AboAbonnieren

Ende des „Gesetz 36“Warum der Migrationspakt mit dem Niger gescheitert ist

Lesezeit 5 Minuten
Menschen demonstrieren in Nigers Hauptstadt Niamey, um damit ihre Unterstützung für die Putschisten zu zeigen. Bei der Demonstration wurden Parolen gegen Frankreich gerufen und russische Fahnen getragen. +++ dpa-Bildfunk +++

Archivbild: Im August 2023 demonstrierten Menschen in Nigers Hauptstadt Niamey, um damit ihre Unterstützung für die Putschisten zu zeigen. Bei der Demonstration wurden Parolen gegen Frankreich gerufen und russische Fahnen getragen.

Der Niger war sieben Jahre lang Europas wichtigster Partner bei der Reduzierung illegaler Migration aus Afrika. Nun hat die Junta das entsprechende Gesetz aufgehoben. Beobachter sprechen von „dramatischen Folgen“ für die EU.

Im Oktober 2016 reiste Angela Merkel als erste deutsche Regierungschefin in den Niger. Dort lobte sie ausführlich, dass der Wüstenstaat, durch den bis dahin Hunderttausende Migranten in Richtung des kollabierten Nachbarlandes Libyen und dann Europa gezogen waren, die rechtlichen Grundlagen für den Kampf gegen Schleppernetzwerke geschaffen habe.

Schon immer ein fragwürdiges Konstrukt

Damals war im Niger das „Gesetz 36 zur Strafbarkeit von Schleusertätigkeiten und Menschenhandel“ gerade in Kraft getreten. Schleppern drohen seitdem bis zu 30 Jahren Haft, über 60 waren allein in den Monaten vor Merkels Besuch verhaftet worden. Rechtlich war das immer fragwürdig: Die Migranten wurden so schon Hunderte Kilometer vor der libyschen Grenze abgefangen, obwohl für sie innerhalb der Staaten der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas Bewegungsfreiheit gilt.

Doch derartige Einwände spielten in den zahlreichen Treffen hochrangiger europäischer und nigrischer Politiker keine Rolle. Der Wüstenstaat war zu einem der wichtigsten Partnerländer für Europa bei der Auslagerung der EU-Grenzen geworden. Seitdem flossen mehrere Milliarden Euro an den Niger. Die Zahl der durchreisenden Migranten und Flüchtlinge sank zunächst enorm, von 300.000 auf unter 50.000 jährlich. Eine erfolgreiche Geschäftsbeziehung. Aber auch eine wacklige. Ähnlich wie beim Migrationsabkommen mit der Türkei hat sich Europa abhängig und erpressbar gemacht.

Gute Nachrichten für alle, die nach dem 2015 verabschiedeten Gesetz ins Gefängnis mussten, weil der Transport von Migranten kriminalisiert wurde. Dieses Gesetz wurde aufgehoben! Die EU soll ruhig weiter rumgestikulieren!
Ibrahima Hamidou, der Sprecher des Ministerpräsidenten von Niger

Nun steht der für Europa angesichts der aktuellen Migrationskrise so wichtige Deal vor dem Aus. Denn am vergangenen Donnerstag, knapp vier Monate nach dem Putsch gegen die pro-westliche Regierung des Niger, unterzeichnete der Chef der Militärjunta General Abdourahmane Tchiani ein Dekret, mit dem das „Gesetz 36“ gegen Schleuser kurzerhand außer Kraft gesetzt wird. „Gute Nachrichten für alle, die nach dem 2015 verabschiedeten Gesetz ins Gefängnis mussten, weil der Transport von Migranten kriminalisiert wurde“, schrieb Ibrahima Hamidou, der Sprecher von Ministerpräsident Ali Lamine Zeine, am Samstag auf Facebook, „dieses Gesetz wurde aufgehoben! Die EU soll ruhig weiter rumgestikulieren!“

Die Entwicklung hatte sich seit einiger Zeit angedeutet. Bei einer Recherche dieser Zeitung im Oktober berichtete Ousmane Mamane, der Chef der im Niger federführende Regierungsagentur im Kampf gegen Schlepper (ANTLP), vom massiven Druck der Region Agadez – besonders durch das einflussreiche und eher Junta-kritische Tuareg-Volk, traditionell einer der Hauptakteure im Migrationsgewerbe. Agadez ist das „Tor zur Sahara“. Von hier starten die Flüchtlingsrouten über Libyen oder Algerien.

Schleuser-Stopp kostete auch Wirte und Kaufleute ihre Jobs

Wegen der EU-finanzierten Patrouillen verloren dort nach Angaben regionaler Medien 5000 Menschen ihre oft lukrativen Jobs. Darunter nicht nur die Drahtzieher und Fahrer, sondern auch Gastwirte und Ladenbesitzer. EU-Programme zur Schaffung alternativer Arbeitsplätze im Niger blieben hinter den hohen Erwartungen der lokalen Bevölkerung zurück.

Der Chef der Militärjunta Tchiani habe lokale Politiker in Agadez getroffen, sagte Mamane im Oktober. „Sie haben neben der Abschaffung des Gesetzes die Freilassung der inhaftierten Schlepper und die Rückgabe der beschlagnahmten Geländewagen gefordert.“

Mit Erfolg, wie sich nun herausstellt. Entsprechend wohlwollend äußert man sich in Agadez: „Wir begrüßen das im Namen unserer Bevölkerung“, sagte Mohamed Anacko, Präsident des Regionalrats von Agadez. Dieses Gesetz habe negative Auswirkungen auf das Leben der Menschen gehabt. Er beglückwünsche die Regierung zu ihrer Entscheidung.

Europas Zögerlichkeit öffnet Chancen für Russland

Ulf Laessing, der Leiter des Regionalprogrammes Sahel der Konrad-Adenauer-Stiftung, spricht von einem „Scherbenhaufen für die EU“. Europa habe auf Drängen Frankreichs keine Gespräche mit den neuen Machthabern im Niger geführt. „Deutschland, Italien und andere Länder waren besorgt, dass die Junta den Migrationspakt aufkündigen könnte und wollten daher mit der Junta ins Gespräch kommen“, sagte Laessing, „sie trauten sich aber nicht, sich über Frankreichs Bedenken hinwegzusetzen.“

Diese Uneinigkeit Europas werde dramatische Folgen haben. „Die Migration durch Niger nach Libyen wird jetzt wieder stark ansteigen“, sagte Laessing, „Russland bemüht sich ähnlich wie in Mali und Burkina Faso aktiv um die Gunst der neuen Machthaber und nutzt das Zögern Europas aus. Moskau dürfte die Junta darin bestärken, mehr Migration durch Niger Richtung Mittelmeerküste zuzulassen, um so Europa zu destabilisieren.“

Der geschürte Hass auf Frankreich und Europa fällt auf sehr fruchtbaren Boden in der Bevölkerung. Dies stärkt das Nationalbewusstsein und den Zusammenhalt der Nigrer im Inneren.
Goetz Heinicke, Westafrika-Repräsentant der Hanns-Seidel-Stiftung

Auch der Westafrika-Repräsentant der Hanns-Seidel-Stiftung, Goetz Heinicke, erkennt „einen erheblichen Rückschlag für die EU, den Flüchtlingsstrom aus Westafrika nach Europa zu kontrollieren und zu reduzieren“. Dieser Schritt solle auch die EU und westliche Länder unter Druck setzen, mit der Militärjunta in Niger zu kooperieren.

Heinicke betont die taktische Nutzung des gemeinsamen Feindbildes „Europa“ durch die Militärjunta, um von innerpolitischen Problemen abzulenken: „Der geschürte Hass auf Frankreich und Europa fällt auf sehr fruchtbaren Boden in der Bevölkerung. Dies stärkt das Nationalbewusstsein und den Zusammenhalt der Nigrer im Inneren.“ Der angedrohte Einmarsch von Ecowas-Truppen scheint vom Tisch, die Junta sucht aber innerhalb und außerhalb des Landes um Unterstützung für eine lange Übergangsphase zur Demokratie von mindestens drei Jahren.

Weniger Budget für Grenzschutz

Das Migrationssystem wackelt derweil bereits seit dem Putsch vor vier Monaten. Das jährliche Regierungsbudget des Niger wird nach dem Putsch wegen eingefrorener Budgethilfen, Sanktionen und anderer wirtschaftlicher Folgen von fünf auf drei Milliarden Euro sinken. Das hat Auswirkungen auf Gesundheit und Bildung – und den Grenzschutz.

Die Zahl der Reisenden durch den Niger in Richtung Libyen war nach den hohen Werten von 2016, als IOM-Angaben zufolge knapp 300.000 in Richtung Libyen zogen, zunächst deutlich gesunken: auf unter 50.000 jährlich. Doch schon im Jahr 2022, also noch vor dem Umsturz, scheinen die Patrouillen eingeschränkt worden zu sein: Da stieg die Zahl derReisenden in Richtung Libyen deutlich auf 109.000.

Ob sich die Zahlen wieder denen von 2016 annähern werden, bleibt abzuwarten. Im Moment sind die Grenzen des Niger zu einigen Nachbarländern wegen der Ecowas-Sanktionen geschlossen, was Migration zunächst noch erschwert.