Begabte KinderWie fördert man Kinder mit Talenten, ohne sie zu überfordern?
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Köln – Wir alle haben Talente. Ob Fahrradfahren, zuhören, witzig sein oder Häkeldeckchen häkeln: Jeder von uns ist in irgendetwas gut. Manche so sehr, dass sie sich professionell fördern lassen – von Lehrern oder Trainern zum Beispiel. Dabei sollte man immer behutsam vorgehen. Denn natürlich ist es gut, die eigenen Fähigkeiten mit Hilfe von anderen Menschen zu stärken.
Wann wird ein Talent vom Segen zum Fluch?
Aber je nachdem, wie man’s macht, kann dabei auch etwas schief gehen: Man kann sich zu sehr in sein Talent hineinsteigern, seine Freunde oder die Freizeit vergessen, nur noch für den Wettbewerb leben. Das kann unglücklich machen. Gerade bei Kindern, die aufgrund ihres jungen Alters nicht im vollen Umfang reflektieren, besteht dieses Risiko. Hier tragen Erwachsene die Verantwortung dafür, ein Kind bei all seiner Begabung nicht zu überfordern.
Wir wollten wissen: Wie fördert man junge Menschen mit Talenten richtig und wie sieht Talentförderung aus, wenn sie funktioniert? Um das herauszufinden, haben wir uns mit drei ganz unterschiedlichen Kindern getroffen. Eins spielt Geige, eins springt von Türmen in tiefe Wasserbecken, eins steht vor Fernsehkameras. Was wir bei allen drei Kindern toll fanden: Dass sie neben ihrer Leidenschaft auch noch andere Dinge lieben.
Jeder sollte selbst entscheiden dürfen – auch Kinder
Das nämlich ist es, was eine ausgewogene Förderung ausmacht – dass sie auch Platz lässt für andere Erfahrungen. Wer viel kann, der muss auch mal scheitern, um ein Gefühl zu entwickeln für Niederlagen. Wer immer nur gelobt wird, der muss sich auch mal richtig streiten, um nicht nur klug, sondern auch mutig zu werden. Und wer immer nur auf Achse ist, der muss auch mal Langeweile haben – um zu merken, wie gut es tun kann, einfach mal nichts zu tun.
Unseren drei Kindern und den Erwachsenen um sie herum ist das bewusst. Deswegen haben wir sie für unsere Geschichte ausgewählt. Alle, die Talente in sich spüren, und alle, die Talente fördern, dürfen sich an ihnen ein Beispiel nehmen; wissen: Jeder sollte immer für sich selbst entscheiden können. Und nicht leben, wie andere es gern hätten.
Lesen Sie im folgenden Teil die große Reportage über drei besonders talentierte Kinder.
Segen ohne Fluch
Aufrecht steht Marlene im Musikzimmer, die Augen weit geöffnet, ganz konzentriert. Ihr Blick wandert über die Noten, im Kopf zählt sie die Vortakte mit, die ihre Mutter auf dem Klavier spielt. Sie legt die Geige an und spielt los. „Chanson de Matin“. Sie mag das Stück, weil es so viele Lagenwechsel hat. Elegant lässt sie den Bogen über das Instrument gleiten, blitzschnell greifen ihre Finger die Saiten. Vor kurzem hat Marlene den Konrad-Adenauer-Wettbewerb für talentierte Nachwuchsmusiker an der Rheinischen Musikschule gewonnen.
„Am Anfang wollte ich gar nicht bei Wettbewerben mitmachen. Aber als ich dann gewonnen habe, war es doch ganz schön“, sagt das 10 Jahre alte Mädchen und lächelt dabei etwas verlegen, fast so als sei der Erfolg ihr unangenehm. Marlene Palmen ist gut, sehr gut. Sie hat Talent und dieses Talent wird gefördert. Mit vier Jahren hatte sie zum ersten Mal Unterricht. „Die Mama hat mich damals gefragt, ob ich auch mal Geige spielen will.“ Sie wollte.
Die Geige hat Tradition
Nun ist die Violine kein unbekanntes Instrument in der Familie Palmen. Marlenes Vater ist erster Geiger im Kölner Gürzenich-Orchester, auch ihr Großvater war Orchesterleiter, sogar der Urgroßvater war Geiger. Schon als Kleinkind durfte Marlene bei den Proben zuhören, besonders beeindruckend waren die Konzerte des Vaters. Klar, dass sie das auch lernen wollte. „Durch das Geige spielen gehöre ich zu den anderen in der Familie“, sagt sie.
Wenn sie 13 oder 14 ist, möchte sie es gerne in das Jugendsinfonieorchester der Musikschule schaffen. Dafür übt sie fleißig. Im Schnitt eine Dreiviertelstunde am Tag, dazu kommen eine Stunde Unterricht und eine Stunde Quartett-Probe pro Woche. Viel Zeit, die da drauf geht. Zu viel?
Viele Eltern, deren Kinder ein zeitintensives Hobby pflegen, stehen früher oder später vor der Aufgabe, einen Mittelweg zwischen Disziplin und Fürsorge zu finden. Wie weit darf die Unterstützung gehen und wo muss das Kind eventuell auch vor Stress und übermäßigem Druck geschützt werden? Bestimmt ist es völlig okay, wenn das Kind mal keine Lust aufs Üben hat. Aber ist es auch zwei- oder dreimal okay? So ein Hobby kostet schließlich auch Geld. Sollen Eltern ihre Kinder in diesem Fall ans Instrument oder zum Trainieren drängen oder lieber nicht?
Marlenes Eltern müssen ihre Tochter bislang nicht so häufig zum Geigen überreden. „Das Üben gehört bei uns zum normalen Tagesablauf, das ist genauso selbstverständlich wie Zähneputzen“, sagt Marlenes Mutter. Annegret Palmen-Lamotke ist Musiklehrerin und weiß um den schmalen Grat zwischen Förderung und Überforderung.
Auch andere Hobbys pflegen
Gerade weil sie und ihr Mann selbst im musikalischen Bereich tätig sind, haben sie schon früh das Talent ihrer Tochter erkannt, wie schnell sie Techniken lernt und wie leicht ihr der Umgang mit der Violine fällt. Dennoch komme man mit einer laschen Proben-Moral von 10 oder 15 Minuten am Tag nun mal nicht wesentlich weiter, sagt Frau Palmen-Lamotke. „Auf der anderen Seite ist es natürlich wichtig, dass die Kinder auch noch andere Hobbys pflegen dürfen.“ Das macht Marlene auch. Sie geht zum Jazz-Dance und macht Leichtathletik, donnerstags ist Freunde-Tag.
Das Engagement der Eltern ist ein wesentlicher Faktor für den Erfolg von jungen Musiktalenten, weiß auch Marlenes Geigenlehrerin Annette Wehnert. „Förderung bedeutet nicht nur, den Unterricht zu bezahlen, sondern auch, sich Zeit zu nehmen, gemeinsam zu üben und hinter dem Kind und seinem Instrument zu stehen.“ Auch sie erkennt das Potenzial der Geigenschülerin und es juckt ihr in den Fingern, es auszuschöpfen. Marlene kann es weit bringen, sagt sie.
Trainer haben oft eine gewichtige Stimme im Hinblick auf die Talentprognose junger Menschen. Sie beurteilen aus ihrem Erfahrungsschatz heraus, ob ein Kind die nötigen Anlagen mitbringt, um später mal erfolgreich sein zu können, und entscheiden damit über die Karriere oder eben auch das Karriereende eines Kindes.
Lesen Sie im Folgenden die Geschichte von Turmspringerin Lina Mingers.
Der Körper muss geschont werden
Auch Otto-Eberhard Klinger hat das Talent seiner Schülerin früh erkannt. Spätestens als sie vor zwei Jahren beim Wettkampf in Las Palmas den zweieinhalbfachen Auerbach gesprungen ist, da habe er gedacht: „Mensch, die kann was. Die hat Kraft, eine passende Figur und ein gutes Gefühl für ihren Körper. Da kann man was draus machen.“ Lina Mingers ist 12 Jahre alt, kommt aus Aachen und zählt zu den vielversprechendsten Nachwuchs-Turmspringerinnen in Deutschland.
2014 und 2015 ist sie Deutsche Jugendmeisterin geworden, 2012 und 2013 hätte sie eigentlich auch schon gewonnen. Allerdings war sie damals noch zu jung für den Wettbewerb, so dass ihre Sprünge nicht gewertet werden durften. Ihr großes Ziel? Die Olympischen Spiele 2020 in Tokio.
Mit fünf Jahren war sie das erste Mal in der Ulla-Klinger-Halle, der Turmspringer-Halle in Aachen. Damals hat ihre Mutter noch versucht, sie unauffällig am Sprungbecken vorbeizuziehen – wohl ahnend, welche Anziehungskraft die Türme auf ihre Tochter ausüben würden. Schließlich war sie selbst früher mal Turmspringerin und wusste um die physischen Risiken, die der Leistungssport mit sich bringt. Und tatsächlich: „Als ich das erste Mal die Springer gesehen habe, wusste ich sofort, dass ich das auch machen will.“ Lina strahlt, wenn sie davon erzählt.
Seitdem klettert sie mutig auf die Sprungtürme und stürzt sich wieder in die Tiefe. Drei Meter, sieben Meter, zehn Meter – dutzende Male am Tag. Kurz vor dem Sprung schließt sie die Augen, konzentriert sich ganz auf ihren Körper und geht im Kopf die Figur noch mal durch. Dann springt sie ab und rauscht binnen einer Sekunde mit einem doppelten Salto, einer Drehung oder einer Schraube gen Wasseroberfläche.
„Schule geht vor“
Fünfmal in der Woche trainiert sie das, jeweils zwischen zwei und drei Stunden am Tag. Viel Zeit für andere Hobbys bleibt da nicht, meistens hängt sie vor oder nach dem Training noch ein bisschen mit ihren Freunden ab. „Aber Schule geht vor“, sagt Lina bestimmt. „Wenn ich am nächsten Tag eine Mathearbeit schreibe oder so, dann verschiebe ich das Training.“
Dass das so einfach geht, verdankt sie allein ihrem Trainer Herrn Klinger. Lina ist die einzige Schülerin des 84 Jahre alten Seniors, er hat Zeit, wenn sie Zeit hat. Seit den Fünfzigern trainiert er Turmspringer, fast alle deutschen Top-Springer aus Westdeutschland sind durch seine Schule gegangen. „Das Springen ist wunderbar, es macht einen irren Spaß, das möchte ich den jungen Sportlern ermöglichen“, sagt er. Aber Klinger weiß auch um die Risiken des Leistungssports: „Ein Turmspringer kracht mehrmals am Tag mit einer Geschwindigkeit von etwa 50 Stundenkilometern auf die Wasseroberfläche, das ist eine enorme Belastung, besonders für die Handgelenke. Pausen sind lebenswichtig, der Körper hat Grenzen und die müssen geachtet werden.“
Lina vertraut ihrem Trainer. Auch ihre Mutter vertraut ihm. Ob sie ihren Traum auf die Tochter projiziert? „Absolut nicht. Ich habe meinen Sport schon gelebt, jetzt ist Lina dran. Sie darf entscheiden, womit sie ihre Freizeit verbringen will. Und wenn sie irgendwann nicht mehr Turmspringen will, dann ist das völlig okay für mich.“
Turmspringen ist ein ästhetischer Sport. Es geht um Körperspannung, Haltung und Technik. Was aber, wenn nicht der Sport, sondern die Ästhetik für ein Kind in den Mittelpunkt rückt? Wenn es darum geht, gut auszusehen und sich darzustellen?
Lesen Sie im Folgenden die Geschichte von Jungschauspieler und Model Paul Bohse.
Du kannst was!
Sich selbst im Fernsehen zu sehen, das ist gleichzeitig aufregend und schön, findet Paul Bohse aus Müngersdorf. „Ich liebe es, mich vor der Kamera zu bewegen“, sagt er. Heute ist er neun Jahre alt und geht in die dritte Klasse, sein erster echter Auftrag liegt aber schon Jahre zurück: Mit vier Jahren begann er, professionell zu modeln – und später auch zu schauspielern.
„Ich habe dadurch schon tolle Leute kennengelernt“, sagt Paul – und Mutter Petra Bohse nickt zustimmend, während sie durch den Ordner mit Fotos blättert, die Paul in Aktion zeigen. Mal trägt er die blonden Haare kurz, mal länger. Mal steht er mit verschränkten Armen im Bild, mal trägt er ein Karnevalskostüm oder Shorts und T-Shirts bekannter Modefirmen.
Paul hat schon unzählige Castings für Kampagnen und Filme hinter sich, er wird von der Kölner Kinderagentur „Momo“ betreut. Für die Sender Sat1 und Super RTL stand er vor der Kamera, hat Werbespots für Karstadt, Aldi und Maggi gedreht, mit Prominenten wie Tom Beck geplaudert.
„Mein größter Wunsch wäre Hollywood“, sagt Paul und blickt hinüber zur Mutter. Die erklärt: „Nach Hollywood schafft es kaum jemand.“ Ihr und ihrem Mann sei wichtig, dass Paul auch ein Gespür für die Schattenseiten des Berufes bekommt: „Dass Modeln und Schauspielern eine sehr brotlose Kunst sein kann, darüber reden wir oft“, sagt Petra Bohse.
Schönheitsdruck und Anerkennung
Aber wie fördert man ein Kind, das sein Talent und seine Leidenschaft in einer Branche findet, in der Schönheitsdruck und die Sucht nach Anerkennung die Tagesordnung beherrschen? „Gesunde Talentförderung bedeutet für mich, dass die Kinder freiwillig dabei sind und die Eltern sie unterstützen, ohne es zu übertreiben“, sagt Susanne Schacht, Leiterin von „Momo“ und Talentförderin von Paul. Schacht vermittelt die Kinder an potenzielle Auftraggeber und Castings.
Sie stehe in ständigem Kontakt mit den Familien, Fotografen und Regisseuren, um über die Entwicklungen der Kinder informiert zu bleiben. Alle jungen Menschen, die sie in ihre Kartei aufnimmt, haben sich freiwillig bei ihr vorgestellt. Einen Vertrag bekommen sie nicht, denn: „Die Schule steht an erster Stelle“, sagt Schacht.
Weil die Bundesregierung das genauso sieht, dürfen Kinder bis 16 Jahre laut Jugendarbeitsschutzgesetz maximal 30 Tage im Jahr modeln oder schauspielern. „Ich finde das doof und würde gerne noch mehr machen“, sagt Paul. Wenn er ein neues Drehbuch bekomme, müsse er kaum üben – die meisten Filmemacher würden sich wünschen, dass er ganz frei spreche, ohne etwas auswendig zu lernen. Trotzdem habe er nach Castings auch schon einige Absagen bekommen. „Das gehört dazu“, sagt er.
Er spielt Klavier und Golf, macht Karate und hat in der Schule viele Freunde. All das habe ihm gezeigt: „Auch wenn ich mein größtes Hobby niemals aufgeben will, gibt es im Leben noch wichtigere Dinge.“ Dennoch merkt Paul natürlich, dass er gut ist, in dem was er macht. Die Schauspielerei, die Filme, die Förderung. Jedes Casting, das er gewinnt, stärkt sein Selbstbewusstsein: „Ich bin voll glücklich mit dem, was ich mache. Egal, was andere sagen.“