Vor 30 Jahren trat das Bonn-Berlin-Gesetz in Kraft, das die Zweiteilung der Bundesregierung vorsah. Heute fragt sich manch einer, ob es Bonn nicht eher dabei behindert, eine neue Identität aufzubauen.
30 Jahre Bonn-Berlin-GesetzBonn – eine Stadt mit Phantomschmerz
Als Konrad Adenauer im April 1967 auf seinem Sterbebett in Rhöndorf bei Bonn noch einmal kurz zu Bewusstsein kam, ermahnte er seine in Tränen aufgelösten Kinder mit den kölschen Worten: „Do jitt et nix zo kriesche.“ Ins Hochdeutsche übertragen: „Da gibt's nichts zu weinen.“ Fast könnte man meinen, dass sich auch die Stadt Bonn an diese Losung zu halten versucht, seit ihr der Hauptstadt-Status abhandengekommen ist.
Am 7. Mai 1994, am Dienstag vor genau 30 Jahren, trat das Bonn-Berlin-Gesetz in Kraft, das den Umzug von großen Teilen der Regierung nach Berlin regelte. Es sah aber auch vor, dass „der größte Teil der Arbeitsplätze der Bundesministerien in der Bundesstadt Bonn erhalten bleibt“. Heute haben noch 6 von 14 Ministerien ihren ersten Dienstsitz am Rhein. Und jene Bundesministerien, deren erster Dienstsitz Berlin ist, haben in Bonn einen zweiten Sitz. Insgesamt befindet sich noch gut ein Drittel der ministeriellen Arbeitsplätze in Bonn.
In diesem Sommer ist es zudem genau 25 Jahre her, seit der Bundestag und die damalige rot-grüne Bundesregierung von Bonn nach Berlin wechselten. Wird dies in Bonn noch beklagt? „Wer klagt, will nur auf sich aufmerksam machen“, sagt „Mister Bonn“ Friedrich Nowottny (94), der von 1973 bis 1985 den „Bericht aus Bonn“ moderierte. Nowottny lebt in der Bonner Südstadt, und gerade dort würde jede Klage nun wirklich deplatziert wirken: Eine weiß gestrichene Stadtvilla reiht sich an die nächste, unterbrochen von Garten-Cafés und Edelrestaurants. „Es läuft eigentlich geräuschlos“, sagt Nowottny zu dem Arrangement mit Berlin. „Es gibt immer mal wieder Aufregung, wenn eine Abteilung von Bonn nach Berlin verlegt wird, aber ansonsten kann sich Bonn glücklich schätzen.“
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Bonn als bedeutende Stadt ohne Starallüren
Bonn hat gerade mal 330 000 Einwohner - allein der Berliner Alexanderplatz wird täglich von mehr Menschen passiert. Doch trotz dieser bescheidenen Ausmaße ist Bonn Sitz von gleich zwei Dax-Unternehmen, der Post und der Telekom. Dazu kommen UN-Institutionen vom Klima- bis zum Fledermaus-Sekretariat. Nicht zu vergessen die Kirschblüte in der Altstadt, zu der alljährlich im Frühling Influencer und Touristen aus aller Welt zum Selfie-Shooting anreisen. Nein wirklich, Bonn ist beileibe nicht verkümmert. Do jitt et nix zo kriesche.
Und doch: Der Phantomschmerz ist vielerorts spürbar. Noch immer gibt es eine U-Bahn-Station namens „Bundesrechnungshof/Auswärtiges Amt“, auch wenn Annalena Baerbock hier nicht anzutreffen ist. Schilder weisen den Weg zum „Bundeskanzleramt“ – gemeint ist das Palais Schaumburg, offiziell der zweite Dienstsitz von Olaf Scholz, aber schon lange in den Dornröschenschlaf einer Endlos-Sanierung verfallen. Viele Schauplätze der Bonner Republik sind seit dem Wegzug der Regierung liebevoll wieder hergerichtet worden, so das Arbeitszimmer von Helmut Schmidt im ehemaligen Bundeskanzleramt samt Original-Aschenbecher und Hamburger Buddelschiff und das sogenannte Bundesbüdchen, der Kiosk, an dem sich Joschka Fischer und andere Politgrößen allmorgendlich mit Zeitungen versorgten.
Bonns Narrativ war 40 Jahre lang das von der neuen deutschen Bescheidenheit, von bürgerlicher Zivilisiertheit nach der Barbarei des Nationalsozialismus, symbolisiert durch duftende Rosenhecken und knirschende Kieswege. In Bonn Weltpolitik machen zu wollen, war schon aufgrund der örtlichen Gegebenheiten kaum möglich. Neben einer gewissen Provinzialität strahlt die Stadt Wohlstand und Solidität aus, und genau das hat die Bonner Republik ausgemacht. Neubauten blieben unprätentiös, so das 1976 fertiggestellte Bundeskanzleramt: Das Einzige, was den Kanzlertrakt von den Büros der ganz normalen Beamten unterschied, war eine etwas teurere Wandverkleidung.
Bonn als Haupstadt der Vernunft-Kultur
Bonn war die Hauptstadt einer politischen Vernunft-Kultur und auch, wenn anfangs alles nur als Provisorium gedacht war, richtete man sich doch scheinbar permanent darin ein. Bis die Mauer fiel. „Ich beneide die Franzosen um Paris, aber nicht die Australier um Canberra“, verkündete damals der weit gereiste Fernsehjournalist Hanns Joachim Friedrichs (1927-1995). Das saß, das tat weh. Und dann ging alles ganz schnell.
Seitdem ist die einst meistgenannte Ortsmarke der „Tagesschau“ nur noch eine Hauptstadt a. D. Das muss man erst einmal verkraften. Doch die Bonner lassen sich nichts anmerken. „Das ist die typisch rheinische Überlebenshaltung: Das Wasser steht einem bis zum Hals, aber man sagt: Alles wunderbar!“, analysiert Konrad Beikircher, vielfach ausgezeichneter Kabarettist, Musiker und Experte für die rheinische Wesensart. Der 78-Jährige hat die gebotene Distanz, denn er ist gebürtiger Südtiroler. Nach Bonn kam er 1965 zum Studieren. Heute wohnt er im Stadtteil Bad Godesberg. „Der Rheinländer klagt nicht, er trauert nicht – er jubelt“, ist seine Überzeugung. „Tatsächlich ist es so, dass die Wunden tief sind.“
Beikircher kann sich noch an den Tag des Hauptstadtbeschlusses erinnern. Es war der 20. Juni 1991. „Da war ich mit meiner Frau in Venedig in der Kneipe. Und dann kam im Fernsehen das Laufband „Bundestag beschließt Umzug nach Berlin“. Da war die ganze Kneipe in heller Aufruhr. Das mündete in dem Satz: „Und wann kommen sie bei uns in Italien wieder einmarschiert?““ Der Südtiroler Beikircher wurde um Auskunft gebeten. Er beschwichtigte die venezianischen Kneipengänger mit den Worten: „Wenn Sie den Bundeswehrfuhrpark in Koblenz sehen würden, wären Sie vollkommen beruhigt. Diese Lkws schaffen es nicht über die Alpen.“
Beikircher, studierter Psychologe, glaubt: „Die Bonner haben emotional großen Schaden erlitten.“ Gleichzeitig hält er es für einen Fehler, dass immer noch ein Teil der Ministerien und Behörden am alten Standort festklebt, denn das halte die Stadt davon ab, endlich einen Schlussstrich zu ziehen, das Trauma zu verarbeiten und sich neu zu orientieren. Bonn benötige eine Identität jenseits der verlorenen Hauptstadt-Funktion, ist seine Überzeugung. „In jeder Psychotherapie ist das Punkt: Du musst den Klienten dazu bringen, dass er sich selber hilft, und du kannst ihm nur dabei behilflich sein, den richtigen Weg zu finden. Aber wenn man die Probleme für den Patienten zu lösen versucht – das ist immer der falsche Weg.“ Der rheinische Patient müsse sich endlich vom Berliner Tropf lösen und wieder ganz aus eigener Kraft existieren.
Das offizielle Bonn nimmt für sich in Anspruch, die Neuausrichtung längst begonnen zu haben: So ist das frühere Regierungsviertel mittlerweile fast ganz in der Hand von UN-Institutionen. Dazu kommt neuerdings eine zweite Perspektive: Bonn soll zum Zentrum für Cybersicherheit ausgebaut werden, wie eine jüngst vorgestellte Zusatzvereinbarung zum Bonn-Berlin-Gesetz vorsieht. So ist die Stadt nach Auffassung von Friedrich Nowottny durchaus schon auf gutem Weg: „Ich glaube, man muss weit suchen in der Weltgeschichte, um ein Beispiel für eine Regierungsverlegung zu finden, die so gut geklappt hat.“ (dpa)