Reinhold Beckmann über das Aufschreiben seiner bewegenden Familiengeschichte, seine Mutter, über die Folgen für heute und über die AfD.
Inteview mit Reinhold Beckmann„Können Radikalisierung nicht weglächeln“
Musiker, Moderator und nun auch Bestsellerautor: Reinhold Beckmann hat mit „Aenne und ihre Brüder – Die Geschichte meiner Mutter“ ein bewegendes Stück Zeitgeschichte niedergeschrieben. Im Interview mit Ralf Geisenhanslüke spricht der 67-Jährige über den indensiven Schreibprozess, die enge Verbindung zu seiner Mutter und die AfD.
Herr Beckmann, wann haben Sie das starke Bedürfnis verspürt, dieses Buch zu schreiben?
Die Idee gab es schon eine ganze Weile. Angestoßen hatte das Wibke Bruhns, als sie 2004 mit ihrem Buch „Meines Vaters Land“ bei mir in der Talkshow war. Ich hatte ihr damals von unserer Familiengeschichte erzählt, und sie meinte: „Das musst Du aufschreiben!“ Ich wusste aber gleich, so etwas gelingt nicht mal eben nebenbei, also blieb die Idee lange in der Schublade. Der finale Auslöser war unser Auftritt am Volkstrauertag 2021 im Deutschen Bundestag. Nachdem wir dort meinen Song „Vier Brüder“ gespielt hatten, kamen ein paar Verlage auf mich zu und interessierten sich für die Geschichte. Daraufhin habe ich mir die Freiheit genommen, das Buch zu schreiben. Ich habe erst mal ein paar Monate lang recherchiert. Drei Tage, nachdem ich dann tatsächlich am Schreibtisch saß, begann der Krieg in der Ukraine. Mariupol wurde bombardiert, Charkiw – lauter Orte, an denen schon meine Onkel Alfons und Franz als Soldaten waren. Unfassbar. Ukrainischen und russischen Angehörigen passierte wieder genau das, was meiner Familie damals widerfahren ist: Sie erhalten die traurige Nachricht, dass ihr Mann, ihr Sohn oder ihre Tochter nicht wieder heimkehren werden.
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Gibt es eine Botschaft, die Sie mit dem Buch „Aenne und ihre Brüder“ senden wollen, oder welche Art von Buch sollte es sein?
Es ist die Biografie meiner Mutter, die Geschichte einer einfachen Familie vom Land während des Zweiten Weltkriegs. Ich wollte die Erinnerung weitertragen. An den zahlreichen und zum Teil sehr bewegenden Reaktionen auf das Buch merke ich jetzt, dass es wohl einen Nerv trifft. Viele Menschen finden sich und ihre Familiengeschichte offenbar darin wieder. Auch 78 Jahre nach Kriegsende gibt es immer noch ein großes Bedürfnis, das damals Geschehene besser zu begreifen und sich dadurch auch selbst irgendwie zu verorten.
Woher stammen die vielen Details und die Kriegsbiografie der vier Brüder Haber?
Grundlage und ein unendlicher Schatz für das Buch waren an die Hundert Feldpostbriefe meiner Onkel, die meine Mutter aufbewahrt und mir kurz vor ihrem Tod vermacht hatte. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hat die Briefe für mich aus der Sütterlinschrift übersetzt. Ich habe zudem in Bibliotheken in Hamburg und Berlin Feldchroniken gefunden, mit deren Hilfe ich die Wege der Brüder nachvollziehen und die Briefe besser einordnen konnte. Ein paar Geschichten, die bei uns zu Hause immer erzählt wurden, stellten sich auch als so eine Art Familienlegende heraus und stimmen gar nicht. So habe ich auf einem Dachboden in Wellingholzhausen, dem Heimatort meiner Mutter, die Heimkehrer-Erklärung eines Alfred Sudmann aus Delmenhorst gefunden, die er 1949 nach der Heimkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft beim Deutschen Roten Kreuz gemacht hatte. Demnach ist mein Onkel Franz am 16. April 1945 in Fischhausen ums Leben gekommen, durch einen russischen Volltreffer. Bei uns war immer die Rede davon, Franz sei auf dem Rückweg in die Heimat in der Nähe von Danzig von Partisanen erschossen worden.
Haben Sie jetzt eine bessere Erklärung dafür, warum der Nationalsozialismus und Hitler Deutschland so widerstandslos in diesen sinnlosen Krieg ziehen konnten?
Als Jugendlicher hatte ich so manche Auseinandersetzung mit meinem Vater zu dem Thema. Ich habe ihm Vorwürfe gemacht und ihn gefragt: „Wieso habt ihr denn nicht gemerkt, was da los war?“ Mein Vater hat dann immer gesagt: Du glaubst ja gar nicht, was der Hitler alles geschafft hat. Was danach kam, das hat doch keiner ahnen können. Als 17-Jähriger hatte ich wenig Verständnis für seine Argumente. Im Zuge der Recherche bin ich jetzt auf Sebastian Haffners Buch „Anmerkungen zu Hitler“ gestoßen, der sehr genau schildert, welche Weitsicht es zu Beginn des Naziregimes brauchte, die Absichten Hitlers zu durchschauen. Ich denke, wir sollten uns da nicht erheben und sagen, wir hätten es besser gewusst.
Welcher Satz ist immer noch für Sie charakteristisch für Ihre Mutter?
Wenn ich sie gefragt habe, „Mutter, wie geht es Dir?“, war ihre Antwort immer: „Ach Junge, ich bin zufrieden!“ Sie hatte eine tiefe Bescheidenheit im Glück – und sie hat ihr Leben trotz aller Schicksalsschläge selbst in die Hand genommen, das bewundere ich sehr.
Warum musste diese Geschichte erzählt werden?
Wir kommen jetzt aus der längsten Friedenszeit, die wir je in diesem Land hatten. Es muss uns wichtig sein, was Demokratie bedeutet. Und wir müssen sie verteidigen. Meine Mutter sagte 2018, als Alexander Gauland in einer Rede vor der Jugendorganisation der AFD den Nationalsozialismus als Fliegenschiss bezeichnet hat: „Das lassen wir uns nicht bieten!“ Wir beide haben Gauland dann verklagt, nach Paragraf 189 StGB, Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener. Auch wenn die Klage am Ende abgewiesen wurde, waren wir froh, es einfach getan zu haben.
Was ist noch außer den Feldpostbriefen in das Buch eingeflossen? Schon als ich klein war, hat meine Mutter viel von ihren Brüdern erzählt. Sie waren in unserer Familie allgegenwärtig, saßen gefühlt fast mit am Tisch. So war zum Beispiel Weihnachten nicht nur ein Fest der Freude, sondern es schwangen stets auch Trauer und Verlust mit. Ein Bild der vier Brüder, eine Fotomontage, auf der meine Mutter sie wieder vereint hatte, hing als Erinnerung überall im Haus. Später habe ich ganz bewusst mit meiner Mutter über die Zeit damals gesprochen und oft auch das Tonband mitlaufen lassen.
Woher stammt die extrem starke Bindung Ihrer Mutter zu ihren Brüdern?
Sie und ihre drei älteren Brüder hatten ihre leiblichen Eltern verloren, als meine Mutter noch ein kleines Kind war. Dann kam eine etwas strenge Stiefmutter ins Haus. Das alles hat die Geschwister wohl umso enger zusammengeschweißt.
Haben Sie bei der Aufarbeitung der Briefe und durch die Gespräche mit Ihrer Mutter einen anderen Blick auf Deutschland und seine Geschichte bekommen?
Wir können die Radikalisierung der Mitte, die gerade stattfindet, nicht einfach weglächeln. Aus Frustration gehen die Leute in eine Protesthaltung – und das führt zum Erstarken einer Rechtsaußen-Partei wie der AfD. Mich beruhigt dabei wenig, dass nicht alle Protestwähler selbst radikale Ansichten haben.
Gehen wir zu unkritisch mit unserer Geschichte um?
Ich mache mir Sorgen um das deutsche Bildungssystem. Wir haben so viele Baustellen im System, die schlecht gemanagt werden. Schulabgänger, die nicht mal vernünftig lesen und schreiben können. Bildung ist wichtig für eine stabile Demokratie – auch Trump war nur möglich, weil so viele Menschen in den USA unfassbar bildungsfern sind.
Zur Person
Reinhold Beckmann wurde am 23. Februar 1956 in Twistringen als Sohn des Futter- und Düngemittelunternehmers Wilhelm Beckmann und der für das Buch namensgebenden Mutter Aenne (geb. Haber) geboren. Nach Abitur und Zivildienst machte er eine Lehre zum Radio-, Fernseh- und Videotechniker. Anschließend studierte er in Köln Germanistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften. Seine Fernsehkarriere begann er beim WDR. Ab 1985 kommentierte Beckmann auch Live-Sportübertragungen. Nach Stationen bei Premiere und Sat. 1 kam er 1998 zurück zur ARD, wo er auch eine Talkshow bekam. 2014 veröffentlichte Beckmann sein erstes musikalisches Projekt mit seiner Band. (ghl)