Nach dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien ermahnt die Grüne Britta Haßelmann die CDU. Zwei Bedingungen müssten erfüllt sein, damit man über Rückführungen sprechen könne.
Britta Haßelmann (Grüne)„Ob es eine neue Lage gibt, beurteilen wir nicht wenige Tage nach dem Umsturz einer Diktatur“
Die grüne Co-Fraktionschefin im Bundestag, Britta Haßelmann, sieht ihre Partei im Aufwind. Im Interview erklärt sie, warum die Grünen sich am Montag bei der Vertrauensfrage von Olaf Scholz enthalten wollen – und warum sie eine Debatte über die Rückführung von Flüchtlingen nach Syrien für empathielos hält.
Frau Haßelmann, am Montag wollen sich die Grünen enthalten, wenn Olaf Scholz die Vertrauensfrage stellt. Vertrauen Sie ihm etwa auch nicht mehr?
Alle wollen Neuwahlen, auch der Kanzler. Wir stützen weiterhin die verbliebene Bundesregierung, aber wir senden mit unserer Enthaltung das Signal, dass wir den Weg für Neuwahlen freimachen.
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Würden Sie ihn nochmal zum Kanzler wählen?
Darüber mache ich mir gerade keine Gedanken. Die Karten werden am 23. Februar neu gemischt. Anders als CSU-Chef Markus Söder sage ich aber klar: Wir werden mit allen demokratischen Kräften sprechen. Alle Bürgerinnen und Bürger wissen doch, dass man sich nach der Wahl an einen Tisch setzt und redet. Ich bin dieser Selbstinszenierung aus München ziemlich überdrüssig.
Apropos Inszenierung: Grüne und CDU stellen am Dienstag beide ihre Wahlprogramme vor. War das abgesprochen?
Das war ganz sicher nicht abgesprochen. Alle sind wegen der vorgezogenen Wahl unter Zeitdruck – und inhaltlich unterscheiden wir uns deutlich. Von der CDU höre ich gerade sehr viel Rückwärtsgewandtes: Sie will maßgebliche Gesetze unserer Regierung rückabwickeln – vom Heizungsgesetz über das Staatsbürgerschaftsrecht bis zum Ausbau der Erneuerbaren Energien. Das bringt niemanden nach vorn und wird Bürger, Wirtschaft und Industrie eher verunsichern.
Die Union will auch die Wahlrechtsreform rückabwickeln: Hat sie da nicht einen Punkt, wenn sie für ungerecht hält, dass sie nicht mehr von allen ihren Direktmandaten profitiert?
Ich sehe den Punkt nicht. Wir haben eine Wahlrechtsreform beschlossen, die fair ist, die den Bundestag effektiv kleiner macht und alle Fraktionen im Bundestag gemäß ihres Ergebnisses berücksichtigt. Wir haben mit SPD und FDP vollbracht, was die Union in zwei Legislaturperioden nicht geschafft hat. Es war ein großer Schritt, dass Abgeordnete sich dafür entschieden haben, obwohl es bedeutet, dass auch sie selbst betroffen sein können und ihr Mandat verlieren. Das Bundesverfassungsgericht hält die Reform für verfassungskonform. Es gibt also keinen Grund, sie zurückzunehmen.
Wenn Ihre Gesetze alle so gut gewesen wären, hätten Sie vermutlich nicht bei der Europawahl und drei Landtagswahlen so viel Zuspruch verloren …
Natürlich haben wir Fehler gemacht und dennoch auch gute Gesetze verabschiedet. Bei uns Grünen gab es in den letzten Wochen viele Diskussionen darüber, wie wir Vertrauen zurückgewinnen können. Wir gehen mit den Menschen dafür ins Gespräch. Seit dem Bundesparteitag in Wiesbaden hat sich eine solche Aufbruchstimmung ausgebreitet. Wir haben in meinem Landesverband Nordrhein-Westfalen jetzt mehr als 30.000 Mitglieder. Das gab es noch nie.
Österreich setzt Asylverfahren für syrische Flüchtlinge aus und plant bereits Rückführungen. Muss Deutschland nachziehen, wenn der Fluchtgrund Assad-Regime nun entfallen ist?
Mich irritiert angesichts der schrecklichen Bilder aus den Foltergefängnissen des Assad-Regimes und generell angesichts der unsicheren Lage, dass einzelne Unionsabgeordnete wie Jens Spahn als erstes einfällt: Wer jetzt zurückgeht, kriegt 1000 Euro. Das ist empathielos und beschämend. Wo bleibt hier die Menschlichkeit?
Humanität und Ordnung geben auch die Grünen in der Migrationspolitik als Ziel aus. Was heißt das denn jetzt mit Blick auf die syrischen Flüchtlinge in Deutschland?
Wenn sich die Lage in Syrien etwas geklärt hat, werden vielleicht Menschen überlegen zurückzukehren. Aber viele haben inzwischen ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland, sind hier sehr gut integriert und sind deutsche Staatsbürger. Ob es eine neue Lage gibt, beurteilen wir nicht wenige Tage nach dem Umsturz einer Diktatur. Darüber kann erst entschieden werden, wenn klar ist, ob in Syrien Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte wieder gelten.
Robert Habeck will 1000 Euro Stromguthaben für E-Autos einführen, um die E-Mobilität in Gang zu bringen. Ist das ein geeigneter Vorschlag, um der angeschlagenen Autoindustrie zu helfen?
Das ist ein guter Vorschlag, zielgenau und effektiv. Wir müssen doch Antworten auf die Krise der Automobilindustrie geben und Arbeitsplätze sichern. Mit dem Strom-Guthaben können wir das Vertrauen in die E-Mobilität bei denjenigen festigen, die sich jetzt ein neues Auto kaufen wollen.
Die EVP-Fraktion will im EU-Parlament das Verbrenner-Aus 2035 stoppen …
Ich halte das für einen großen Fehler. Der Verbrenner hat keine Zukunftsperspektive, der globale Markt schrumpft rapide. Die Unternehmen können sich auch nicht alle paar Jahre auf neue politische Entscheidungen einstellen. In der aktuellen Krise von Ford und VW das Verbrenner-Aus zurückzunehmen, wäre nicht nur aus klimapolitischer Sicht ein Fehler, sondern auch aus unternehmerischer.
Wie wollen Sie Union und FDP noch davon überzeugen, zum Jahresbeginn Netzentgelte zu senken, das Kindergeld zu erhöhen und die kalte Progression auszugleichen?
Wir sind überzeugt, dass konkrete Entlastungen für die Bürger jetzt noch beschlossen werden sollten. Dafür werben wir. Immerhin gibt es mit der FDP eine erste Verständigung, die Union sollte sich ein Beispiel nehmen und sich auch bewegen. Es würde doch kein Mensch verstehen, wenn wir nicht Entlastungen für die Bürgerinnen und Bürger noch vor der Wahl hinkriegen. Alles, was wir in der nächsten Woche noch an Gesetzesvorhaben auf den Weg bringen, könnte in der letzten Sitzung im Januar abschließend entschieden werden.