Annette Kurschus gibt in Ulm eine „persönliche Erklärung“ ab. Sie rückt in die Nähe eines Missbrauchstäters und gerät massiv unter Druck.
Ratsvorsitzende unter DruckSchwerwiegende Vorwürfe überschatten EKD-Synode
„Ich prüfe mich, ich prüfe mich intensiv: Habe ich da was übersehen?“ Die EKD-Ratsvorsitzende, die westfälische Präses Annette Kurschus, steht am Dienstagabend vor der in Ulm tagenden und zu dem Zeitpunkt wegen des Bahnstreiks unterbrochenen Synode der EKD. Sie gibt eine „persönliche Erklärung“ ab: Ein ungewöhnlicher Vorgang für das evangelische Kirchenparlament. Doch Kurschus, die seit 2021 ranghöchste Vertreterin der deutschen Protestanten, steht unter massivem Druck: Berichte der „Siegener Zeitung“ rücken sie in die Nähe eines Missbrauchstäters und werfen Kurschus vor, trotz entsprechender Infomationen nicht hinreichend tätig geworden zu sein.
Kurschus: Vorwürfe erst seit Januar bekannt
In Siegen, in der Stadt, in der Kurschus aufgewachsen ist, wo sie Vikarin, Pfarrerin und später Superintendentin war, soll ein kirchlicher Mitarbeiter homosexuelle Beziehungen zu mindestens acht jungen Männern begonnen haben. Dabei soll es sich mehrmals um Männer gehandelt haben, die sich an der Grenze zur Volljährigkeit befunden haben, und die zuvor bei dem Beschuldigten Musikunterricht erhalten haben. Deswegen ermittelt derzeit die Staatsanwaltschaft Siegen: Es käme unter anderem ein Missbrauch von Schutzbefohlenen in Betracht.
Als Kurschus auf der Eröffnungspressekonferenz der Synode nach den Vorgängen gefragt wurde, zeigte sie sich „wütend“ über den Fall. „In Siegen kennt jeder jeden“, sagte sie auf die Frage, wie gut sie den Täter kenne. Die konkreten Vorwürfe seien ihr erst seit Januar bekannt. „Insofern haben Sie vielleicht eine Ahnung, wie wütend ich bin, das jetzt über eine Person zu erfahren, von der ich bislang nur ein anderes Gesicht wahrgenommen hab
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Doch die „Siegener Zeitung“ legte nach, und berichtete von einem Gespräch, dass schon vor Jahren im Garten der damaligen Pfarrerin Kurschus stattgefunden habe.
unangenehme Situation für die EKD
Kurschus weist „Andeutungen und Spekulationen“ in der Zeitung zurück. „Die beschuldigte Person kenne ich gut, ich kenne sie sogar sehr gut, jedenfalls dachte ich das“, sagte Kurschus. „Was dieser Person vorgeworfen wird, was durch Betroffene vorgetragen wird, ist entsetzlich.“ Und dann kam ein Schlüsselsatz: „Anfang des Jahres hat es eine anoymisierte Anzeige gegeben, seit dem weiß ich davon – vorher hatte ich keine Kenntnis von harter sexualisierter Gewalt durch diese Person.“ Doch die Zeitung legte noch einmal nach: Am Donnerstag berichet sie von eidesstattlichen Erklärungen zweier Teilnehmer des Gesprächs und einem Brief, der Bezug auf das Gespräch „bei Annette“ nimmt.
Für die EKD ist diese Situation zunehmend unangenehm. Es scheint, als wolle Kurschus eine Taktik der scheibchenweisen Aufarbeitung verfolgen, doch genau damit hat es noch niemand geschafft, ohne Schaden aus einem Skandal hervorzugehen. Wer unter Druck steht, muss alle Karten auf den Tisch legen. Nur dann gibt es eine Chance, eine Krise zu überstehen – das gilt für Minister in einem Landtagsausschuss ebenso wie für eine Ratsvorsitzende der EKD vor einer Synode oder den Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki. Eine Situation hingegen, in der Tag für Tag neue Vorwürfe auf den Tisch kommen, führt in aller Regel dazu, dass sich die kritisierte Person in immer mehr Widersprüche verstrickt, sich Wahrheiten zurechtbiegt und Situationen schönredet, damit sie in die eigene Erzählung passen. Am Ende steht dann unausweichlich der Rücktritt.
Dazu kommt, dass die Ratsvorsitzende Kurschus bei ihrer Wahl angekündigt hatte, die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der Kirche zur „Chefinnensache“ machen zu wollen. Doch die evangelische Kirche ist an dieser Stelle lange noch nicht so weit, wie es die Katholiken sind. Erst im Dezember wollen Kirche und Diakonie eine Erklärung zur Aufarbeitung des Missbrauchs mit der unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung, Kerstin Claus, unterzeichnen. Die katholische Kirche hat das schon lange getan.
Der Vorgang um Annette Kurschus könnte da der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt: Mittlerweile gibt es fast täglich Krisensitzungen des Rates der EKD. Es ist gut vorstellbar, dass ein Rücktritt von Annette Kurschus noch Thema werden könnte.