren 14. Geburtstag hat die Familie ohne sie begangen – niemandem sei nach Feiern zumute gewesen. Es ist zu befürchten, dass Luljeta auch an ihrem 15. Geburtstag nicht zu Hause sein wird. Kürzlich war ein Fernsehteam von Aktenzeichen XY bei den Tahiris. Die Sendung wird Anfang Juni im ZDF ausgestrahlt. Bis zu sechs Millionen Menschen schauen gewöhnlich zu. Have und Nijazi Tahiri hoffen, dass einer dabei ist, der den entscheidenden Hinweis gibt. Eigentlich ist es ihre letzte Hoffnung. Alle ihre Versuche seien gescheitert. Have Tahiri berichtet, dass sie einen Privatdetektiv beauftragt hätten und die Polizei das Haus der türkischen Familie durchsucht, aber nichts gefunden habe. Nach der Ausstrahlung, so Have Tahiri, werde sie wieder zu Hause vor dem Telefon warten. Bisher habe sie nur schlechte Nachrichten erhalten, wenn es geklingelt habe. Vielleicht sei ja jetzt eine gute Nachricht dabei.Im Dachgeschoss wartet Luljetas Bett, sie könnte sofort wieder einziehen. Die Tahiris hoffen, dass der Tag kommt, an dem sich Luljeta das passende Parkett für ihr Zimmer aussucht.