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Autobauer in der KriseDas sind die zehn Gründe für den Niedergang von VW

Lesezeit 9 Minuten
Eine Flagge weht auf dem Gelände vom VW-Werk in Emden.

Eine Flagge weht auf dem Gelände vom VW-Werk in Emden.

Von Diesel-Gate bis E-Auto-Desaster: Das sind die zehn wichtigsten Gründe für die Krise beim größten europäischen Autobauer VW.

Volkswagen steckt tief in der Krise. Der Vorstand legt die Axt an, hat die Jobgarantie aufgekündigt und droht mit Werksschließungen. Gewerkschaften gehen auf die Barrikaden, die Politik reagiert hilflos. Aber was hat Europas größten Autobauer eigentlich in die Knie gezwungen? Die zehn wichtigsten Ursachen im Überblick:

1. Der Diesel-Skandal

Mehr als 1,2 Milliarden Euro Bußgelder in Deutschland, in den USA sogar mehr als 30 Milliarden – so viel hat Volkswagen der Abgasskandal bereits gekostet, seit der Betrug 2015 ans Licht kam. Geld, das für die Transformation im Konzern heute fehlt.

Zwickau: Güterzüge mit Neuwagen stehen vor dem Volkswagen Werk in Zwickau.

Zwickau: Güterzüge mit Neuwagen stehen vor dem Volkswagen Werk in Zwickau.

„Dieselgate“ war jedoch auch eine Initialzündung für einen grundlegenden Wandel: Der Druck war groß, mit dem „schmutzigen Antrieb“ auch das beschmutzte Image loszuwerden – auch wenn der Konzern bis heute mit Verbrennern gutes Geld verdient. Der Abgasskandal veränderte VWs Blick auf E-Technologie, der damalige Konzernchef Herbert Diess blies 2016 zum E-Angriff und gab ehrgeizige Ziele aus: Bis spätestens 2025 wolle man Weltmarktführer bei der E-Mobilität sein. Bis 2030 sollte mindestens 70 Prozent des Volkswagen-Absatzes in Europa reine Elektroautos sein, so lautete einmal der Plan des Konzernchefs, der mittlerweile durch Oliver Blume ersetzt wurde.#

„Elektro-Only“ im Volumensegment? Diess setzte alles auf die E-Karte, den Kunden wirklich überzeugen kann und konnte Volkswagen mit seinen Modellen bislang nicht.

2. Die Elektro-Falle

Autos mit Diesel- und Benzin-Motor sind bis heute ein unfassbar lukratives Geschäft, die Wagen lassen sich teils zum Doppelten des Produktionspreises verkaufen. Aber Verbrenner – das ist zurzeit etwas in den Hintergrund gerückt – stoßen CO₂ aus, das die Erderwärmung beschleunigt. Die EU hat sich CO2-Neutralität bis 2050 verschrieben, die schwarz-rote (!) Vorgängerregierung hat für Deutschland das Ziel 2045 gesetzlich festgelegt. Und weil keine E-Fuels in Sicht sind und Wasserstoff viel zu teuer bleiben dürfte, sollen E-Autos klimaschonende Mobilität ermöglichen.

, Emden: Das Unternehmens-Logo auf einem Gebäude des Volkswagen-Werks.

, Emden: Das Unternehmens-Logo auf einem Gebäude des Volkswagen-Werks.

Ex-VW-Boss Diess hat zwar 2016 die große Wende angekündigt (siehe oben), nachdem auch der VW-Betriebsrat lange bei der E-Mobilität auf der Bremse gestanden hatte. Doch jetzt schnappt die Elektrofalle über VW zu, und zwar aus ganz vielen Gründen: Batterie-Autos sind noch nicht so praktisch, so billig und so umweltfreundlich wie erhofft. Die ersten vollelektrischen VW waren hässliche Plastikschüsseln. Geld verdienen lässt sich damit nicht. Verbrenner-Lobbyisten schießen aus allen Rohren auf E-Autos. Die Politik subventioniert lieber weiter Diesel. Der Klimaschutz ist von der Agenda gerutscht. All das steckt hinter dem Einbruch der E-Mobilität.

Weil die Erderwärmung nicht von selbst stoppt, weil in China schon mehr E-Autos als Verbrenner verkauft werden und dort längst auf Masse produziert wird, ist eine Rolle rückwärts bei der E-Mobilität aber keine Option. Ohne bessere und billigere Strom-Autos wird VW nicht mehr aus der Krise kommen.

3. Die falschen Autos

Die Zeiten, in denen VW einen Kassenschlager nach dem anderen auf den Markt brachte, sind erstmal vorbei. Das zeigt sich am Beispiel des ID.Buzz: Von dem Elektro-Van, der die große Tradition des Bullis wiederbeleben sollte, wurden in Deutschland im ersten Halbjahr 2024 gerade mal 1776 Stück neu zugelassen. Zwar belegt VW bei der Gesamtzahl der Neuzulassungen sowohl bei Verbrennern als auch bei E-Autos Platz 1 in Deutschland – das beliebteste E-Modell ist aber kein Volkswagen, sondern der Tesla Y.

Der in Emden produzierte ID.4 steht auf dem VW Werksgelände.

Der in Emden produzierte ID.4 steht auf dem VW Werksgelände.

Zu den Problemen bei VW gehört auch, dass die Modelle der ID-Familie ab rund 37000 Euro aufwärts liegen, aber in puncto Reichweite und Software gegenüber der Konkurrenz nicht eben glänzen. Der reine „Made in Germany“-Preisaufschlag, der lange funktioniert habe, gelte heute nicht mehr, sagt etwa die Autoexpertin Helena Wisbert. Und günstigere Modelle lassen auf sich warten: Der ID.2 für 25000 Euro wird wohl erst 2026 erhältlich sein, ein 20000-Euro-Modell gar erst 2027. Der sowohl als Verbrenner als auch in seiner elektrischen Variante sehr beliebte Kleinwagen „Up“ wurde hingegen eingestellt, bevor ein Nachfolger da war. VW hat dieses Preissegment also sträflich vernachlässigt. Und auch die Marktlücke bei den E-Kombis, die lange kaum auf dem Markt zu finden waren; schließt VW erst seit diesem Jahr mit dem ID.7 Tourer.

4. Die Revolution der Produktion

Insbesondere Tesla treibt radikal neue Produktionstechnologien voran. Das „Unboxing“-Prinzip etwa soll die weitere Automatisierung von Produktionsschritten erleichtern, indem Autos gewissermaßen von innen nach außen hin konstruiert werden – Roboter können so Fahrzeug-Innenteile besser erreichen. Zudem könnten künftig durch die Technik des „Megacastings“ Großteile, etwa bei der Karosserie, buchstäblich aus einem Guss produziert werden und die Fertigung vieler Einzelteile obsolet machen. Branchenkenner sprechen von einer Revolution im Fahrzeugbau.

Zwar nutzt auch VW die Technik zum Teil bereits und hat für das Megacasting ein eigenes Kompetenzzentrum gegründet – ein breiter Einsatz der Technologie erfordert allerdings enorme Investitionen; und es ist fraglich, ob der Konzern die angesichts der anderen Herausforderungen auf absehbare Zeit stemmen kann. Zudem ist bei VW auch die neuentwickelte Produktionsplattform SSP, die Herstellungsprozesse bei E-Modellen weitgehend vereinheitlichen und damit deutlich effizienter machen soll, mehrfach verschoben worden und kommt frühestens 2028. Die Revolution in der Kfz-Fertigung dauert also noch ein Weilchen.

5. Gewerkschaften und Löhne

Wer einmal bei Volkswagen anfängt, habe einen sicheren Job – das galt lange als ungeschriebenes Gesetz. Die seit 1994 fortgeschriebene Beschäftigungsgarantie schloss betriebsbedingte Kündigungen aus. Und auch der Lohn kann sich sehen lassen: Im von Betriebsrat und IG Metall ausgehandelten Haustarif reicht die Gehaltsspanne von 3530 Euro (beispielsweise Werkssicherheit) bis gut 5900 Euro und mehr (Meister).

Im sogenannten Tarif Plus, Volkswagens höchste Tarifgruppe, in der Spezialisten und Führungskräfte eingruppiert sind, verdient ein Mitarbeiter in der niedrigsten Stufe mehr als 8000 Euro, in der höchsten sind es gut 9000 Euro – Boni kommen noch hinzu. Dieser Tarifvertrag gehört zu jenen, die Volkswagen gerade aufgekündigt hat.

Nicht nur bei den Tarifverhandlungen gelten Gewerkschaft – mehr als 90 Prozent der Beschäftigten sind eigenen Angaben zufolge Mitglied – und Betriebsrat in Wolfsburg seit jeher als stark. Oder wie es Gesamtbetriebsratschefin Daniela Cavallo jüngst auf einer Betriebsversammlung in Wolfsburg formulierte: Bislang habe der (VW)-Vorstand noch immer auf den Betriebsrat hören müssen. Das zeigt sich auch bei der Beschäftigungsgarantie. Aber: Was Beschäftigten die Sorge um den Arbeitsplatz nimmt, nimmt einem Konzern auch ein Stück Flexibilität, auf Krisen zu reagieren. Aber auch in anderen Bereichen mischt die Arbeitnehmervertretung mit: Es soll unter anderem Cavallo gewesen sein, die sich bei der anvisierten Kooperation mit Renault zur Produktion eines günstigen Stromers gegen die Produktion des Fahrzeugs außerhalb eines VW-Werks gestellt hat. Nun will VW das Auto in Rekordzeit alleine entwickeln. Dass ein 20000-Euro-Elektroauto indes in einem deutschen Werk produziert werden kann, nennt Auto-Expertin Wisbert „utopisch“.

6. Der Staat sitzt mit am Steuer

Was VW vor allem von den anderen Autobauern unterscheidet, ist vor allem der gesetzlich festgeschriebene starke Einfluss des Landes Niedersachsen. Zentrale Entscheidungen benötigen eine 80-Prozent-Mehrheit in der Hauptversammlung; Niedersachsen mit seinen 20,2 Prozent der Anteile kommt de facto ein Vetorecht zu. Und zentrale Entscheidungen über Werksschließungen, die der Konzern nun ja nicht mehr ausschließt, bedürfen einer Zweidrittelmehrheit im Aufsichtsrat – in dem die Arbeitnehmerseite sowie die beiden Vertreter der Landesregierung die Mehrheit stellen. Volkswagen kann mithin nicht gegen die Interessen der Landespolitik handeln.

Das 1960 verabschiedete VW-Gesetz wird seit Langem kritisiert. Die EU klagte zweimal dagegen, weil es den freien Kapitalfluss behindere und den Wettbewerb verzerre, konnte aber nur marginale Änderungen durchsetzen. Kritiker sehen das Gesetz als Hemmschuh für freie unternehmerische Entscheidungen, so forderte etwa der Auto-Experte Ferdinand Dudenhöffer unlängst im „Focus“, es komplett abzuschaffen.

Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hingegen sieht das Gesetz eher als Stabilitätsfaktor, weil die Landesbeteiligung dafür sorge, dass langfristige Entwicklungen statt „kurzfristiger Renditeentscheidungen“ im Vordergrund stünden.

7. Der Riesentanker

Volkswagen ist mit 676000 Mitarbeitern und mehr als 100 Werken auf der ganzen Welt nicht nur einer der größten privaten Arbeitgeber überhaupt, sondern auch Deutschlands größter Industriekonzern. Volkswagen ist aber auch viel mehr als VW. Von Audi über Lamborghini bis Skoda und Porsche reicht das Zehn-Marken-Imperium, über das Konzernchef Oliver Blume seit zwei Jahren herrscht. Ach ja, Blume ist übrigens auch noch Porsche-Chef.

VW feiert sich selbst als „Kernmarke“ von Volkswagen. Aber ob das Faulen des Kerns auch damit zu tun hat, dass ein Konstrukt drumherum gewuchert ist, das nicht wirklich zusammenpasst? Betriebsratschefin Daniela Cavallo selbst schimpft jedenfalls lauthals über Doppel- und Dreifachstrukturen und nicht gehobene Synergieeffekte, weil in vielen Marken vieles parallel ausprobiert wird. Hinzu kommt ein VW-hausinterner Bürokratie-Wildwuchs. Nicht nur „Autopapst“ Ferdinand Dudenhöffer hält Volkswagen deswegen für einen kaum noch zu steuernden Supertanker in stürmischer See.

8. Erloschene Kauflaune

Dass VW auf seinen Autos sitzen bleibt, liegt nicht nur am suboptimalen Angebot und an der abgewürgten E-Mobilität. Kaum war Corona überwunden, überfiel Putin die Ukraine. Krieg, Sanktionen, Gaslieferstopp: Die Energiepreise explodierten, die Inflation galoppierte davon. Auch wenn die Teuerungsrate wieder gesunken und auf dem Weg zu einem stabilen Niveau ist: Die Kauflaune ist nachhaltig eingebrochen, und das gilt gerade für teure Anschaffungen wie ein Auto.

Was die Kauflust auch enorm hemmt, ist die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Verunsicherung. Der Dauerstreit der Ampelregierung, die von der Opposition beschriebenen Untergangsszenarien sowie die globalen Krisen und Kriege erzeugen Zukunftsangst, statt Lust auf neue Autos zu machen.

9. Die Energiewende-Falle

Hohe Energiekosten treiben die Produktionskosten, das ist Gift für VW. Der Ausstieg aus der Atomkraft und der zugedrehte russische Gashahn machen die Energie in Deutschland auf absehbare Zeit teurer. Während Belgien die Laufzeit seiner AKW kürzlich verlängerte, um die Stahlindustrie damit zu versorgen, soll die deutsche Industrie gezwungen werden, flexibel zu produzieren: Volldampf bei viel Sonnen- und Windstrom, und die Bänder anhalten, wenn es dunkel ist und kein Wind weht.

Wenn in Deutschland genug Strom aus erneuerbaren Quellen erzeugt, verteilt oder gespeichert werden kann, dann könnte die Energiewende zum Standortvorteil für VW und die ganze deutsche Industrie werden – weil die Energiekosten dann sinken. Ob das alles schnell genug geht, das ist eine offene Frage.

10. Die Chinesen

Lange Zeit war der chinesische Markt ein Eldorado für deutsche Autobauer, die dort vor allem Mittel- und Oberklassewagen verkauften. Über Jahrzehnte war VW Marktführer, im vergangenen Jahr hat die E-Auto-Schmiede BYD die Wolfsburger überholt. Mittlerweile ist jeder zweite Neuwagen in China ein Elektro- oder Hybridfahrzeug, und in diesem Bereich haben VW und Co der heimischen Konkurrenz wenig entgegenzusetzen. Auf der anderen Seite drängen chinesische Hersteller mit günstigen, leistungsfähigen Autos auf den europäischen Markt.