Der Attentäter passte für die Sicherheitsbehörden in keine Schablone. Aber damit sind sie nicht aus der Verantwortung.
KommentarWarum der Anschlag von Magdeburg Folgen haben muss
Plötzlich Stille. Magdeburg trauert, und mit der Stadt das ganze Land. Ein offenbar im Wahnsinn verblendeter Gewalttäter hat eine der verwundbarsten Stellen getroffen, die wir in unserem freien Land haben. Er raste ungebremst mit einem schweren Fahrzeug in eine Menge friedlich versammelter Menschen. Ein Angriff, der tötete und verletzte, und der uns alle treffen sollte. Deutschland den Krieg erklären – das war es, was der Attentäter angekündigt und unfassbar brutal umgesetzt hat. Warum?
Nach der Stille kommen die Fragen. Dass der Anti-Islam-Aktivist Taleb A. (50), der vermutlich unter Drogen stand und durch wirre Hass-Posts im Netz auffiel, in keine der bisher bekannten Schablonen gewaltbereiter religiöser Fanatiker passt, stimmt. Aber damit sind die Sicherheitsbehörden keineswegs aus der Verantwortung. Dass Veranstaltungen wie Weihnachtsmärkte nicht zu 100 Prozent abgesichert werden können, stimmt auch. Aber das heißt nicht, dass bei den Schutzmaßnahmen nicht noch Lücken zu schließen sind.
Der Anschlag von Magdeburg darf nicht ohne Konsequenzen bleiben. Deshalb ist es richtig, wenn es so bald wie möglich eine Sondersitzung des Bundestags-Innenausschusses gibt, um Versäumnisse zu definieren – möglichst und hoffentlich ohne Wahlkampf-Getrommel.
Zwei Komplexe müssen untersucht werden. Zum einen: Warum war es acht Jahre nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt möglich, dass ein Attentäter mit nahezu dem deckungsgleichen Plan erneut mordete? Betonblöcke oder Eisen-Stäbe als Schutz sind wirkungslos, wenn die Zufahrten für Rettungsfahrzeuge nicht ebenfalls, in dem Fall durch mobile Maßnahmen, gesichert sind.
Der zweite Komplex, der noch viel mehr Fragen aufwirft: Welche Erkenntnisse über den Attentäter gab es bei den Sicherheitsbehörden, darunter auch BKA und BND, und wie wurden sie bearbeitet? Warum zum Beispiel wurde auf ein Auslieferungsersuchen seines Heimatlandes Saudi-Arabien offenbar nicht reagiert?
Auch wenn bei der Vielzahl der jetzt öffentlich gemachten Hinweise auf die Aktivitäten des Taleb A. im Moment noch nicht zu überblicken ist, welches Amt wann und von wem informiert wurde – erkennbar war, dass der Islamhasser von dem Gedanken besessen war, Deutschland triebe die Islamisierung Europas voran, und dass er das vergelten wollte. Es gab Anzeigen gegen ihn und die Absicht der Magdeburger Polizei, ihn als Gefährder anzusprechen, was den Anschlag vielleicht verhindert hätte. Warum es dazu nicht kam, ist nur eine der Fragen.
Zur Aufarbeitung dieses Anschlags gehört auch, die bisher bekannten Schablonen für mögliche Gefährder zu überprüfen. Je mehr Einzeltäter es gibt, die sich im Netz radikalisieren, so die Beobachtung des Terrorexperten Peter Neumann, „desto kreativer wird mit Ideologien gearbeitet.“ Er spricht von Attentätern, die sich ihre eigene Ideologie zusammenstellen. Die Grenzen verschwimmen, und die Muster müssen anders definiert werden. Das bedeutet: ein neues Feld für die Sicherheitsbehörden, die sich – was der Anschlag in Magdeburg traurig bewies – auf ihre Schablonen nicht mehr verlassen können.