Der Alkoholkonsum unter Frauen nimmt zu. Dabei sind sie besonders gefährdet.
Trinken als SelfcareWie Frauen in die Alkoholabhängigkeit rutschen
Zum Anstoßen, zum Essen, zum Herunterkommen - oder einfach so. Es gibt viele Gründe, Alkohol zu trinken. Und auch viele, es nicht zu tun. Denn der Konsum birgt Risiken: Alkoholabhängigkeit ist eine ernste Erkrankung, die jeden betreffen kann - und nicht immer erkannt wird.
Gerade bei Frauen gibt es ein paar Besonderheiten: Wirkung und Gefahren sind bei ihnen teilweise anders als bei Männern. Inwiefern? Und was kann man dann tun? Antworten darauf geben: Suchtmediziner Professor Falk Kiefer und die Autorin und Bloggerin Mia Gatow, die sich vor sieben Jahren vom Alkohol „befreit“ hat - und in ihrem Buch „Rausch und Klarheit“ darüber berichtet.
Warum ist Alkohol für Frauen gefährlicher?
Frauen haben im Allgemeinen eine geringere Alkoholverträglichkeit als Männer. Dies liegt Kiefer zufolge daran, dass sie im Durchschnitt kleiner sind, weniger Körpervolumen haben, mehr Fett und weniger Wasser im Körper haben und Alkohol langsamer abbauen.
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Dadurch erreichen Frauen bei gleicher Trinkmenge eine höhere Blutalkoholkonzentration und die giftige Wirkung des Alkohols entfaltet sich bei ihnen stärker und länger, erklärt Kiefer. Und: „Die Risiken für Folgeerkrankungen sind bei Frauen ungefähr bereits bei der halben Alkoholmenge im Vergleich zu Männern erhöht“, so der Suchtmediziner.
Dazu zählen Depressionen, Angsterkrankungen, Hormonstörungen, Sodbrennen, Magengeschwüre und: Abhängigkeit. Denn die trete bei Frauen schneller ein, so Kiefer. Das nennt man den Teleskopeffekt.
Welche Faktoren spielen noch eine Rolle?
Auch soziale Faktoren spielen eine Rolle: In der Vergangenheit war Alkoholkonsum bei Frauen gesellschaftlich weniger akzeptiert als bei Männern. Das hat sich verändert – aktuell trinken Frauen, besonders in bestimmten Altersgruppen, zunehmend wie Männer. Sie haben quasi „aufgeholt“.
Mia Gatow beschreibt diese „Angleichungsbewegung“ so: „Wir arbeiten so viel wie Männer. Wir trennen Karriere und Privatleben, wie Männer das machen. Wir verdienen, jedenfalls theoretisch, fast genauso viel Geld - und wir trinken wie Männer. Auch zur Entspannung, denn wir haben ja genauso viel Stress.“ In ihrem Buch „Rausch und Klarheit“ beschreibt sie, wie sie ihr Alkoholproblem erkannt hat und warum und wie sie abstinent wurde.
Aber warum werden Frauen abhängig?
„Der Hauptgrund, warum man abhängig wird, ist, dass Alkohol abhängig macht“, sagt Mia Gatow. Hinzu kommen begünstigende Faktoren: Sie habe „perfekte Voraussetzungen für eine Abhängigkeit“ gehabt.
„Bei mir kam eigentlich alles zusammen. Ich komme aus einer trinkenden Familie. Mein familiäres Umfeld hat mir das also beigebracht.“ Der Alkohol sei immer da gewesen, und gerade deswegen ziemlich unsichtbar.
Auch ihr Arbeitsumfeld im Nachtleben sei später mit Mitte zwanzig sehr alkohol- und drogenlastig gewesen. „Als ich dann nicht mehr in diesem Partyleben war, wurde mein Trinken irgendwann - mit 30 - ein bisschen bürgerlicher und vielleicht ein bisschen schicker.“ Dennoch gab es im Umfeld noch etliche Leute, die das unterstützt hätten. „So wie eigentlich die ganze restliche Gesellschaft“, sagt Gatow. „Ich war eigentlich mein ganzes Leben lang eingebettet in eine Welt, in der das Trinken vorbehaltlos unterstützt wurde.“
Welche Rolle spielt das Umfeld und die Gesellschaft bei Sucht?
Kiefer erklärt: „Leider herrscht da sozusagen die alltägliche Banalität. In einer Gesellschaft, wo alle trinken, braucht es keine Dramen, um mitzutrinken.“ Alkohol zu trinken sei ein erlerntes Verhalten, fast alle machten erste Erfahrungen mit Alkohol in der Jugend oder als junge Erwachsene. Sie lernen vielleicht: „Alkohol kann entspannen und manche Dinge etwas erleichtern“ – aber die meisten merken auch die negativen Folgen.
In den Folgejahren spiele exzessives Trinken oft kaum eine Rolle, weil es einfach nicht passt: Dann sei man mit Familien-, Lebensplanung und Beruf beschäftigt. Häufig wird Alkohol dann wieder ein Thema, wenn die „Gelegenheit zum Trinken“ da ist. „Oder wenn Probleme da sind, bei denen Alkohol kurzfristig vermeintlich hilft“, so Kiefer.
Auch rund um Lebensübergänge etwa in der mittleren Lebensphase, wenn Belastungen im Beruf, der Partnerschaft und im Zusammenhang mit Kindern hinzukommen – auch und gerade für Frauen ein Thema. Dann erinnern sich viele an die Effekte, die Alkohol haben kann. „Und rutschen durch das Gefühl 'irgendwie tut mir das im Moment ganz gut' da rein.“
Trinken als Selfcare, wie es die „Wine Moms“ auf Instagram zeigen? Das könne passieren, so Mediziner Kiefer. Also ein Glas Wein zu trinken – vielleicht mit anderen Müttern und dabei zu denken: „Ich muss immer Höchstleistungen erbringen und für die Kinder da sein. Aber ich bin auch ein Mensch und brauche Zeit für mich.“ So beginne der sogenannte „funktionale Gebrauch“.
Kiefer berichtet, dass Alkohol auch eine Art Selbstmedikation ist, etwa bei Angsterkrankungen oder Depressionen – und „manchmal kommen solche Befindlichkeitsstörungen oder psychischen Erkrankungen auch in einer bestimmten Lebensphase auf“. Ein weiterer wichtiger Faktor: Alkohol ist vergleichsweise billig und praktisch überall verfügbar.
Woran merkt man: „Ich habe ein Alkoholproblem“?
„Wenn man den Schweregrad einer Alkoholabhängigkeit messen will, dann orientiert sich das kaum an den berichteten Trinkmengen“, erklärt Kiefer. „Das wichtigste Kriterium sind die negativen Konsequenzen, die man bereit ist in Kauf zu nehmen.“
Wenn es schwerfällt, auf Alkohol zu verzichten – „wenn man merkt, es gibt Dinge, die besser laufen würden, wenn ich nicht trinke, aber man trinkt trotzdem. Dann hat man auch schon ein Alkoholproblem“, sagt der Mediziner.
Mia Gatow erzählt: „Ich hatte mir zehn Jahre eingeredet, dass ich weniger trinken muss.“ Sie dachte, sie müsse „normal“ – also wie andere Leute trinken. „So wie die Alkoholindustrie das ja auch immer verkauft, dass das ja alle Leute könnten.“ Und wer das nicht kann, habe eine Art von persönlicher Schwäche. „Obwohl das natürlich überhaupt nicht stimmt.“
Tatsächlich kann das sogar symptomatisch für eine Alkoholerkrankung sein: „Wenn Sie feststellen, dass Sie Ihren Alkoholkonsum bewusst zu kontrollieren versuchen, weil Sie befürchten, zu viel zu trinken, kann dies ein Zeichen für ein problematisches Trinkverhalten sein“, schreibt die Stiftung Gesundheitswissen.
Wann handelt es sich um ein größeres Problem?
„Wenn Sie ein größeres Alkoholproblem haben, sagen Sie: Ich habe mir eigentlich vorgenommen, nur mit null Promille Auto zu fahren, aber ein Bier geht doch. Und wenn das Problem dann noch größer wird, dann sagen sie: Mich wird schon keiner erwischen. Und eigentlich kann ich noch fahren“, so Kiefer.
Die Steigerung davon – es geht nur noch um den Alkohol: „Okay, wenn ich jetzt zu der Feier nicht mehr hin und zurück fahren kann. Dann trinke ich halt zu Hause – und verzichte auf meine Freunde.“
Auch wenn es noch nicht so weit ist, rät Kiefer: sich einen Überblick über den eigenen Alkoholkonsum zu verschaffen. Den haben nämlich die wenigsten, die regelmäßig trinken. Ein Trinktagebuch dokumentiert, wann man wie viel und warum getrunken hat – etwa bei der Stiftung Gesundheitswissen als Download verfügbar. Oder man wirft einen Blick aufs Leergut, das man jede Woche entsorgt – auch das könne eine Problematik ins Bewusstsein rücken.
Und dann? Als Gatow gemerkt hatte, dass sie ihren Konsum nicht kontrollieren und „normal trinken“ konnte, habe sie quasi „kapituliert“. „Als ich die Idee, mein Trinken kontrollieren zu können, losgelassen habe, war es für mich relativ leicht, nüchtern zu werden.“ Sie habe es in Eigenregie und vor allem mit Hilfe einer Selbsthilfegruppe geschafft.
Was tun, wenn es zu viel wird?
Wer das Gefühl hat, das eigene Trinkverhalten ist aus dem Ruder gelaufen, kann Suchtberatungsstellen aufsuchen – eine niedrigschwellige Möglichkeit, Unterstützung zu finden, sagt Kiefer. Sie arbeiten unabhängig von Krankenkassen und machen sich ein Bild der Symptomatik, geben Empfehlungen, ohne das Ziel, eine medizinische Diagnose zu stellen. „Man kann sich informieren und einschätzen, ob das eigene Verhalten problematisch ist, ohne direkt an eine Entzugsklinik oder lebenslange Abstinenz zu denken.“
Auch gute Ansprechpartner: Hausärztin oder Hausarzt. „Sie können und sollen unterstützen, auch unabhängig von der Diagnose einer Alkoholabhängigkeit“, so Kiefer. „Es gibt ja Zusammenhänge zwischen Alkohol und Beschwerden wie Schlafstörungen, Magenschleimhautentzündungen oder Diabetes, und die kann man viel besser behandeln, wenn der Alkoholkonsum weniger oder ganz aufgegeben wird.“
Sowohl niedergelassene Mediziner als auch Suchtberatungsstellen helfen bei entsprechender Symptomatik dabei, eine Suchttherapie anzufangen. Das kann, muss aber nicht ein stationärer Klinikaufenthalt sein.
Es geht nicht um Willensschwäche – es ist eine Krankheit
„Wenn man in Behandlung geht, dann kann man eigentlich davon ausgehen, dass die Leute einem helfen. Ich habe das Suchthilfe-System voller hilfreicher, aufgeschlossener Menschen kennengelernt“, sagt Mia Gatow, die im Podcast „Soda Klub“ regelmäßig mit Betroffenen und Experten spricht.
Für Gatow selbst waren es die Anonymen Alkoholiker (AA) – eine Selbsthilfegruppe. „Verstanden und akzeptiert zu werden, mit Menschen darüber zu reden, die das Gleiche durchgemacht haben, sind für mich der größte Faktor.“ Da würde keiner auf die Idee kommen, zu sagen: „Reiß dich zusammen“ oder „Trink halt weniger“.
Das Wichtige so Kiefer: „Das ist eine Erkrankung.“ Es geht eben nicht um Willensschwäche. Das sei vielen – auch vielen Betroffenen – nicht ganz klar. Stigma und Scham belasten sie zusätzlich, so Gatow: „Sie suchen keine Hilfe, weil sie ihre Probleme – vor allem vor sich selbst – verheimlichen wollen.“ Es sei immer noch so, dass „zwischen dem ersten Anzeichen einer Abhängigkeit und dem Schritt, sich Hilfe zu suchen, im Schnitt zehn Jahre vergehen. Und das kann lebensgefährlich sein.“
Wer das Gefühl hat, sein Konsum könnte problematisch sein, braucht keine Angst zu haben. „Man kann Alkoholprobleme lösen und sogar einer Sucht entwachsen“, sagt Kiefer. Mia Gatow habe sich ziemlich schnell nach dem Aufhören „wacher, stärker und sogar entspannter“ gefühlt. „Dann hat man wieder die Ressourcen, sich selbst zu heilen“, sagt sie. (dpa)