Im Internat „Albertinum“ wurde Marzellus Boos aus Marmagen täglich mit Gewalt und Missbrauch konfrontiert.
Erschütterndes BuchMarmagener schreibt über Gewalt und Missbrauch im Albertinum
Das Buch ist eine erschütternde Lektüre. Auf 186 Seiten arbeitet Marzellus Boos aus Marmagen in „Tatort Albertinum“ auf, was ihm im Internat Albertinum in Gerolstein widerfahren ist. Es lässt den Leser fassungslos zurück. Neun Jahre lang erlebte er die Auswirkungen der „Schwarzen Pädagogik“ der 1950er- und 1960er-Jahre, als Gewalt und Unterdrückung als Element zur Entwicklung einer gesunden Seele angesehen wurden.
Zwei Aufseher für rund 90 Jungen im Alter von 9 bis 19 Jahren, das war der Betreuungsschlüssel im Albertinum, einem ehemaligen Hotel, 1947 zum Internat umfunktioniert. Von den Schülern wurde die Einrichtung nur „der Knast“ genannt. 1964 zog Boos mit seinem ein Jahr älteren Bruder dort ein, als seine Mutter schwer erkrankte. Der Vater, kriegstraumatisiert und nach dem Verlust eines Beines behindert, sah sich mit der Erziehung von vier Kindern überfordert und folgte dem Rat der Hausärztin, die beiden Söhne in Gerolstein anzumelden, während die Töchter zu Hause blieben.
Ein stupider Tagesablauf, strenge Kontrolle und drakonische Strafen für Nichtigkeiten, das sei der Alltag gewesen, berichtet Boos. Dem Unterricht am St.-Matthias-Gymnasium folgten stundenlange Silentien, in denen die Hausaufgaben gemacht werden sollten. Wer sich nicht fügte, wurde bestraft: 20 Schläge ins Gesicht, Kopfnüsse, Haare ziehen, Hiebe mit dem Stock, der Rute oder dem Zeitungsspanner. Wer mit dem Bettnachbarn abends noch tuschelte, konnte mit stundenlangem Stehen barfuß auf dem eiskalten Flur bestraft werden.
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War Oberpräfekt ein Kriegsverbrecher mit falschem Lebenslauf?
Verantwortlich waren die Priester, die als Direktoren dort waren, erst Georg Jutz, dann sein Nachfolger Erwin Puhl sowie Oberpräfekt Johannes Arendt, genannt Plato. Dieser gibt Boos Rätsel auf: In der Verwaltung im Bistum Trier gebe es keine Personalakte, obwohl er 30 Jahre im Albertinum war.
Auch wurden Anzeigen wegen sexuellen Missbrauchs gestellt, da er sich samstagsnachmittags gern mit seinen „Lieblingen“ in seine Wohnung zurückzog. Erst im Landesarchiv Koblenz fand Boos den Lebenslauf, der aber etliche Unstimmigkeiten aufweist. Boos sagt, dass sich sein Verdacht konkretisiere, dass es sich offenbar um einen Offizier handele, der im Zweiten Weltkrieg in Albanien Kriegsverbrechen begangen und danach eine falsche Vita verwendet habe.
Der Trierer Bischof hat sich bei den Missbrauchs-Opfern entschuldigt
Ganz offensichtlich seien die Priester, die als Direktoren fungierten, mit ihrer Aufgabe völlig überfordert gewesen, so Boos. Immer wieder hätten sie bei der Bistumsverwaltung um die Zuweisung von weiterem Personal oder ihre Versetzung gebeten – ohne Erfolg. 1983 wurde das Haus geschlossen. Seitdem steht es leer und verfällt zusehends.
Besonders empört Boos der Umgang von Kirche und Gesellschaft mit dem an ihm begangenen Unrecht. Eine 2022 veröffentliche Studie habe die Vorwürfe zweifelsfrei bestätigt. Auch seien die Taten der Priester vom Bistum Trier anerkannt. Trotz Verjährung sei freiwillig eine Entschädigung bezahlt worden. Ein zweistündiges Gespräch habe es gegeben, in dem der Bischof um Entschuldigung gebeten habe. „Die Entschuldigung hat mehr gutgetan als das Geld“, so Boos. Doch die verlorene Jugend gebe es ihm nicht zurück. Wenn andere über ihre Jugenderinnerungen sprechen, komme er sich mitunter wie ein Kaspar Hauser vor.
Marzellus Boos will auf die Lage vieler Heimkinder hinweisen
Bis zu 800.000 Kinder seien in den 1950er- und 1960er-Jahren in Heimen untergebracht gewesen, schreibt Boos. Vielen machten die erlittenen Drangsalierungen und Misshandlungen das Leben bis heute schwer. Dagegen stehe heute der sexuelle Missbrauch durch Priester im Fokus des öffentlichen Interesses.
Doch die in staatlichen und kirchlichen Heimen erlittene Gewalt sei nur sehr kurz diskutiert, aber nicht gründlich aufgearbeitet worden sei, kritisiert er. Nach einer kurzen Episode öffentlicher Aufmerksamkeit werde sie mehr oder weniger als Randthema behandelt.
Als Lehrer und Pflegevater wollte der Marmagener alles besser machen
Das Buch ist keine systematische oder chronologische Aufarbeitung der Geschehnisse. „Ich habe es mir von der Seele geschrieben“, sagte Boos. Eigentlich besteht es aus zwei Teilen, aus der Darstellung der damaligen Ereignisse und dem Umgang mit den seelischen Folgen aus der heutigen Sicht eines Betroffenen. Manches wiederholt sich im Text, doch umso eindrücklicher wird die Fassungslosigkeit des Opfers, wenn es immer wieder über das Desinteresse der kirchlichen Institutionen an dem Schicksal der ihnen anvertrauten Kinder schreibt.
Erschütterung und Verbitterung sind zu spüren. Fast vermisst man, um die Lektüre erträglicher zu machen, die versöhnlichen Sätze, die Marzellus Boos im Gespräch über seine eigene Tätigkeit als Lehrer sagt: „Ich hatte immer den Anspruch, es besser zu machen.“ Er habe Pflegekinder gehabt und immer das Bedürfnis zu zeigen, dass es auch anders gehe. „Mit Freundlichkeit kann man mehr erreichen als mit Gewalt“, so Boos.
„Tatort Albertinum – Eine katholische Jugend“ hat 186 Seiten, ist unter ISBN 978-3-9818643-2-8 im Mellonia Verlag erschienen und zum Preis von 17,60 Euro als Taschenbuch und 21,01 Euro als gebundenes Buch erhältlich.
In der SWR-Landesschau Rheinland-Pfalz wird Marzellus Boos am Montag, 21. August, über das Buch sprechen. Ausgestrahlt wird die Sendung ab 18 Uhr.