Berlin – Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will erst im Juni Corona-Impfungen für alle ermöglichen. „Das wäre viel zu spät. Spätestens in zwei, drei Wochen sollte die Priorisierung aufgehoben werden, da erwarten wir ein klares Signal des Impfgipfels“, sagte Dirk Heinrich, Vorsitzender des Virchow-Bundes der niedergelassenen Ärzte, unserer Redaktion. „Wenn die Gruppe 2, also die 70- bis 80-Jährigen und schwer Vorerkrankten, weitgehend durchgeimpft ist, braucht es die Freigabe. So weit sind wir Mitte Mai.“
Impfstau vermeiden
Ab Mai gehe es um 1,5 Millionen Impfdosen pro Woche für die niedergelassenen Ärzte, ab Juni seien es bis zu 3,5 Millionen Dosen. „Schon für das Impfen allein müssen die Praxen zusätzliche Sprechstunden anbieten. Kommt dann noch die Suche nach den Berechtigten hinzu, wäre das schlicht nicht mehr zu stemmen“, warnt Heinrich. „Fällt die Priorisierung nicht schnellstens weg, bürokratisieren wir uns einen Impfstau herbei.“
Spahn hatte am Freitag bekräftigt, „im Laufe des Juni“ die Impfpriorisierung aufheben zu wollen. Geht es nach ihm, dann soll vor der Freigabe zuerst noch die Priorisierungsgruppe 3 weitgehend durchgeimpft werden, das sind die 60- bis 70-Jährigen und Menschen mit medizinischen Vorbelastungen.
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner ist zwar der Ansicht, dass „die Priorisierung bei den Hausärzten weiterhin eine Leitvorgabe sein sollte“, hält aber pragmatische Lösungen für angezeigt. „Pragmatismus bedeutet, dass man von der Priorisierung auch abweichen kann, wenn etwa kurz vor Praxisschluss ein Termin abgesagt wird und Impfstoff übrig ist. Dann sollte jeder geimpft werden können, der es möchte“, sagte Lindner unserer Redaktion.
Vorbild Astrazeneca
Mehrere Bundesländer haben bereits die Priorisierung für das Vakzin von Astrazeneca aufgehoben. Das sei „absolut sinnvoll“, sagte Virchow-Bund-Chef Heinrich. „Wir sehen ja, dass die Skepsis gegenüber dem Vakzin schwindet, sobald es freigegeben wird.“ FDP-Chef Lindner spricht sich darum dafür aus, mehr Impfstoff des britisch-schwedischen Herstellers zu besorgen. „Deutschland muss sich insgesamt um mehr nicht genutzten Astrazeneca-Impfstoff aus dem Ausland bemühen“, fordert Lindner.
Dass zu Beginn die Hochgefährdeten, die Hochbetagten drangekommen seien, begrüßte Heinrich. Aber nun werde das Infektionsgeschehen von den Jüngeren getrieben. „Das ist ein Grund mehr, die Priorisierung aufzuheben.“
Weiter mit Astrazeneca
Der Bund wird NRW auch in den kommenden Monaten Astrazeneca-Impfstoff liefern. Zwar verwendet das Land bei Erstimpfungen in seinen Impfzentren nur noch die Konkurrenzpräparate von Biontech und Moderna. Für Zweitimpfungen über 60-Jähriger in den Zentren sowie bei niedergelassenen Ärzten wird Astra-zeneca aber weiter eingesetzt, wie das NRW-Gesundheitsministerium der Rundschau erklärte. Minister Karl-Josef Laumann (CDU) lehnt es aber ab, von der bisherigen Impfpriorisierung abzuweichen und Astrazeneca für unter 60-Jährige freizugeben, die diese Injektionen in Kenntnis der Risiken wünschen. Das liegt laut Laumann an der anhaltend hohen Nachfrage bei den über 60-Jährigen. Auf Dauer schließt er eine solche Regelung, wie sie etwa in Bayern gilt, aber nicht aus. Bislang sind in NRW 52,3 Prozent aller Einwohner im Alter von 60 Jahren und mehr zumindest einmal geimpft worden. NRW liegt damit in der Spitzengruppe der Bundesländer nach Bremen und Hamburg gleichauf mit dem Saarland. Allerdings gibt es nicht aus allen Bundesländern, zum Beispiel nicht aus Bayern, solche Altersangaben. (rn)
Deutschlands Landkreise stellten sich hinter die niedergelassenen Ärzte. „Mit der Aufhebung der Impfpriorisierung für Astrazeneca gehen einige Bundesländer bereits einen richtigen Schritt. Dem sollten sich andere Länder anschließen“, sagte Landkreistagspräsident Reinhard Sager unserer Redaktion. „In Verbindung mit den Impfungen in den Arztpraxen könnte man einen großen Schritt vorankommen. Das wäre Rückenwind für die Impfkampagne und sollte am besten für sämtliche Impfstoffe gelten.“
Freiheiten zurückgeben
Höchste Zeit ist es aus Ärztesicht auch, immunisierten Personen mehr Freiheiten zurückzugeben. „Der Impfgipfel sollte unbedingt beschließen, dass Geimpfte den Negativ-Getesteten gleichgestellt werden. Von Zweifachgeimpften geht vermutlich ein deutlich geringeres Risiko aus als von Menschen mit negativem Schnelltestergebnis“, sagte Heinrich. Schon dieser Schritt werde für Millionen Menschen Erleichterungen bedeuten, wenn die Testpflicht vor dem Friseurtermin oder dem Einkaufen wegfalle.
Aber nicht nur das: „Zumindest die Außengastronomie kann umgehend für Negativ-Getestete und Geimpfte geöffnet werden. Der Sommer naht, und an der frischen Luft finden praktisch keine Ansteckungen statt“, forderte Heinrich ganz schnelle Lockdown-Lockerungen. „Ich sehe keinen Grund, die Außengastronomie länger geschlossen zu halten, solange im Biergarten und auf Café-Terrassen Abstände und die anderen AHA-Regeln eingehalten werden.“
Auch das stützen die Landkreise: „Es ist geboten, dass die Einschränkungen zur Pandemiebekämpfung jedenfalls für Geimpfte rasch beendet werden“, sagte deren Präsident Sager. „Dazu sollte auf dem Impfgipfel eine klare Verabredung erreicht werden.“ Die grundrechtlichen Freiheiten würden nicht verliehen, sondern dürften nur solange eingeschränkt werden, wie es im Rahmen der Notlage erforderlich ist. Auch Christian Lindner fordert Lockerungen für Geimpfte: „Sie sollten in nächster Zeit bis auf wenige Ausnahmen keine Einschränkungen mehr hinnehmen müssen.“