Zwei Vielleserinnen geben RatWie schaffe ich es, endlich mehr Bücher zu lesen?
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Köln – In jedem Bücherregal gibt es die Ecke der ungelesenen Bücher, manchmal ist es auch ein Stapel auf dem Nachttisch. Bunte Buchrücken, deren Umschläge völlig knitterfrei und deren Seiten noch ohne Fettflecke sind. Texte, die uns mit auf eine Gedankenreise nehmen wollen, philosophisch, geografisch oder emotional und in die wir uns in einer idealen Welt stundenlang vertiefen könnten. Die wir uns endlich genüsslich vornehmen wollen, wenn wir den immer mal dahingeworfenen Vorsatz „mehr lesen“ in die Tat umsetzen. Aber wollen wir wirklich mehr lesen – oder einfach nur belesen wirken? Und warum machen wir es dann nicht einfach?
Immerhin ein Viertel der deutschen Leserinnen und Leser griffen letztes Jahr häufiger als sonst zum Buch. Und die anderen drei Viertel? Draußen tobt seit zwei Jahren eine Pandemie, zu Hause bleiben und lesen ist die einzig logische Schlussfolgerung, bis der Wahnsinn vorbei ist. Stattdessen kauft man nur mehr Bücher, redet über Bücher, die man gerne lesen würde und nickt zustimmend, wenn sich Menschen über Bücher unterhalten, in die wir ja auch ganz dringend immer schon einmal reinschauen wollten. Statt Vorfreude baut sich ein Druck auf, nur ein kurzes nervöses Flackern in der Magengegend, weil wieder etwas auf der endlosen Selbstoptimierungs-To-Do-Liste landet, auf der „Man sollte/müsste/könnte“-Liste im eigenen Kopf.
Das Buch erfordert unsere gesamte Aufmerksamkeit
Die Frage, warum wir nicht mit dem Lesen loslegen, ist einfach zu beantworten: keine Zeit. Die faulste Ausrede von allen. Wenn wir ehrlich sind, nehmen wir uns die Zeit nicht, weil es zu viele sehr gute Alternativen gibt. Sie heißen Whatsapp, Netflix, ARD-Mediathek, Sky, Instagram, Podcast, Hörbuch und haben alle einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem Buch. Man kann mehrere dieser Unterhaltungsmedien gleichzeitig konsumieren und nebenbei noch bügeln. „Wer zu lesen versteht, besitzt den Schlüssel zu großen Taten“, sagte Schriftsteller Aldous Huxley. Aber der Mann war mutmaßlich auch nicht Mitglied in 43 Whatsapp-Gruppen. Nur das Buch erfordert hundert Prozent unserer Aufmerksamkeit. Und passt irgendwie nicht mehr richtig in eine Zeit, in der auch das Freizeitvergnügen schnell und effektiv abgearbeitet wird. Eine sehr erfolgreiche App fasst die Inhalte eines Buches in einer Viertelstunde zusammen.
Warum wollen wir denn so unbedingt noch Bücher konsumieren, obwohl es die Inhalte längst anderswo gibt? Anruf bei einer, die schon von Berufswegen mehr Lesen wollen muss: Mona Ameziane. Die 28-Jährige moderiert eine Büchersendung beim Radiosender 1Live und ist seit kurzem selbst Bestseller-Autorin. In „Auf Basidis Dach“ erzählt sie von Marokko, der Heimat ihres Vaters. Amezianes Instagram-Kanal suggeriert: Diese Frau liest pausenlos und zwar stets bessere, aktuellere und klügere Bücher als man selbst. Was ist ihr Geheimnis? „Lesen ist mein Job. Ich lese, während andere Excel-Tabellen füllen“, sagt sie am Telefon, fast ein bisschen entschuldigend, aber natürlich auch sehr beruhigend für alle, die sich von ihr unter Druck gesetzt fühlen. Hat sie trotzdem Tipps?
„Niemand auf Instagram hat so viele Bücher gelesen“
Freizeitleser sollten sich eigentlich nicht mit einem Trainingsplan inklusive abgearbeiteter Mindestseitenzahl und gelesenen Büchern pro Monat zwingen müssen, findet Ameziane. „Ich habe immer das Mantra vertreten: Lesen ist kein Sport.“ Doch sie erkennt in ihrem Umfeld durchaus einen gesellschaftlichen Druck, der eben doch dazu führt, dass Menschen mit Apps ihre Lesezeit tracken. „Auf Social Media will man beim Lesen, wie auch in vielen anderen Lebensbereichen, mithalten. Das führt dazu, dass Menschen Tonnen von Büchern kaufen, die dann rumliegen, während draußen immer weiter neue Bücher erscheinen.“ Dabei könne man bei Büchern nie auf dem neusten Stand sein. Und sie räumt mit einem Mythos auf: „Niemand auf Instagram hat so viele Bücher gelesen, wie er vorgibt.“
Das Zitat könnte Pia Ciesielski, ebenfalls qua Beruf leidenschaftliche Vielleserin, groß ausgedruckt über das Bestseller-Regal im Buchladen Baudach in Dellbrück, in dem sie arbeitet, hängen. Wobei, sie müsste es leicht abändern: „Niemand hat so viele kluge Bücher gelesen, wie er vorgibt.“ Sie merkt sofort, wenn ein Buch auf allen medialen Kanälen besprochen wird. Dann steuern es die Kunden und Kundinnen zielsicher an und blättern es nickend durch. Sie haben davon gehört, muss man offensichtlich gelesen haben, lieber mal kaufen. „Hype-Bücher“ nennt Ciesielski diese Bestseller. „Bei manchen kann ich den Hype nachvollziehen, weil sie einen Nerv in unserer Gesellschaft treffen. Bei anderen bin ich überrascht.“
Viele schämen sich für ihre Buch-Wahl
Aber die meisten widersprechen dem Feuilleton nur ungern. Denn wenn kluge Menschen kluge Bücher klug nennen, bin ich dann nicht automatisch dumm, wenn sie mir nicht gefallen? „Niemand würde in intellektuellen Kreisen sagen, Goethe ist nicht so meins“, sagt Ciesielski und muss schon bei der Vorstellung kichern. „Das ist ein ungeschriebenes Gesetz unter Literaturaffinen.“ Das Buch ist trotz der riesigen medialen Konkurrenz auch heute noch ein Statussymbol, ein Kulturgut. Warum sonst sollten wir Bücher in Regalen im Wohnzimmer aufbewahren? Natürlich, damit unsere Gäste sie sehen – und seit der Gast selten geworden ist, eben die Arbeitskollegin in der Videokonferenz. Ob sie uns dann wirklich gefallen haben, ist schon fast nebensächlich.
Wer sich aber morgens damit brüstet, den ganzen Abend im Lesesessel neben dem ausgeschalteten Fernseher verbracht zu haben, liest trotzdem eher nicht die anspruchsvollen Klassiker, weiß die Buchhändlerin. „Einige schämen sich richtig, wenn sie zu einem leichten Schmöker greifen“, erzählt sie und meint Bücher, die andere ein bisschen verächtlich Trivialliteratur nennen. Eine Mutter im Krankenhaus oder andere private Katastrophen werden als Ausreden für den Kauf an der Kasse gemurmelt, erzählt sie. Und die Buchhändlerin weiß: Stimmt doch gar nicht. Das Buch habe ich doch heute schon fünf Mal verkauft.
Kaufen Sie keinen Schmuck für ihr Regal
Fazit: Wer glaubt, alle anderen sind klüger und belesener, irrt. Sich deshalb von einem Haufen Papier unter Druck setzen zu lassen, ist also Quatsch. Lesen Sie, worauf Sie Lust haben, statt immer mehr Schmuck für ihr Regal zu kaufen. Belügen Sie deshalb nicht ihre Buchhändlerin, sie durchschaut das offensichtlich. Lesen stimuliert das Gehirn und beruhigt den Herzschlag. Es verlängert sogar das Leben, zeigt eine amerikanische Studie der Yale Universität. Mag der Inhalt des Buchs auch noch so „trivial“ sein.
„Sich richtig von einer Geschichte unterhalten lassen und den Kopf frei kriegen, macht viel produktiver, als pflichtbewusst ein kompliziertes Buch aufzuschlagen“, sagt auch Mona Ameziane. Und möglicherweise stellt sich dann ganz heimlich etwas ein, das wir alle dringend nötig haben: Spaß und Entspannung. Wie bei jedem schönen Hobby.
6 Tipps, wie Sie nun endlich mehr lesen
Gucken Sie keine Geschichten mehr. Kündigen Sie ihr Netflix- und Amazon-Prime-Abo.
Planen Sie feste Zeiten ein. Die natürliche Langeweile, die Sie zum Buch greifen lässt, wird nie kommen.
Legen Sie ihr Handy ganz weit weg oder machen es aus. Es gibt auch Apps, die auf spielerische Art den Bildschirm sperren. Mona Ameziane empfiehlt „Forest“. Dort stirbt ein Baum, wenn Sie ihr Handy nicht in Ruhe lassen.
Lesen Sie mit anderen zusammen und reden Sie darüber. Der Austausch spornt enorm an.
Nehmen Sie immer ein Buch für Wartezeiten in der Bahn oder beim Arzt oder der Ärztin mit.
Hören Sie auf zu lesen, wenn Ihnen ein Buch nicht gefällt.