Millionen Menschen leiden an Long Covid. Was Expertinnen über Diagnose und Behandlung wissen. Und worauf Betroffene hoffen können.
Kölnerin hat seit einem Jahr Long Covid„Mir bleiben drei Stunden am Tag, an denen ich mich konzentrieren kann“
Drei Stunden. Das ist Marlenes Zeitfenster. Drei Stunden am Tag, die sie sich konzentrieren kann, auf genau eine Sache. „Danach gehen innerlich die Rollläden runter“, sagt sie. Worauf Marlene sich konzentriert, entscheidet sie immer wieder neu. Auf die wenigen Aufträge aus ihrem Beruf in der Kunstbranche zum Beispiel, die sie noch bewältigen kann – denn den Job gänzlich aufzugeben, „das wäre doch wie eine Kapitulation“, findet die 46-Jährige.
Long-Covid: Alles ist anstrengend
Auf die Familie, vor allem auf die dreizehnjährige Tochter, die ihre Mutter doch gerade jetzt braucht, als angehende Erwachsene. Auf ein Buch oder auf eine Serie, um wenigstens ein wenig Ablenkung zu finden. Oder eben auf dieses Interview, das sie dieser Zeitung gibt. Via Video-Call, weil das für sie nicht so anstrengend sei, sagt Marlene. Sie heißt eigentlich anders. Während sie erzählt, lacht sie manchmal leise, als könne sie selbst nicht glauben, was aus ihrem Leben geworden ist. Dann ist sie wieder den Tränen nahe, aus Trauer, aus Zorn, aus Hilflosigkeit.
Marlene hat Long Covid, genau genommen „Post Covid“. So bezeichnet es die WHO, wenn die Beschwerden nach der Corona-Infektion auch nach zwölf Wochen entweder noch vorhanden sind, neu oder erneut auftreten und anderweitig nicht erklärt werden können. Long Covid ist der Oberbegriff für alle Corona-Langzeitbeschwerden, weswegen er in diesem Text durchgängig verwendet wird.
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Marlenes Beschwerden gehen jetzt seit fast einem Jahr nicht weg: Atemnot, Herzrasen, Konzentrationsschwierigkeiten, Reizhusten, dazu eine bleierne Erschöpfung. „Früher war ich berufsbedingt viel auf Reisen, ich war abends auf Ausstellungen, auf Fachtagungen, am Wochenende habe ich etwas mit meiner Familie unternommen“, erzählt Marlene. Heute sitzt sie manchmal nur da und schaut vor sich hin. Oder sie schläft. Das Haus verlässt Marlene höchstens für einen Arztbesuch.
Wie viele Menschen wirklich betroffen sind? Unklar!
Sie ist damit eine von Millionen Menschen, die mit den Spätfolgen ihrer Corona-Infektion kämpfen. Wie hoch die Anzahl der Betroffenen wirklich ist, weiß niemand genau, zu widersprüchlich ist die Studienlage. Von schätzungsweise 36 Millionen in der Europäischen Union spricht die WHO. Rund 65 Millionen Betroffene weltweit meldete dieses Jahr eine Meta-Studie, die in dem Forschungsmagazin „Nature Reviews Microbiology“ erschienen ist. In Deutschland gehen Untersuchungen bislang davon aus, dass zwischen sechs und 15 Prozent der Corona-Erkrankten eine Form von Long Covid entwickeln, Frauen häufiger als Männer. Wer mit Experten spricht, merkt schnell, dass sie solche Annahmen entweder für über- oder für unterschätzt halten. Was jetzt schon absehbar ist: Die Auswirkungen dieser Langzeitfolgen betreffen die gesamte Gesellschaft. Eine Brookings-Studie schätzt den Lohnausfall wegen Arbeitsunfähigkeit durch Long Covid für die USA auf mindestens 170 Milliarden Dollar pro Jahr.
„Es lässt sich noch nicht sicher sagen, wie viele Menschen von Long Covid betroffen sind“, heißt es auch auf der Webseite der „BMG-Initiative Long Covid“. Ein kürzlich gestartetes Projekt, das auf Geheiß des Bundesgesundheitsministeriums über den Wissensstand zu dem Krankheitsbild informieren will. Dabei ist das Wissen über Long Covid immer noch eher vage. Und das ist eine der größten Hürden für Menschen wie Marlene. Sie folgte auf Instagram Long-Covid-Betroffenen und las Zeitungsartikel zum Thema. „Aber selbst bin ich anfangs gar nicht auf die Idee gekommen, dass ich so etwas haben könnte“, sagt sie. „Ich dachte immer nur: Irgendetwas stimmt nicht, als wäre ich nicht mehr ich selbst.“
Das hatte auch mit der Reaktion ihrer Ärzte zu tun. Als im Oktober letzten Jahres ihr Corona-Test endlich wieder negativ war, wollte Marlene die Virus-Erkrankung abhaken. Doch die Atemnot blieb. Die Hausärztin diagnostizierte eine Verstärkung ihrer Asthma-Erkrankung und verschrieb eine höhere Dosis Kortison, erzählt Marlene. Gebracht habe das wenig. Als sie keine Treppen mehr steigen und kein Fahrrad mehr fahren konnte, vermutete ihr Lungenfacharzt eine Lungenembolie. „Ein CT hat trotzdem niemand gemacht“, erinnert sich die Kölnerin. Trotz der Beschwerden arbeitete Marlene weiter. Dann brach sie zusammen, nichts ging mehr. Es war ihr erster Crash. Es folgten weitere. Bis sie schließlich eine Reha beantragte. „Dass ich so schnell einen Platz bekommen habe, hat mit meiner Vorerkrankung, dem Asthma, zu tun“, sagt Marlene. Sie kennt andere, die monatelang warten mussten.
Die Liste der möglichen Symptome ist lang, der Forschungsbedarf hoch
Marlene landete binnen weniger Wochen in einer Fachklinik für Lungenerkrankungen. Dort brauchten die Ärzte nicht einmal einen Tag, so erzählt es Marlene, um ihre Symptome – die hohen Entzündungswerte im Blut, das schlechte EKG – mit der vorangegangenen Corona-Infektion in Zusammenhang zu bringen. Marlene wurde in ein Reha-Programm für Betroffene von Long Covid aufgenommen. „Plötzlich hat alles Sinn ergeben, ich war auf eine gewisse Weise unendlich dankbar“, sagt sie heute.
Solche Angebote gibt es auch in Köln, zum Beispiel im „Neurologischen Therapiecentrum“ und in der „Klinik für Neurologische und Fachübergreifende Frührehabilitation“ am St. Marien-Hospital. Schon als die Pandemie ausbrach, sagte Chefärztin Pantea Pape: „Wir dürfen nicht nur auf die Akutbehandlung schauen, wir müssen auch die Nachsorge ins Auge fassen.“ So berichtet es die Neurologin heute, drei Jahre später, in ihrem hellen Büro im Kunibertsviertel. Pape fühlte sich in diesem Verdacht bestätigt, als immer mehr Menschen nach einer Corona-Infektion bei ihr landeten, die in ihren Alltagsfunktionen erheblich beeinträchtigt waren: Sprachstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, motorische Ausfälle, manche waren Wochen nach der Infektion noch bettlägerig. Postvirale Symptome, die auch früher schon nach anderen Infektionen aufgetreten sind, sagt Pape, wie mit dem Epstein-Barr-Virus. Pape las Studien und richtete eine Long-Covid-Sprechstunde ein, um mehr über dieses Leiden zu erfahren, das nun zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit rückte. Bis heute ist unklar, warum die einen ihre Corona-Infektion ohne Einschränkungen überstehen und die anderen das Bett nicht mehr verlassen können. „Es gibt bislang zwar viele Hypothesen, aber keine zugelassene Behandlungsmethode und keine Medikamente“, sagt Pape. „Also haben wir anhand dieser Hypothesen Behandlungskonzepte entwickelt, die den Betroffenen helfen sollen, ihre Symptome besser zu kontrollieren.“
Und die Liste dieser möglichen Symptome ist lang, sagt Pape, auch wenn die Forschung dazu noch am Anfang steht. Sie reichen von Haarausfall über Konzentrationsstörungen und diffuse Schmerzen bis hin zu Lähmungen. Long Covid kann fast alle Organe des Menschen betreffen, die Erkrankung beeinträchtigt das Herz-Kreislauf- und auch das Nervensystem. Als Ursache werden derzeit Autoimmunprozesse, chronische Entzündungen und auch kleinste Gerinnsel diskutiert. „Manches kennen wir schon länger von dem Chronischen Fatigue-Syndrom, auch ME/CFS genannt“, sagt Pape. Auch die Post-Exertionelle Malaise spiele im Zusammenhang mit der Behandlung von Long Covid eine große Rolle. Die wiederum löst die schon erwähnten Zusammenbrüche, sogenannte Crashes, aus. „Manche Betroffenen kommen auch einfach nur zu mir in die Sprechstunde und sagen: Seit meiner Infektion bin ich irgendwie verändert, ich kann den einfachsten Tätigkeiten nicht mehr nachgehen, bitte helfen Sie mir!“, berichtet die Ärztin.
Die Behandlung von Long Covid kann individuell sehr unterschiedlich ausfallen
Pape kann dann helfen, wenn die Deutsche Rentenversicherung oder andere Träger wie zum Beispiel die gesetzliche oder private Krankenversicherung die Kosten der Rehabilitationsmaßnahme genehmigt haben. Dann erstellen die Fachärztin für Rehabilitation und ihr interdisziplinäres Team eine genaue Liste der Beschwerden und planen die Maßnahmen. „Unser Ziel besteht darin, den Betroffenen wieder mehr Teilhabe in unterschiedlichen Lebensbereichen zu ermöglichen“, sagt Pape. Auch das hat sie inzwischen gelernt: Die Behandlung der Long-Covid-Symptome kann individuell sehr unterschiedlich ausfallen. Den einen hilft Mobilisierung und leichte körperliche Aktivität, andere wiederum versuchen mit der sogenannten Pacing-Methode ihre Aktivitäten zu dokumentieren, um zu verstehen, welche Belastungen zu ihren Zusammenbrüchen führen. So können sie mit ihren Kräften besser haushalten. Wieder andere machen Konzentrationsübungen am PC oder bekommen Massagen.
Die Ungewissheit über das Krankheitsbild Long Covid bringt die Betroffenen in eine paradoxe Lage: Sie sind häufig zu erschöpft, um alltäglichen Aufgaben nachzugehen, müssen sich aber gleichzeitig durch Recherchen und den Informationsaustausch mit anderen Betroffenen selbst darum kümmern, die neuesten Informationen über ihr Krankheitsbild zusammenzutragen. „Ich hatte zwischenzeitlich den Eindruck, dass ich selbst zur Long-Covid-Expertin werden musste“, sagt auch Marlene. Das Thema bekommt zwar von Politikerinnen und Politikern und auch von Medien große Aufmerksamkeit, aber es mangelt letztlich an Anlaufstellen. Selbsthilfegruppen sind voll, Long-Covid-Ambulanzen haben Wartezeiten von bis zu einem Jahr oder nehmen gar keine Patienten mehr auf. Dazu immer wieder neue, meist widersprüchliche Informationen über Behandlungsansätze wie die H.E.L.P.-Apherese, umgangssprachlich „Blutwäsche“, oder die hyperbare Sauerstofftherapie, deren Wirksamkeit noch nicht ausreichend untersucht worden ist und deren Einsatz von Fachleuten deswegen kontrovers diskutiert wird.
Als „Hoffnungsträger“ wird auch das Medikament mit dem Molekül BC 007 des Berliner Biotechnologieunternehmens „Berlin Cures“ gehandelt. Es soll krankmachende Autoantikörper blockieren, die zumindest bei einem Teil der Long-Covid-Betroffenen festgestellt wurden. Diese Antikörper könnten zum Beispiel für das Chronische Fatigue-Syndrom mitverantwortlich sein. Gerade ist eine Phase-II-Studie gestartet, die die Wirksamkeit des Medikaments erproben will. An der Studie ist neben der Berliner Charité unter anderem die Uniklinik Köln beteiligt.
Nicht alle leiden an einem Postviralen Syndrom, auch wenn die Symptome ähnlich sein können
„Wir haben immer noch keine Biomarker für Long Covid, das macht die Diagnose und die Behandlung so schwierig“, sagt die Infektiologin Clara Lehmann von der Uniklinik. Lehmann zählt zu den Menschen in Deutschland, die diesen Biomarkern auf der Spur sind, die versuchen, nicht nur das Coronavirus, sondern auch seine Langzeitfolgen besser zu verstehen. „Es gibt immer noch Fachleute, die behaupten, Long Covid wäre eine rein psychosomatische Erkrankung. Aber ich kann die Veränderungen im Körper dieser Menschen ja im Labor sehen“, sagt Lehmann. Zum Beispiel, dass bestimmte dendritische Zellen erhöht und vor allem im Darm präsenter sind. Oder dass bestimmte T-Zellen aktiver sind als bei den Menschen, die keine Langzeitfolgen ihrer Infektion haben. Beide sind, vereinfacht gesagt, wichtige Bestandteile des körpereigenen Überwachungssystems. Solchen Beobachtungen müsse die Forschung nun intensiv nachgehen, findet Lehmann. Nur fehlten dafür die Mittel. Gesundheitsminister Lauterbach hatte Anfang des Jahres noch 100 Millionen Euro für Long-Covid-Maßnahmen versprochen. Übriggeblieben sind nach Haushaltsverhandlungen etwa 40 Millionen für die versorgungsnahe Forschung. „Ich bin darüber recht verstimmt“, sagt Lehmann, „weil wir immer noch alles aus unseren Bordmitteln stemmen müssen.“ Forschungsanträge schreibt die Ärztin in ihre Freizeit. Gesundheitsminister Lauterbach hat nach dem Runden Tisch zu Long Covid zumindest angekündigt, er wolle die weiteren 60 Millionen auch noch gewinnen.
Gleichzeitig brauche es einen differenzierteren Blick auf Long Covid, fügt Lehmann hinzu: „Auch wenn das Betroffene nicht gerne hören – nicht alle leiden an einem Postviralen Syndrom, ihre Symptome sind also nicht immer die direkte Folge der Viruserkrankung, auch wenn sie den Long-Covid-Symptomen sehr ähnlich sind.“ Die Ursachen seien auch andere, eine psychoreaktive Störung etwa, die dann zum Beispiel zu einer Depression geführt hätte, fügt die Leitende Ärztin hinzu. Es gehe ihr keineswegs darum, das Leiden der Einzelnen zu leugnen, sondern genau hinzuschauen – um dann die richtige Behandlungsmethode zu finden. „Manche brauchen eher eine Psychotherapie als ein Medikament wie BC 007“, sagt die Ärztin.
Lehmann und weitere Kolleginnen und Kollegen der Uniklinik Köln und des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung haben zusammen mit der Klinik Favoriten aus Wien gerade ein Forschungspapier veröffentlicht, das sich unter anderem mit der Genesung von Long-Covid-Betroffenen befasst. Mit dem Ergebnis, dass es dem überwiegenden Teil nach zehn bis 15 Monaten wieder besser gehe, sagt Lehmann. Das sind gute Nachrichten, denn die drohende Chronifizierung der Erkrankung zählt zu der größten Sorge der Betroffenen. Lehmann sagt: „Wir gehen inzwischen davon aus, dass das bei den wenigsten passieren wird.“ Das klingt nach Hoffnung, oder?
„Hoffnung ist für mich nach einem Jahr mit Long Covid ein sehr schwieriges Wort geworden“, sagt Marlene. „Ich wünsche mir deswegen vor allem Akzeptanz, eine Gesellschaft, die mein, die unser Leiden ernst nimmt, weiter forscht, um eine Behandlung zu finden.“ Bis dahin versucht Marlene in kleinen Schritten ihren Radius zumindest zu erweitern. Vielleicht sogar irgendwann mal wieder auf eine Ausstellung zu gehen. Mit Long Covid zu leben.