Vom sicheren russischen Hinterland aus greifen Wladimir Putins Truppen zivile Einrichtungen in der ukrainischen Metropole Charkiw an.
Umdenken bei der Ukraine-HilfeWestliche Waffen gegen russische Ziele?
Was gerät da in Bewegung? Nach den Regierungen von Großbritannien und mehreren nordeuropäischen Ländern will auch der französische Präsident Emmanuel Macron es der Ukraine gestatten, mit von seinem Land gelieferten Waffen Ziele auf russischem Boden treffen. „Wir müssen ihnen erlauben, militärische Stützpunkte zu neutralisieren, von denen aus Raketen abgeschossen werden“, hatte Macron nach seinem Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz in Meseberg gesagt – vermutlich wohlkalkuliert und als Reaktion auf eine Drohung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der die Europäer am gleichen Tag vor „ernsten Konsequenzen“ einer Eskalation gewarnt hatte. Am Mittwoch sprach auch noch US-Außenminister Antony Blinken von einer „Anpassung“ bei den Waffenlieferungen. Was ist los?
Was sagt Kanzler Scholz zum Waffeneinsatz?
Während Macron in Meseberg vorpreschte, wich Scholz aus. „Die Ukraine hat völkerrechtlich alle Möglichkeiten für das, was sie tut“, sagte er. Völkerrechtlich ist es einem angegriffenen Staat zweifellos erlaubt, militärisch legitime Ziele, etwa Raketenstellungen, auf dem Territorium des Gegners ins Visier nehmen. Deutschland habe das niemals untersagt, betonte der Kanzler, was erstaunlich ist: Ein Jahr zuvor hatte er in der estnischen Hauptstadt Tallinn gesagt, die von Deutschland gelieferten Waffen dienten der „Verteidigung auf ukrainischem Boden“. Und auch jetzt, in Meseberg, kam Scholz auf eine Vereinbarung mit der Ukraine zu sprechen, die „praktisch gut funktioniert“ habe.
Das war am Dienstag dieser Woche. Am Mittwoch versuchten Journalisten, Näheres von Regierungssprecher Steffen Hebestreit zu erfahren. Der wiederholte Scholz’ völkerrechtliche Binsenweisheit. Und Verteidigungsminister Boris Pistorius riet, über solche Fragen nicht öffentlich zu reden.
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Um welche Waffen geht es überhaupt?
Aus Sicht der Kanzlerpartei SPD ist die Diskussion ohnehin theoretisch. Deutschland habe der Ukraine kein Material geliefert, „das im Moment dazu geeignet wäre, solche Angriffe zu machen“, wird SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert im „Spiegel“ zitiert. Deutschland hält den Marschflugkörper „Taurus“ zurück, während Franzosen und Briten die technisch verwandten Systeme „Scalp/Storm Shadow“ geliefert haben. Deutschland hat aber Artilleriesysteme geliefert, mit denen sich Ziele hinter der russischen Grenze durchaus bekämpfen ließen.
Und dann gibt es Luftabwehrsysteme. Am 13. Mai 2023 kam es zu einem spektakulären Vorfall: Ein „Patriot“-System – in den USA gebaut, von Deutschland geliefert – schoss einen russischen Bomberverband noch über russischem Territorium bei Brjansk ab. Das ist der einzige bisher bekannte Einsatz dieser Art, und er soll (laut „Bild“-Zeitung) massive deutsche und US-amerikanische Proteste zur Folge gehabt haben. Die Ukraine hat so etwas nie wieder gewagt und muss hinnehmen, dass russische Flugzeuge vom sicheren russischen Luftraum aus Charkiw beschießen. Ihr seien die Hände gebunden, klagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Montag. Die Lage in Charkiw hat offensichtlich bei Macron zum Umdenken geführt.
Nur: Der Schlüssel für den „Patriot“-Einsatz liegt ebenso beim Herstellerland USA wie der zur Verwendung der ATACMS-Kurzstreckenraketen. Auf besetztem ukrainischen Gebiet setzt die Ukraine mit der vor über 30 Jahren entwickelten ATACMS immer wieder russische Waffensysteme außer Gefecht. Zzuletzt gab es so einen Angriff in der Nacht zum Donnerstag bei Kertsch – hier unterstützt durch ukrainische Seedrohnen. Ebenso wirksam könnte die Ukraine mit westlichen Waffen gegen Raketenstellungen und Militärflugplätze auf russischem Gebiet hinter der Charkiw-Front vorgehen – zumal ihr Vorrat an ex-sowjetischen „Totschka“-Raketen zur Neige geht. Aber es fehlt das Ja der USA.
Wie entwickelt sich die Haltung der USA?
Dass sich die US-Haltung ändern könnte, hat Außenminister Blinken am Mittwoch in Moldawien angedeutet – nachdem es schon eine Woche zuvor entsprechende Hinweise in der „New York Times“ gab. Zwar wiederholte er das Mantra, seine Regierung habe Angriffe mit US-Waffen auf Ziele außerhalb der Ukraine weder ermöglicht, noch habe man Kiew dazu ermutigt. Nahezu wortgleich äußerte sich John Kirby, Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats, in Washington. Aber ähnlich wie Blinken sagte Kirby, die USA hätten ihre Unterstützung immer an sich verändernde Bedingungen und Bedürfnisse angepasst. Und das würden sie auch weiter so halten. Diesbezüglich gab sich auch Blinken zuversichtlich und sagte, die Ukraine müsse entscheiden, wie sie sich am besten verteidigen könne. „Wir werden dafür sorgen, dass sie die dafür notwendige Ausrüstung erhält.“
Nicht nur wegen der US-eigenen Waffen ist die Haltung der USA so bedeutend. Zwar sollen britische „Storm Shadow“-Marschflugkörper schon gegen Ziele auf russischem Boden eingesetzt worden sein. Das behauptet die ukrainische Seite. Die Briten aber schweigen dazu, einen unabhängigen Beleg gibt es nicht. Der Marburger Konfliktforscher Lukas Mengelkamp erkennt hier ein Muster, wie es seit dem Kalten Krieg bekannt ist: Warten auf die USA. Nur die USA können der russischen Nuklearmacht wirklich Paroli bieten, und sie werden sich nicht drängen lassen.
Wenn man dem österreichischen Militärexperten Oberst Markus Reisner glauben will, waren es die USA, die der Ukraine jüngst einen Drohnenangriff auf ein Frühwarnradar im südrussischen Armawir erlaubt haben – um zu zeigen, „dass man die unerträgliche Situation der russischen Drohungen mit Atomwaffen nicht länger akzeptieren möchte“. Sollte das stimmen, wäre dies ein Signal dafür, dass die USA frühere Rücksichten fallenlassen. Damit könnte sich auch ihre Haltung zum Waffeneinsatz ändern. Der im schottischen St. Andrews lehrende Militärhistoriker Philllips O’Brien schreibt: „Wenn namhafte Offizielle wie hier Außenminister Blinken ihren Namen für Geschichten über einen Politikwandel hergeben, dann wird der Wandel ziemlich wahrscheinlich eintreten.“