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Ukraine-Krieg
Hat sich Scholz von Putin einschüchtern lassen?

Lesezeit 11 Minuten
25.10.2024, Russland, Moskau: Der russische Präsident Wladimir Putin spricht mit dem Leiter des Föderalen Zolldienstes Pikalyov im Kreml Foto: Mikhail Metzel/Pool Sputnik Kremlin via AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Der russische Präsident Wladimir Putin im Kreml Foto: Mikhail Metzel

1000 Tage Krieg in der Ukraine. Wie ist Putin noch zu bezwingen? Wie wehrhaft ist die Ukraine? Und welche Rolle spielt Trump? Fragen an Brigadegeneral a.D. Klaus Wittmann.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefoniert und auf Verhandlungen im russisch-ukrainischen Krieg gedrungen, der seit nun 1000 Tagen andauert. Kann das etwas bewirken?

Ich glaube nicht. Ich glaube auch nicht, dass Scholz für Putin überhaupt eine Größe ist, die zählt. Wichtig an Scholz ist für Putin, dass der Kanzler einer von denen ist, die ständig die roten, selbstverordneten Linien kommunizieren. Damit wiegen sie Putin in Sicherheit. Weder Scholz noch der leider sehr übervorsichtige US-Präsident Joe Biden haben Putin jemals wirklich Paroli geboten. Für Putin, der vor der Invasion westliche Staatsmänner reihenweise belogen hat, war das ein Propagandaerfolg. Scholz wollte sich damit wohl schon für den Wahlkampf erneut als „Friedenskanzler“ positionieren.

Unerhört, wie sich Scholz damit brüstet, mit deutschen Waffen werde niemals in russisches Territorium geschossen.

Immerhin hält der Kanzler sich laut Regierungserklärung zugute, er habe eine Eskalation des Krieges verhindert.

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Ich selbst habe Scholz 2022 vor Publikum auf seine aus dem Auswärtigen Ausschuss zitierte Warnung angesprochen, die Lieferung von Schützenpanzer Marder an die Ukraine würde eine „furchtbare Eskalation“ hervorrufen. Ob man daraus schließen müsse, dass er sich bei seinen Telefonaten mit Putin habe einschüchtern lassen. Natürlich hat er mir ausweichend geantwortet, aber ich war froh, es gesagt zu haben. Jetzt finde ich es unerhört, wie er sich in seiner Regierungserklärung damit brüstet, mit deutschen Waffen werde niemals in russisches Territorium hineingeschossen. Das ist so, als ob man Mittelstreckenraketen stationierte und zugleich erklärte, sie würden nie abgefeuert. Und der Popanz, den er für seinen Wahlkampf aufbaute mit der Behauptung, nach dem Willen anderer Politiker sollte die Ukraine-Militärhilfe zulasten von Sozialleistungen gehen und somit den Zusammenhalt der Gesellschaft zerstören: Der wird hoffentlich entlarvt werden. Putin eskaliert unabhängig von westlichen Waffenlieferungen, besonders wenn er Schwäche spürt.

Aber sind wir nach 1000 Tagen Krieg nicht wirklich mit einer rein militärischen Logik am Ende?

Ich bin Mitautor der Friedensdenkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland von 2007. Das ist immer noch die Grundlage der protestantischen Friedensethik. Ich bin überzeugt: Es gibt für nichts eine militärische „Lösung“. Aber wenn ein besessener Despot wie Putin nur nackte militärische Gewalt in seinem Arsenal hat, muss er zunächst militärisch gestoppt und zurückgedrängt werden. Sinnvolle Verhandlungen mit ihm gibt es erst, wenn er den möglichen Misserfolg seines Kriegsabenteuers vor Augen hat.

Aktuell wird Putin allerdings auf den Wahlsieg von Donald Trump in den USA blicken und darauf setzen, dass die US-Unterstützung für die Ukraine zusammenbricht. Oder?

Ich hoffe nicht. Alle müssen sich über den Charakter dieses Krieges klar sein. Das ist kein Kräftemessen „zwischen zwei Kriegsparteien“, sondern die brutale Unterwerfungsoffensive gegen ein friedliches Nachbarland. Trump hat gesagt, er könne den Krieg in 24 Stunden beenden. Da Putin – das hat er ja gegenüber Scholz wieder deutlich gemacht mit der Forderung nach „Anerkennung der neuen territorialen Realitäten“ – nicht von seinen Zielen abrückt, könnte Trump das nur erreichen, wenn er auf Putins Ziele eingeht. Ich kann nur hoffen, dass Leute wie Nato-Generalsekretär Mark Rutte oder der von Trump als Außenminister in Aussicht genommene Marco Rubio ihm das erklären. Russlands Bedingungen lauten:  Abtretung von Gebieten weit über das aktuell besetzte Territorium hinaus und die Ukraine nicht nur von einer Nato-Mitgliedschaft auszuschließen, sondern, wie Putin sagt, zu demilitarisieren. Also wehrlos zu machen. Wenn Trump das mitmacht, verhält er sich wie der britische Premier Neville Chamberlain vor bald 90 Jahren gegenüber Hitler. Das sollte ihm Rubio erklären, und vielleicht denkt Trump auch an den schmählichen Abzug aus Afghanistan, zwar von Joe Biden vollzogen, aber zurückzuführen auf Trumps eigenes, übereiltes, völlig unabgestimmtes Abkommen mit den Taliban. Vielleicht hilft es, an seine Eitelkeit zu appellieren: Du kannst dich nicht gegenüber Putin als Schwächling zeigen.

Für Putin ist dieser Krieg ein existenzieller Kampf.

Aber auch unabhängig von Trump fragen sich viele Leute, ob man den Krieg nicht einfrieren kann, wie SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich einmal gesagt hat. Wenn Putin sich damit zufriedengäbe, könnte sich eine Rest-Ukraine dann einigermaßen sicher entwickeln?

Nein, überhaupt nicht. Auch das wäre ein Sieg Putins. Ein Sieg der Gewalt über das Recht, und das könnte Nachahmer finden. Wer vom Einfrieren fabuliert, denkt wahrscheinlich an das Minsk-II-Abkommen von 2015. Es brachte einen sogenannten Waffenstillstand mit 12.000 Toten und verschaffte Putin sieben Jahre Zeit, um die volle Invasion vorzubereiten.

Was würde so eine Lösung für die Ukraine selbst bedeuten? Sahra Wagenknecht spricht immer wieder vom Ende des Sterbens.

Man muss sich ja nur anschauen, was in den bislang schon besetzten Gebieten vor sich geht. Verschwindenlassen von Kommunalpolitikern, brutale Russifizierung, Folterkeller, Deportation Zehntausender ukrainischer Kinder. Und da die Ukrainer das ganz genau wissen, sind sie auch nicht bereit, ein „Einfrieren“ mitzumachen. Bei Frau Wagenknecht muss ich sagen, wenn sie nicht bewusst russische Interessen propagiert, dann kann man ihr nur erschütternde Blindheit gegenüber den russischen Zielen und  große  Empathielosigkeit gegenüber einem von Vernichtung bedrohten Volk bescheinigen.

Warum greift Russland zu so extremer Gewalt?

Für Putin ist dieser Krieg ein existenzieller Kampf. Das gilt jenseits aller Geschichtsklitterung, unabhängig vom imperialen Phantomschmerz und von Sicherheits-„Interessen“, die er gegenüber einer ja völlig defensiven Nato geltend macht. Die gehören ins Reich der politisch-psychologischen Befindlichkeiten. Neben all dem treibt ihn die Angst vor einem demokratischen Wandel. Das erklärt die drastische Verhärtung der Repression in Russland, aber auch das Vorgehen gegen die Ukraine. Ihre demokratische Entwicklung samt Westorientierung sieht Putin als Bedrohung seines Herrschaftssystems. In seiner Sicherheitsdoktrin werden ja angeblich vom Westen gesteuerte Farbenrevolutionen als Bedrohungen der Sicherheit Russlands erwähnt. Deshalb führt er einen Vernichtungskrieg. Ich bin vorsichtig mit historischen Vergleichen, aber es erinnert vieles an den Vernichtungskrieg von Hitlers Wehrmacht gegen die sowjetischen, zu einem großenTeil ukrainischen,  „Untermenschen“.

Aber wenn Putin eine demokratische Ukraine so gefährlich findet, wird er doch nie aufgeben. Kann die Ukraine dem standhalten?

Es ist ein Überlebenskampf. Aber dieses Gerede, die Ukraine könne auf Dauer nicht standhalten, ist ein typisches Beispiel selbst erfüllender Prophetie. Gerade aus Deutschland kam immer zu wenig an Waffen und das zu spät. Dann sagt man, die Ukraine könne nicht gewinnen. Also muss man nicht mehr tun, und so dreht sich der Teufelskreis. Schon Ende April 2022 gab es eine Bundestagsentschließung für die Lieferung schwerer Waffen, erst im Frühjahr 2023 hat sich der Kanzler zur Lieferung von Panzern und Schützenpanzern durchgerungen.

Dann ist die ukrainische Offensive aber trotz dieser Panzer gescheitert.

Richtig, denn es waren sehr wenige, und Russland hatte ein Dreivierteljahr lang Zeit, das geraubte Land mit dreifach gestaffelten  Verteidigungsanlagen und massenhafter Verminung zu überziehen. Und dann hat Russland langsam die Initiative zurückgewonnen. Unter immensen Verlusten kleine Geländegewinne über viele Monate. „Masse statt Klasse“ nenne ich das. Aber jetzt ist die Ukraine im Donbass unter immensem Druck, besonders in Richtung des Logistikknotenpunktes Pokrowsk.

Ich hoffe, Friedrich Merz steht im Wort, wenn er Kanzler werden sollte.

Wie ernst ist die Lage dort?

Sehr ernst. Die Front lässt sich nur weiter halten, wenn die Ukraine jede Menge an Waffen und Munition erhält. Wenn  sie ferner ihr Personalproblem besser in den Griff bekommt. Und wenn endlich passiert, was der Kanzler in der Regierungserklärung wieder ausgeschlossen hat: dass sie  mehr weitreichende Waffen erhält und die Begrenzung, diese nicht gegen Ziele auf russischem Gebiet einsetzen zu dürfen , endlich aufgehoben wird. Man kann nicht alle anfliegenden Raketen, Drohnen und Gleitbomben abfangen, sondern man muss möglichst viele Abschüsse schon auf russischem Gebiet verhindern.  Wie es die Ukraine mit dem Einsatz selbst entwickelter Waffen gegen Raketenbasen, Militärflugplätze und Munitionsdepots ja nicht ohne Erfolg macht. Was die Ukraine dort erreichen kann, wo sie auch westliche Waffen einsetzen darf, zeigt sich eindrucksvoll in der massiven Schwächung des russischen Militärpotenzials auf der okkupierten Krim. Man muss sich nur einmal auf einer Karte, wie das Institute for the Study of War sie herausgab, anschauen, wie viele militärisch hoch relevante Ziele in Reichweite von Taurus-Marschflugkörpern oder ATACMS-Raketen liegen. Ich bin auch überzeugt, dass es im Bundestag, auch bei vielen SPD-Politikern, eine Mehrheit für die Lieferung gäbe. Es bremsen Scholz, sein Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt, sein Berater Jens Plötner und eben Mützenich.

Immerhin können diese Leute sich auf Ex-General Erich Vad berufen. Der warnt, mit dem Taurus könne man den Kreml zerstören …

Natürlich, und dann bricht bei Teilen der SPD-Fraktion das Zittern aus. In Wirklichkeit hat die Ukraine sich immer an alle westlichen Auflagen gehalten. Aber man genehmigt ihr ja nicht einmal Angriffe in 100 oder 200 Kilometer Tiefe. Dabei hat man an im Sommer vor Charkiw gesehen, wie der Nachschub beeinträchtigt wurde, als man der Ukraine auch zumindest  in kleinem Ausmaß Einsätze gegen Ziele auf russischem Gebiet erlaubte. Der Krieg wird nach meiner Lesart nicht durch physische Rückeroberung auch des letzten ukrainischen Quadratkilometers enden, sondern dadurch, dass die Lage der Invasoren unhaltbar gemacht wird.  Dazu gehört möglichst weitgehendes Abschneiden vom Nachschub. Zumindest sollte man das machen, was CDU-Chef Friedrich Merz vorgeschlagen hat: Ukrainer am Taurus ausbilden und Putin drohen, die Waffen werden geliefert, wenn er nicht binnen 24 Stunden mit seinem Terror-Luftkrieg aufhört.

Trauen Sie Merz zu, dass er das wirklich macht, wenn er Kanzler werden sollte?

Ich hoffe es sehr, er steht im Wort.

Aber selbst dann bliebe es doch dabei, dass die Ukraine kleiner ist als Russland. Putin kann als Diktator immer wieder Hunderttausende zum Sterben an die Front schicken. Wie soll die Ukraine da mithalten?

Ich bin von der langfristigen russischen Überlegenheit nicht so überzeugt. Klar, auch ich habe mich am Anfang verschätzt und gedacht, Putin kann sich nicht mehr als einige zehntausend Tote leisten. Ich habe an den sowjetischen Abzug aus Afghanistan gedacht und den damaligen Druck des  Soldatenmütter-Komitees. Heute hält Putin solche Proteste nieder. Trotzdem tut er alles, um eine Generalmobilmachung zu umgehen. Mittlerweile muss er sich von nordkoreanischen Söldnern helfen lassen. In den letzten Tagen hat Russland wieder extreme Verluste verzeichnet. Viele Soldaten sind miserabel ausgebildet, da trifft das böse Wort vom Kanonenfutter zu. Derzeit schafft Russland es auch nicht, so viele Panzer nachzuproduzieren, wie verloren gehen. Auf der anderen Seite braucht die Ukraine schlicht Material. Milliarden-Zusagen sind gut, aber am Ende zählt, was zeitgerecht an die Front gelangt. Notfalls müssen die Europäer Waffen bei den USA kaufen. Sonst werden die Ukrainer das Ziel eines freien Landes in den völkerrechtlich gültigen Grenzen von 1991 nicht erreichen.

Wenn die ukrainischen Ressourcen so knapp sind, war die Kursk-Offensive da eine gute Idee?

Das Hauptziel dieser Offensive war es, den Zustand zu beenden, in dem russischer Boden ein Sanktuarium ist, aus dem die Ukraine risikolos beschossen werden kann. Wenn man der Ukraine den Einsatz weiter reichender Waffen gegen russische Ziele erlaubt hätte, dann hätte sie die Bodenoffensive nicht gebraucht, sondern dieses Sanktuarium mit Feuerkraft treffen können. Und es gab positive Nebeneffekte: Man hatte wieder die Initiative, die Moral der Bevölkerung und der Truppe hat einen Schub bekommen, der Nimbus des unbesiegbaren Russland ist zerstoben angesichts der panischen und bis heute ineffektiven Reaktion. Der Westen hätte einiges daraus lernen können. Erstens, die Eskalationsangst kann man sich abschminken. Denn welchen gewichtigeren Anlass zur Eskalation hätte Putin gehabt als die erstmalige militärische Besetzung russischen Bodens seit dem Zweiten Weltkrieg? Zweitens, die Ukraine hat eine enorme Stärke und Flexibilität gezeigt, der Täuschungsplan vor der Offensive muss ja fast so komplex gewesen sein wie der Operationsplan selbst. Der Westen hätte dieses Momentum unterstützen und im Donbass erneut ermöglichen müssen. Denn eines ihrer Ziele hat die Ukraine nicht erreicht, nämlich Russland zum Abzug   beträchtlicher  Truppen aus dem Donbass abzuziehen. Andererseits fehlen dort die vor Kursk  eingesetzten ukrainischen Einheiten.

Nach der Ukraine würde sich Putin Moldau und Georgien schnappen.

Sie sprachen vorhin über die nordkoreanischen Soldaten, die ja bei Kursk kämpfen. Was braut sich da zusammen?

Eine „Achse der Autokraten“ (Anne Applebaum) - Russland, Iran, Nordkorea und auch China. Putin hat sich bei der Valdai-Konferenz im Oktober letzten Jahres gebrüstet, er habe gerade erst mit der Umgestaltung der Weltordnung begonnen. Die in der UN-Charta angelegte Friedensordnung ist nach Auffassung dieser Vier vom Westen aufgezwungen. Putins hybrider Krieg gegen westliche Länder ist längst im Gange, und mit Iran und Nordkorea macht er Gegengeschäfte: Er bekommt Artilleriemunition und jetzt Soldaten aus Nordkorea, Drohnen aus dem Iran, und die beiden Diktaturen bekommen technologische Hilfe aus Russland, möglicherweise auch Unterstützung auf ihrem Weg zu Atomwaffen. Das alles reicht weit über den aktuellen Krieg hinaus.

Der Generalinspekteur der Bundeswehr hat gerade bekräftigt, er erwarte, dass Russland nach einem Ende des Ukraine-Krieges in vielleicht acht Jahren in der Lage sein könnte, Nato-Gebiet anzugreifen. Finden Sie dieses Szenario realistisch?

Manche Leute hoffen, man könne Putin zufriedenstellen, wenn man ihm einen Teilsieg in der Ukraine erlaubt. Ich glaube das nicht. Er hat schon vor der erwähnten Valdai-Konferenz ultimativ einen Rollback der Nato verlangt, im Grunde sollen die Verhältnisse in Osteuropa wieder sein wie vor 1991. Nach der Ukraine würde er sich Moldau und Georgien schnappen. Und je nachdem, wie er dann Stärke und Geschlossenheit der Nato einschätzt, könnte er sie im Baltikum oder auch an der Schwarzmeerküste, in Rumänien und Bulgarien, testen. Unser Bundeskanzler hat ja selbst bei der Münchner Sicherheitskonferenz gesagt: „Wenn Putin in der Ukraine siegt, dann wird der Preis für uns alle viel höher sein als jede Unterstützung der Ukraine jetzt und in der Zukunft.“ Nur hat er nie die ausreichend konsequenten Folgerungen gezogen. Und Schwäche nutzt Putin aus. Wenn er dagegen auf Festigkeit stößt, ist er eher zu Konzessionen bereit.

Dr. Klaus Wittmann, Brigadegeneral a.D., lehrt Zeitgeschichte an der Universität Potsdam.