Bonn – Sommer 1936 in Deutschland. Berlin fiebert den Olympischen Spielen entgegen, die am 1. August beginnen, als in der Provinzstadt Bonn der Landwirtschaftsvolontär Hans Eduard Giese eine ganz schlechte Idee hat: Er plant, ein Kind zu entführen und die Eltern um Lösegeld zu erpressen.
Giese, geboren am 25. Juli 1904 in Bottrop, hatte kurz zuvor wegen Falschmünzerei eine zweijährige Zuchthausstrafe abgesessen. Er war also nicht das, was die nationalsozialistischen Machthaber einen ehrbaren „Volksgenossen“ genannt hätten: Er hatte eine Zeit lang als Gehilfe bei Bauern gearbeitet, war aber bereits mit 18 auf die schiefe Bahn geraten. In seiner Akte standen mehrere Vorstrafen, unter anderem wegen Diebstahls, Unterschlagung und wegen versuchter Kindesentführung. Giese hätte also gewarnt sein müssen. Doch der 32-Jährige brauchte Geld.
Als Opfer ausgewählt hatte Giese sich den zwölfjährigen Sohn eines Kaufmanns, der an der Remigiusstraße ein Hutgeschäft führte.
Hilfsarbeiter schrieb einen Erpresserbrief an die Eltern des Kindes
Am 16. Juni lief in den „Bonner Lichtspielen“ lief der Film „Pygmalion“ mit Jenny Jugo und Gustav Gründgens in den Hauptrollen, und der letzte Stabstrompeter der Bonner Husaren, Obermusikmeister Bielefeld, wurde 75 Jahre alt. An diesem Tag setzte Giese seine Idee in die Tat um. Er lauerte am Morgen dieses mit 30 Grad heißen Tages dem Jungen auf und beobachtete, wie er mit der Siebengebirgsbahn zur Schule nach Oberkassel fuhr.
Danach schrieb der Hilfsarbeiter den Erpresserbrief an die Eltern, in dem er sich als Mitglied einer Verbrecherbande ausgab, die Entführung mitteilte und ein Lösegeld von 1800 Reichsmark sowie ein Fluchtauto verlangte. Das Geld sollte am Abend im Hutladen bereitgehalten werden.
Seine Drohung, dem Kind etwas anzutun, verdeutlichte der Täter mit wohl gesetzten Worten: „Die Zeit zum Geldabholen ist genau bemessen. Ihr Sohn ist in einer Badewanne gefesselt. Bevor wir zur Geldübernahme schreiten, wird warmes Wasser laufen gelassen. Geht nun alles programmäßig vor sich, nimmt Ihr Sohn nur ein Bad; im anderen Fall töten Sie ihn indirekt selber.“
Entführung in Bonn: Giese passt 12-Jährigen am Bahnhof ab
Teil 2 des Plans: Hans Eduard Giese steckte den Brief in seine Jacke, rief in der Schule des Jungen an und log der Sekretärin vor, der Vater habe einen Autounfall gehabt, der Sohn solle sofort mit einem bestimmten Zug der Siebengebirgsbahn nach Hause fahren.
Giese passte den aufgeregten Zwölfjährigen am Bahnhof ab und beruhigte ihn, sein Vater sei zum Glück nicht schwer verletzt worden und liege in einer Villa auf dem Venusberg, dort wolle man nun hin.
Entführer fesselte Kind im Wald
Unterwegs überredete der Entführer das Kind, mit ihm in den Wald zu gehen, wo er ihn plötzlich an einem Baum festband, auf Bitten des Opfers aber so, dass es stehen und die Hände bewegen konnte. „Dein Vater kann dich gegen ein Lösegeld frei bekommen“, sagte Giese dem Kind. Eine Flucht sei zwecklos, da bewaffnete Mitglieder seiner Bande in der Nähe seien. Dann verklebte er dem Schüler mit Heftpflaster und Isolierband den Mund und kehrte in die Stadt zurück.
Dort sprach er auf der Straße zwei Sechsjährige an, die für 30 Pfennig den Erpresserbrief zur Wohnung der Eltern in die Kronprinzenstraße brachten. Die herzkranke Mutter erlitt einen Schock, der Vater alarmierte sofort die Polizei.
Inzwischen hatte der Entführer Apfelsaft, Apfelsinen, Schokolade und Zeitschriften gekauft, die er dem Kaufmannssohn in das Versteck auf dem Venusberg brachte. Dort gab er ihm auch ein Messer, damit er den Mundverband lösen und die Apfelsine schälen konnte.
Entführer führte die Beamten auf den Bonner Venusberg
Am späten Nachmittag war Giese wieder in der Stadt. In der Wenzelgasse überredete er einen Burschen, der gerade auf ein Fahrrad aufpasste, für ihn das Lösegeld in dem Hutgeschäft abzuholen. Dort aber standen Polizisten bereit, die alles beobachteten und sich sofort den ahnungslosen Boten schnappten. Der Entführer flüchtete, wurde von einem Kriminalbeamten verfolgt, der ein paarmal in die Luft schoss und den Täter dann mit einem zu Hilfe eilenden Zivilisten stellen konnte. Giese bekam bei der Festnahme einen ordentlichen Schlag auf den Kopf.
Anschließend führte er die Beamten – „widerwillig“, wie es hieß – auf den Venusberg zu dem Entführten, der außer ein paar Hautabschürfungen und zahlreichen Mückenstichen wohlauf war. Hans Eduard Giese legte am gleichen Abend im Verhör ein volles Geständnis ab. Einen Tag später, am 17. Juni 1936, berichtete der „General-Anzeiger“ in der Rubrik „Kleiner Bonner Stadtspiegel“ über den Fall. Der Schreiber drohte in der Meldung, den „von auswärts“ nach Bonn gekommenen Täter werde „die ganze Härte des Gesetzes treffen“, um ihn „für immer aus der Volksgemeinschaft auszustoßen“. So geschah es.
Der Rechtsbruch
Schon zwei Wochen nach der Verhaftung wurde dem Angeklagten unter den Kronleuchtern im Schwurgerichtssaal 112 des Bonner Landgerichts der Prozess gemacht. Normalerweise wäre die Kindesentziehung, auch wegen der glimpflich verlaufenden Tat, nach Paragraf 235 des Strafgesetzbuchs mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren geahndet worden.Doch die Reichsregierung in Berlin hatte von dem Fall erfahren und änderte kurzerhand die Rechtslage, um „an den Stammtischen zu punkten“, wie der Historiker Oliver Hilmes in seinem Buch „Berlin 1936“ schreibt.
Am 22. Juni, sechs Tage nach der Verhaftung Gieses und acht Tage vor der Hauptverhandlung, wurde der Paragraf 239a ins Strafgesetzbuch aufgenommen und rückwirkend zum 1. Juni in Kraft gesetzt: Auf Kindesentführung stand nun die Todesstrafe.
Rüdiger Pamp, früher Richter am Landgericht Bonn und jetzt Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe, hat sich mit dem Fall („Lex Giese“) ausführlich befasst und sagt, das von den Nazis erlassene „Gesetz gegen den erpresserischen Kindesraub“ habe „in offenem Konflikt mit dem Rückwirkungsverbot als fundamentalem Grundprinzip des Strafrechts“ gestanden.
Danach müsse „die Strafbarkeit einer Handlung bereits bei ihrer Begehung gesetzlich bestimmt sein“. Anders ausgedrückt: Ein Angeklagter kann nur nach der Gesetzeslage bestraft werden, die zum Zeitpunkt der Tat galt.
Entführung in Bonn: So lief der Prozess
Das war dem Schwurgericht unter Vorsitz von Landgerichtsrat Conrads bei der Urteilsfindung allerdings gleichgültig. Er wird im „Westdeutschen Beobachter“ so zitiert: „Die Frage der Rückwirkung des Gesetzes haben wir nicht zu beantworten. Ich glaube, dass das Volk und sein Rechtsempfinden dies befürworten werden, was wir als Recht empfinden.“
Der den NS-Machthabern willfährige Richter dankte in der Urteilsbegründung ausdrücklich der Reichsregierung dafür, dass sie entscheidend eingegriffen habe. Der Angeklagte, laut Gericht „für das deutsche Volk nicht nur wertlos, sondern auch gefährlich“, wurde nach vier Stunden Verhandlung am 1. Juli zum Tode verurteilt.
Im Schwurgerichtssaal nickte der 1. Staatsanwalt Dr. Günther Joel zustimmend. Er war von der Zentralstaatsanwaltschaft Berlin nach Bonn geschickt worden, um den Prozess zu beobachten. Der Karrierist Joel sollte später als Generalstaatsanwalt von Hamm zuständig werden für Sondergerichte, die bei Nacht und Nebel Urteile sprachen und die Delinquenten dann verschwinden ließen. Gieses Pflichtverteidiger Dr. Hans Dahs reichte ein Gnadengesuch ein, das die Regierung allerdings erwartungsgemäß ablehnte.
Tod im Gefängnishof: Als das Handbeil auf Hans Eduard Giese niedersauste
Gegen 3 Uhr am Morgen des 12. August 1936 – Berlin schlief in den zwölften Tag der Olympischen Spiele hinein – musste in Bad Honnef ein Postflugzeug der British Airways, das auf der Linie Hannover-Köln-London Nachtpost beförderte, notlanden. Dabei brach die Maschine entzwei, eines der beiden Besatzungsmitglieder starb bei dem Unfall, das zweite überlebte schwer verletzt.
Zur gleichen Stunde wurde der Häftling Hans Eduard Giese in seiner Zelle im Bonner Gefängnis geweckt. Während er sich bereit machte für seinen letzten Gang, zog der Henker Carl Gröpler seine Amtskleidung an, weißes Hemd, Weste und Frack, und sein Gehilfe Ernst Reindel machte im Hof des Arresthauses den Richtblock bereit.
Giese wurde hinausgeführt, ein Justizbeamter verlas noch einmal das Todesurteil, ein Priester sprach ein Gebet. Dann zwang der Gehilfe den Verurteilten auf den Holzblock, und Scharfrichter Gröpler ließ das Handbeil niedersausen.