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Interview

NRW-Antisemitismusbeauftragte
„Verbrechen der Hamas dürfen nicht zur Seite geschoben werden“

Lesezeit 4 Minuten
Düsseldorf: Die Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Düsseldorf: Die Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

NRW-Antisemitismusbeauftragte Leutheusser-Schnarrenberger blickt mit Sorge auf die Entwicklung des vergangenen halben Jahres

Vor sechs Monaten ermordeten Hamas-Terroristen 1200 Menschen in Israel. Kurz darauf begann der Krieg im Gazastreifen, es folgte eine humanitäre Katastrophe. Im Gespräch mit Matthias Korfmann blickt die NRW-Antisemitismusbeauftragte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) auf die Ereignisse seit dem 7. Oktober 2023 – vor allem in Deutschland.

Frau Leutheusser-Schnarrenberger, im Oktober, kurz nach den Morden der Hamas an israelischen Zivilisten, befürchteten Sie im Interview mit unserer Redaktion, dass sich die Stimmung in Deutschland drehen könnte, wenn erst viele Bilder von der leidenden Zivilbevölkerung in Gaza zu sehen sind. Hat sich die Stimmung gedreht?

In den Monaten nach dem Hamas-Angriff war das so. Vor allem in manchen Kultureinrichtungen und Universitäten kippte die Stimmung, und das hat jüdische Studierende stark verunsichert. Ich hätte das nicht für möglich gehalten. Bei den so genannten Pro-Palästina-Demos beobachten wir eher eine Abschwächung. In den ersten Monaten nach dem 7. Oktober gab es sehr viele Demos in NRW, heute nicht mehr so viele. Die bundesweiten Verbote für Samidoun und für die Betätigung der Hamas haben auch in NRW gewirkt. Aber es gibt zum Beispiel in Münster Organisationen wie „Palästina Antikolonial“, die noch oft zum Protest aufrufen.

Warum sind Kultur und Wissenschaft anfällig für Antisemitismus?

Die Emotionalität beim Thema Israel und Gaza spielt hier eine Rolle, so dass es schwer ist, sachlich zu streiten. Natürlich soll es an Hochschulen ein breites Meinungsspektrum geben, aber keine Universität kommt an einer klaren Haltung zu Antisemitismus vorbei. Es ist falsch zu glauben, Neutralität sei die richtige Antwort. Und ja, nicht wenige Kultureinrichtungen sind anfällig für Judenfeindlichkeit. Da mag eine alte Einstellung aus linken Kreisen mitschwingen, sich mit Schwächeren zu solidarisieren und Antisemitismus in Kauf zu nehmen. Zum Teil haben es Jüdinnen und Juden heute schwer, von Kultureinrichtungen engagiert zu werden.

Sind die Bilder der Hamas-Opfer in Vergessenheit geraten?

Zum Teil ist das leider so. Die Bilder, die wir jetzt aus dem Gazastreifen sehen, berühren ebenfalls sehr, und sie müssen gezeigt werden. Die Verbrechen der Hamas dürfen aber nicht zur Seite geschoben werden. Am 7. Oktober wurden an einem Tag so viele Jüdinnen und Juden ermordet wie seit dem Holocaust nicht mehr. Das ist für jüdische Menschen in NRW schockierend. Für sie war Israel immer ein möglicher Zufluchtsort für den Fall, dass das Leben in Deutschland für sie nicht mehr sicher wäre. Dieser Rettungsanker wurde vor sechs Monaten beschädigt. Jüdische Menschen in NRW achten auch sehr darauf, wie sich Deutschland im UN-Sicherheitsrat verhält. In einer ersten Resolution im Winter wurde der Hamas-Terror nicht ausdrücklich als solcher benannt, und Deutschland enthielt sich. Das hat eine unglaubliche Wirkung in den jüdischen Gemeinden entfaltet. Das Entsetzen war groß.

Wir sind bestürzt wegen des Angriffs auf die Helfer von World Central Kitchen. Was macht das mit Ihnen?

Es ist entsetzlich. Israel hat das Recht zur Selbstverteidigung, und in einem Krieg kommt es leider oft vor, dass Zivilisten nach Fehleinschätzungen verletzt oder gar getötet werden. Krieg bedeutet immer fürchterliches Leid. Aber dieser Fehler, der Angriff auf Nothelfer, bewegt mich sehr. Dass diese Retter mit dem Essen, das die Menschen in Gaza dringend benötigen, zurückfahren müssen, zerreißt einem das Herz. Solche Ereignisse können eine antiisraelische Stimmung stark prägen.

Wie entwickelt sich die Zahl antisemitischer Straftaten in NRW?

Wir müssen für 2023 mit einem Höchststand an antisemitischen Straftaten in NRW ausgehen. Seit Oktober hat bei antisemitischen Straftaten der Tathintergrund „ausländische oder religiöse Ideologie“ so stark zugenommen wie noch nie. Dazu kam im vergangenen Jahr ein erschreckender Anstieg von antiisraelischen Straftaten wie das Verbrennen von Fahnen.

Darf man das importierten Antisemitismus nennen?

Das greift zu kurz. Die, die in NRW gegen Israel demonstrieren und Straftaten begehen, sind teilweise auch hier geboren. Es kommen zwar Menschen mit dieser Ideologie zu uns, aber Antisemitismus gab es hier immer schon.

Die Union im Bundestag fordert höhere Strafen bei Antisemitismus. Brauchen wir die?

Es reicht, wenn wir den heutigen Strafrahmen konsequent ausschöpfen. Es ist nach Paragraf 46 Strafgesetzbuch schon möglich, eine höhere Strafe zu verhängen, wenn eine Straftat antisemitisch motiviert ist. Es drohen sogar Strafen bis zu zehn Jahren. Wenn man den Strafrahmen erhöhen würde, würde das nicht abschreckender wirken. Abschreckung wird bewirkt, wenn Judenfeinde sehen, dass einer aus ihrem Umfeld zu einer Haftstrafe verurteilt wird.

Kann man Lehrkräfte beim Umgang mit Antisemitismus besser unterstützen?

Ich möchte, dass es an allen Schulen in NRW Meldeformulare gibt für antisemitische Vorfälle auch unterhalb der Schwelle Straftat. Das würde den Lehrkräften Sicherheit geben. Es gibt bisher keine standardisierte Erfassung solcher Taten an Schulen. Die Ministerien für Bildung und für Integration stimmen sich darüber ab, und ich wünsche mir, dass sie sich schnell einigen. Diese Formulare werden dringend gebraucht.