AboAbonnieren

Terrorverdacht in DuisburgSo läuft die Gefährder-Überwachung in NRW

Lesezeit 4 Minuten
Düsseldorf: Der Angeklagte wartet hinter einer Sicherheitsscheibe vor dem Oberlandesgericht auf den Prozessbeginn. 

Düsseldorf: Der Angeklagte wartet hinter einer Sicherheitsscheibe vor dem Oberlandesgericht auf den Prozessbeginn. Er wurde am 6. April 2017 als IS-Terrorist vom Düsseldorfer Oberlandesgericht zu fünf Jahren Jugendhaft verurteilt. Gegen den am 24.10. in Duisburg festgenommenen vorbestraften Islamisten ist Haftbefehl erlassen worden, teilte die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf am Mittwoch mit.

Über bekannte Islamisten wissen die Sicherheitsbehörden fast alles, sind im entscheidenden Moment wie bei Tarik S. aber immer auf ausländische Hilfe angewiesen

Es war offenbar ein letzter Hinweis des marokkanischen Geheimdienstes, der die Sicherheitsbehörden in NRW das ganz große Besteck hervorholen ließ. Der in Duisburg lebende 29-jährige Islamist Tarik S., der bereits eine fünfjährige Jugendstrafe wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verbüßt hatte, bejubele in sozialen Netzwerken den IS-Mord an zwei Menschen vom 16. Oktober in Brüssel. Er tausche sich mit einem syrischen Chatpartner über LKW-Anschläge aus. Und er suche bei Google nach pro-israelischen Veranstaltungen.

Haftbefehl gegen Tarik S. erlassen

Ein Spezialkommando der Essener Polizei rückte schließlich am Dienstagabend aus und nahm Tarik S. in Gewahrsam, am Mittwochnachmittag wurde Haftbefehl gegen ihn erlassen. „Das Wichtigste ist: Wir sind rechtzeitig vor die Lage gekommen und haben schnell gehandelt“, atmete NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) durch. Und doch beschäftigt den 71-jährigen Polit-Routinier ein krasses Missverhältnis: Seine Behörden betreiben einen riesigen Aufwand bei der Überwachung von potenziellen Terroristen, sind aber im entscheidenden Moment immer auf Tipps aus dem Ausland angewiesen. Der Fall Tarik S. zeigt das beispielhaft.

186 islamistische Gefährder sind aktuell bei den Sicherheitsbehörden in NRW als solche eingestuft. Etwa die Hälfte von ihnen gilt als „aktionsfähig“. Die anderen befinden sich in Haft, im Ausland oder weisen zumindest vorübergehend „ein gefestigtes soziales Umfeld“ auf, wie es im Polizei-Deutsch heißt.

Wie man zum Gefährder wird

Die Gefährder-Einstufung erfolgt nach einem bundesweit einheitlichen Bewertungssystem. Da die Polizei niemals genug Personal hätte, um Dutzende potenzielle Attentäter gleichzeitig intensiv überwachen zu können, wurde 2017 das standardisierte Risikobewertungsinstrument „Radar-iTE“ eingeführt. Die Abkürzung steht für: Regelbasierte Analyse potenziell destruktiver Täter zur Einschätzung des akuten Risikos - islamistischer Terrorismus.

Anhand von möglichst vielen Informationen und Beobachtungen aus dem Leben eines polizeibekannten Gefährders wird dabei versucht, die Wahrscheinlichkeit eines Anschlags zu prognostizieren.

Viele Islamisten wissen, dass sie im Visier der Sicherheitsbehörden sind und bekommen regelmäßig Polizei-Besuch, bei denen Verhaltenskontrollen durchgeführt und sogenannte Gefährderansprachen gemacht werden. Besonders problematische Figuren sind immer wieder Thema im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ), in dem Dutzende Experten aus Bund und Ländern versammelt sind – vom Bundeskriminalamt über den Generalbundesanwalt bis zum Verfassungsschutz. Wenn Gefahr im Verzug ist, kommt es zu anlassbezogenen Sitzungen wie jüngst im Duisburger Fall.

Anschlagsgefahren früher erkennen

Parallel hat NRW seit 2018 noch ein eigenes GTAZ aufgebaut, in dem sich unter Führung des Landeskriminalamtes unter anderem die neue Terrorismuseinheit (ZenTer) der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf und das Referat „Sicherheitskonferenz“ (SIKO) des Flüchtlingsministeriums austauschen. Ziel ist es, Anschlagsgefahren früher zu erkennen und islamistische Gefährder ohne deutschen Pass konsequenter abzuschieben.

Dies war eine Lehre aus dem Weihnachtsmarkt-Attentat vom Berliner Breitscheidplatz 2016. Der tunesische Terrorist Anis Amri war zwischenzeitlich in NRW gemeldet und den Behörden bestens bekannt, aber die Ausweisung oder Festnahme scheiterten auch an Zuständigkeitsfragen. So etwas soll nie wieder passieren.

Operativ kümmern sich die sechs größten Polizeipräsidien in NRW um bekannte Gefährder. Sie wären im Ernstfall auch imstande, eine Terrorlage zu führen. Im Fall Tarik S. sind es die Staatsschützer der Essener Behörde. Sie hatten „Osama, den Deutschen“ seit seiner Haftentlassung im Frühjahr 2021 ohnehin „immer im Blick“, wie Innenminister Reul betont.

Doch akute Attentatspläne sind selbst bei prominenten Islamisten wie Tarik S. nur schwer zu erkennen. Man könne ihnen „nicht in den Kopf gucken“, sagt Reul. Ausländische Geheimdienste tun sich da leichter, denn ihnen ist gestattet, was der Datenschutz den deutschen Behörden verbietet: Chats dürfen hierzulande nur bei konkretem Tatverdacht mit richterlicher Genehmigung überwacht werden. Gefährder könnten im Netz auch Komponenten für den Bau einer Bombe bestellen, ohne dass deutsche Ermittler solche digitalen Bewegungsmuster systematisch scannen dürfen.

Ein von Tarik S. verübter Terroranschlag wurde deshalb lange nur „im mittleren Bereich des Wahrscheinlichen“ angesiedelt. Dessen Teilnahme am Islamismus-Aussteigerprogramm Api und der zwischenzeitliche Job in einem Fitnessstudio ließen auf eine Deradikalisierung schließen. Vor etwa sechs Wochen verdichteten sich dann Hinweise, Tarik S. könnte ein Attentat auf Polizisten planen. „Dann wurde die Überwachung wieder auf Highend-Stufe hochgefahren“, heißt es in Sicherheitskreisen. Aber erst nach dem entscheidenden Tipp des marokkanischen Geheimdienstes erfolgte schließlich der Zugriff in Duisburg.