Am 11. Mai 1996 kehrt die damals elfjährige Claudia Ruf nicht von einem Spaziergang mit dem Nachbarshund zurück.
Zwei Tage später wird die Leiche des Mädchens rund 70 Kilometer von ihrem Elternhaus auf einem Feldweg entdeckt.
Seitdem ist viel passiert, doch der Fall ist nach wie vor ungelöst.
Die Ermittlungen dauern an.
Hemmerden/Oberwichterich – Es ist ein Samstag. Ein Tag vor Muttertag. Am 11. Mai 1996 kehrt Claudia Ruf vom Gassigehen mit dem Nachbarshund „DJ“ nicht nach Hause zurück. Zwei Tage später wird sie auf einem Feldweg bei Oberwichterich vergewaltigt und ermordet aufgefunden. Ihr Name hat sich den Ermittlern förmlich eingebrannt. Selbst denjenigen, die vor 26 Jahren noch nicht im Dienst gewesen sind. Claudia Ruf, das Mädchen aus Hemmerden bei Grevenbroich. Der Mord an der Elfjährigen steht für Kriminalfälle, die zwar auch nach Jahrzehnten nicht aufgeklärt sind, in denen Polizisten dennoch nicht locker lassen.
Der Täter ist bis heute nicht gefasst. Er hat den Leichnam des Mädchens mit einer brennbaren Flüssigkeit übergossen und angezündet. Das Gesicht der elf Jahre alten Realschülerin war nach Augenzeugenberichten kaum noch zu erkennen. Der Notarzt erlitt einen Schock. Als Todesursache stellt ein Bonner Gerichtsmediziner „schwere Gewalteinwirkungen im Halsbereich“ fest.
„Überzeugt, dass wir den Täter ermitteln können“
Früh ist den Ermittlern klar: Der Fundort ist nicht der Tatort. Claudia Ruf, die am Feldweg auf dem Bauch gelegen hat, ist den Experten zufolge auf dem Rücken liegend hierher transportiert worden. Die Polizei verschweigt bis heute, ob Claudia erdrosselt oder erwürgt worden ist. Ein mögliches Tatwerkzeug könnte die Hundeleine sein, die seit dem Verschwinden von Claudia Ruf nicht mehr aufzufinden ist. 1996 erklärte der damalige Ermittlungschef Rolf Müller die Taktik so: „Ob Claudia erwürgt oder erdrosselt worden ist, weiß außer uns nur der Täter. Und wenn wir ihn kriegen, wollen wir es von ihm hören.“
150 Aktenordner mit mehr als 100.000 Seiten haben sich zu dem Fall in den vergangenen 26 Jahren angesammelt. Es gibt keinen Ermittlungsansatz, der nicht verfolgt worden ist. Wann immer man mit den Ermittlern spricht, wird schnell deutlich, dass Claudia Ruf kein gewöhnlicher Fall ist und auch nach mehr als einem Vierteljahrhundert aus dem Akten- und Fallwust heraussticht. Mehr als 1100 Morde führt die Polizei in ihrer Statistik für 1996 in Deutschland. In 58 Fällen waren Mädchen, in 29 Jungen unter 14 Jahren das Opfer.
„Ich kann mich sehr genau daran erinnern, dass Andreas Müller der Tatortbeamte war. Er hat sich damals zu Hause gerade ein Brot geschmiert. Dann erhielt er den Anruf und hat sich gleich auf den Weg nach Oberwichterich gemacht“, sagt Robert Scholten, der damals im KK11, dem Bonner Kriminalkommissariat, das sich um Tötungsdelikte kümmert, arbeitete und heute als Pressesprecher bei der Bonner Polizei tätig ist. Trotz aller Professionalität: Dieser Fall, so Scholtens Einschätzung, hat den Tatortbeamten Müller schwerer getroffen als andere Einsätze.
Müller ist heute Chef der „Operativen Fallanalyse“ beim LKA. Er ist ein nüchterner Analyst, geduldig, gewissenhaft, unprätentiös. Müller sieht sich und sein neunköpfiges Team als Berater. „Man braucht einen gewissen Abstand, um diese Arbeit zu machen“, sagt er. Dass er damals in der Mordkommission der Polizei Bonn gearbeitet hat, der es nicht gelungen ist, den Mörder und Vergewaltiger von Claudia Ruf zu ermitteln, tut heute für ihn nach eigener Aussage nichts mehr zur Sache. Viel wichtiger sei: Dank besserer technischer Möglichkeiten, vor allem bei der DNA-Analyse, haben die Experten die Suche nach dem Mörder nicht eingestellt. „Wir werden nicht aufgeben. Ich bin davon überzeugt, dass wir den Täter ermitteln können“, sagt auch Scholten.
Hund kommt verstört zurück
Begonnen haben die Ermittlungen mit der Suche nach Claudia Ruf am 11. Mai 1996. Die Faktenlage ist bis heute dünn. Die Elfjährige ist von einem Spaziergang mit dem Hund eines Nachbarn gegen 18 Uhr nicht zurückgekehrt. Der Hund hat gegen 18.50 Uhr alleine nach Hause gefunden. Hat verstört gewirkt, als sei er schlecht behandelt worden, berichten die Ermittler. Mehr als 100 Polizisten haben sich dann auf den umliegenden Feldern und in den Wäldern rund um Hemmerden auf die Suche nach dem Mädchen gemacht.
Claudias Eltern, Nachbarn und viele Bewohner Hemmerdens haben sich an der Aktion beteiligt, die bis tief in die Nacht gedauert hat. Als am frühen nächsten Morgen noch immer jede Spur von Claudia gefehlt hat, ist eine Hundertschaft der Polizei hinzugezogen worden. Doch Claudia bleibt verschwunden. Zwei Tage später wird ihre Leiche auf einem Feld bei Oberwichterich von einem Spaziergänger, einem 43 Jahre alten Dorfbewohner, entdeckt – etwa 70 Kilometer vom Ort des Verschwindens entfernt.
Im Mai und Juni 1996 läuft die Suche nach dem Täter auf Hochtouren. Zahlreiche Hinweise gehen ein. Als „heiße Spur“ werten die Ermittler zunächst Reifenabdrücke, die sie auf dem Feldweg gesichert haben. Doch auch diese Fährte entpuppt sich als Sackgasse. Da die Elfjährige nackt vom Mörder abgelegt worden ist und von der Kleidung jede Spur fehlt, setzen die Beamten auch diese bei ihren Ermittlungen ein. Sie kaufen die gleichen Kleidungsstücke, die das Mädchen getragen hat, und ziehen sie einer Schaufensterpuppe an: eine dunkelblaue Kapuzenjacke mit Streifen, schwarze Jeans, karierte Leinensportschuhe. Am Kopf der Puppe wird ein Foto von Claudias Gesicht befestigt.
Die Bilder werden in den Zeitungen veröffentlicht, Plakate hängen vor öffentlichen Gebäuden, in Bussen und Bahnen. Polizisten gehen von Haus zu Haus und verteilen die Flugblätter. Schnell wird eine Verbindung zu einem versuchten Entführungsfall in Gemünd geknüpft. Ein Mädchen wird auf dem Weg zur Schule von einem Mann angesprochen und versucht ins Auto zu zerren. Sie wehrt sich, kann sich befreien und weglaufen. Wenige Wochen steht für die Ermittler fest: die Fälle haben nichts miteinander zu tun.
Die Polizei beschreitet neue Wege. Zum ersten Mal wird das Internet genutzt, um an Hinweise zu kommen. Im Juli 1997 wird der Fall in der ZDF-Fernsehsendung „Aktenzeichen xy… ungelöst“ vorgestellt. Aber auch diese Spuren enden in einer Sackgasse. Die Polizisten kommen nicht weiter, der Fall erkaltet zu einem sogenannten „Cold Case“, der zunächst keine Ermittlungsansätze mehr bietet.
Natürlich habe man, so Scholten, weiterhin Anhaltspunkte. Dass Claudia sich vielleicht an einem bestimmten Ort aufgehalten habe – etwa am Kinderspielplatz. Oder am Kiosk. „Wir haben bisher keine Zeugenangaben, wie sich die Entführung abgespielt hat“, sagt Scholten: „Und das ist genau das Feld, das wir gerne aufhellen wollen.“ Was die Ermittler in diesem Zusammenhang am meisten interessiert: Wie verhielt sich der Täter nach der Tat? Hat sich jemand auffallend verhalten? Gibt es jemanden, der zum Beispiel nicht zu einem vereinbarten Treffen oder einer Veranstaltung erschienen ist? „Wir können natürlich nicht ausschließen, dass sich die Tat tatsächlich in Hemmerden selbst abgespielt hat“, so Scholten: „Oder, dass der Leichnam oder das Kind später abtransportiert wurde. Wir haben natürlich gewisse Plausibilitäten, die wir nicht öffentlich machen. Auch aus dem rechtsmedizinischen Bereich. Wir haben also schon eine Vorstellung von dem, was wir untersuchen können. Im Detail können wir das nicht kommunizieren.“
Die Ermittlungen laufen weiter. Es gibt auch Festnahmen. Unter anderem befragten die Ermittler einen zweifachen Kindermörder aus dem Raum Cloppenburg. Er ist der zweite Straftäter, der in Deutschland mit einem DNA-Massentest überführt wurde. Für den Mord an der elfjährigen Claudia Ruf kommt er nach Angaben der Beamten aber nicht infrage. „In solchen Fällen stehen für uns aber dann Vernehmungen an. Natürlich setzen wir uns mit der Fragestellung auseinander, ob da wirklich ein Mehrfachtäter durchs Land fährt und Kinder tötet“, so Scholten.
Über die Jahre versuchen die Beamten immer wieder, die Spurenlage zu verbessern. Dies gelingt 2008, als die Experten erstmals tatrelevante DNA am Körper von Claudia Ruf sichern und auswerten können. Erneut keimt Hoffnung auf, den Täter zu überführen. Der erste Massen-Gentest im Fall Claudia Ruf läuft an. 350 Menschen, deren Namen bis dahin in den Akten zu dem Fall aufgetaucht sind, werden 2010 zur Speichelprobe gebeten. Jedoch: Es gibt keinen Treffer. Acht Jahre später werden mittels eines DNA-Reihenuntersuchungsbeschlusses erneut alle Personen, die zum Tatzeitpunkt im Großraum Euskirchen und Grevenbroich gewohnt haben und die als Sexualstraftäter in Erscheinung getreten sind, überprüft. 120 Personen geben eine Speichelprobe ab. Doch auch diese Untersuchung verläuft negativ.
„Bitte helfen Sie der Polizei. Bitte helfen Sie mir“, sagt Claudias Vater, Friedhelm Ruf, 2019 in einem Video, das im Vorfeld eines weiteren Massen-Gentests aufgenommen worden ist. Zu diesem Zeitpunkt macht sich die Polizei aus zwei Gründen Hoffnung, dem Täter endlich auf die Spur zu kommen. Man wisse jetzt, warum die Leiche in Euskirchen abgelegt wurde, könne dies aber aus ermittlungstaktischen Gründen noch nicht verraten, sagt Reinhold Jordan, Leiter der Bonner Mordkommission. Die Ermittler wollen zudem eine Gesetzesänderung nutzen: Es reicht nun aus, wenn ein Verwandter des Täters eine Speichelprobe abgibt. Seit 2017 dürfen die DNA-Analyselabore auch bei Beinahe-Treffern Alarm schlagen. Im Winter 2019 gehen 2400 Speichelproben von Männern, die damals zwischen 14 und 70 Jahre alt und in Hemmerden gemeldet waren, ans Landeskriminalamt. „Er muss sich endlich erklären. Er hat sich lange genug hinter uns allen verstecken können“, sagt Claudia Rufs Vater in dem Video. Er habe sein Haus in Hemmerden gebaut, weil er gedacht habe, dass seine Kinder dort behütet aufwachsen können. „Das war leider nicht so“, sagt Friedhelm Ruf mit zittriger Stimme.
Zwar sind heute alle 2400 Speichelproben aus dem Jahr 2019 abgearbeitet, der Massentest ist erneut ohne Treffer geblieben. Dennoch geht die Polizei verschiedenen Hinweisen und Spuren weiter nach. Aktuell gebe es noch „200 Sachen“, wie es Scholten ausdrückt – an die man aber „keinen richtigen Pack an“ bekomme. Auch gebe es noch zehn Rechtshilfeersuchen – unter anderem in Portugal, den USA und Großbritannien.
In einem Fall habe man jüngst grünes Licht für ein solches Rechtshilfeersuchen erhalten – um dann feststellen zu müssen, dass der Mann zwischenzeitlich verstorben sei. Nun wird geprüft, ob von den Familienmitgliedern des Verstorbenen eine DNA-Probe beantragt werden kann. Die Ermittlungen sind mittlerweile mühseliger geworden, die Aktenordner füllen sich langsamer. Aber sie füllen sich weiter, auch, weil der Wunsch, den Täter zu überführen, all diejenigen nicht mehr loslässt, die sich in den vergangenen 26 Jahren mit dem Fall beschäftigt haben. Claudia Ruf – der Name hat sich in ihren Köpfen eingebrannt.