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Interview mit Lars Klingbeil„Wir werden uns nicht von Putin einschüchtern lassen“

Lesezeit 7 Minuten
ARCHIV - 16.09.2022, Niedersachsen, Wilhelmshaven: Lars Klingbeil, Parteivorsitzender der SPD, steht vor einem Schiff im Hafen vom Marinestützpunkt Wilhelmshaven.

Lars Klingbeil, Parteivorsitzender der SPD, steht vor einem Schiff im Hafen vom Marinestützpunkt Wilhelmshaven.

Deutschland steht unter riesigem Druck, weil der Ukraine auch in Ramstein keine Leopard-Kampfpanzer zugesagt wurden. SPD-Chef Lars Klingbeil erklärt im Interview mit Tobias Schmidt die Hintergründe. Den Vorwurf der Zögerlichkeit lässt er dabei nicht gelten.

Herr Klingbeil, wird Russland bald eine neue Offensive starten und womöglich die ukrainischen Verteidigungslinien durchschlagen?

Ich bin kein Militärstratege. Aber was wir sehen, ist, dass Russlands Präsident Wladimir Putin sich, seit er den Krieg begonnen hat, immer für weitere Eskalationsschritte entschieden hat. Die Gerüchte über eine Offensive sind da. Klar ist, wir werden nicht nachlassen, die Ukraine zu unterstützen, wie wir es vom ersten Tag des Krieges an getan haben. Wir werden uns nicht von Putin einschüchtern lassen.

Der Vorwurf steht im Raum, dass Kanzler Olaf Scholz genau das tut und keine Leopard-Kampfpanzer liefert, die die Ukraine vehement einfordert.

Diesen Vorwurf weise ich zurück. Die Bundesregierung hat unter Olaf Scholz unmittelbar nach Kriegsbeginn mit einem Prinzip der deutschen Außenpolitik gebrochen, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern. Mit den jüngst beschlossenen Lieferungen von Marder-Schützenpanzern sind wir hinter den USA mit Großbritannien das Land mit der größten Militärhilfe für die Ukraine. Raketenwerfer, Gepard-Flakpanzer, Panzerhaubitze 2000, Iris-T, Munition. Wir machen die Ukraine stark, damit sie sich gegen die russische Aggression verteidigen kann. Und dabei gibt es keine roten Linien.

Die rote Linie des Kanzlers lautet: Keine Alleingänge! Heißt das: Solange die USA keinen Abrams-Kampfpanzer liefern, gibt es auch keinen Leoparden der Bundeswehr?

Alles, was wir tun, tun wir abgestimmt mit unseren Bündnispartnern. Wir können sehr dankbar sein, dass Joe Biden US-Präsident ist, weil er im Gegensatz zu seinem Vorgänger (Donald Trump, Anm. der Redaktion) ein sehr großes Interesse an guten transatlantischen Beziehungen hat. Das Vorgehen von Olaf Scholz ist genau richtig: Es wird vertraulich miteinander gesprochen, es werden gemeinsame Entscheidungen gefällt, und dann wird verkündet. Und glauben Sie mir, es wird jeden Tag aufs Neue geprüft, wie wir die Ukraine am besten stärken können.

Der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius lässt nun die Leopard-Bestände prüfen. Er sieht gute Gründe gegen Lieferungen, aber ebenso gute Gründe dafür. Sie auch?

Das ist ein richtiges Vorgehen von Boris Pistorius, das meine volle Unterstützung hat. Auch, um die Debatte zu versachlichen. Bevor die Bundesregierung Entscheidungen trifft, muss klar sein, was die Bundeswehr oder die deutsche Rüstungsindustrie liefern kann.

Die Rufe nach Kampfpanzern richten sich an Berlin. Was ist eigentlich mit Frankreichs Leclerc-Panzern, schlägt sich Präsident Emmanuel Macron in die Büsche?

Die deutsch-französische Achse ist wichtig, auch in der Frage der Unterstützung der Ukraine. Das zeigt sich auch darin, dass Boris Pistorius sofort nach Amtsantritt mit seinem französischen Kollegen telefoniert hat. Trotzdem muss ich sagen: Es war ein starkes Signal, dass US-Präsident Biden und Kanzler Olaf Scholz gemeinsam erklärt haben, Schützenpanzer zu liefern. Das Signal an Putin wäre noch stärker gewesen, wenn Macron dabei gewesen wäre.

Wie konnte der Eindruck entstehen, Deutschland stehe doch ziemlich isoliert da?

Ich habe einen anderen Eindruck. Die gemeinsamen Erklärungen von Joe Biden und Olaf Stolz belegen eindeutig, dass Deutschland international nicht isoliert ist. Unser Bundeskanzler beschreibt nicht in der Öffentlichkeit die Prozesse und Überlegungen, sondern er klärt Dinge im Hintergrund und verkündet, wenn Ergebnisse da sind. Und ein Ergebnis lautet, Deutschland unterstützt die Ukraine militärisch so stark wie kein anderes Land mit den USA und Großbritannien.

Wird die Bundesregierung anderen Ländern wie Polen erlauben, Leopard-Panzer „made in Germany“ an die Ukraine zu liefern?

Dazu müssten erst einmal konkrete Anträge aus Polen vorliegen, und die würden dann gründlich bewertet werden. Ich habe da Vertrauen in die Bundesregierung.

Ein Waffenstillstand ist erst realistisch, wenn es einen militärischen Patt gibt. Ist die These richtig oder falsch?

Um diese Frage zu beantworten, stelle ich die Gegenfrage: Wie soll dieser Patt aussehen? Wir tun alles, um die Ukraine stark zu machen, damit sie sich verteidigen und die russischen Invasoren aus ihrem Territorium zurückdrängen kann. Russland hat auf ukrainischem Gebiet nichts verloren. Ich habe höchste Achtung vor der militärischen Leistung, der klugen Taktik der Verteidiger. Wir werden diesen Weg weitergehen, um Putin gemeinsam zu zeigen, dass er nicht gewinnen kann, und um die Ukraine in eine starke Verhandlungsposition zu bringen.

Der Gashahn ist zugedreht, ein Öl-Embargo in Kraft, und die russischen Angriffe werden immer intensiver. Welches Eskalationspotenzial fürchten Sie von Putin eigentlich noch?

Wir haben keine Angst. Die Sanktionen und Waffenlieferungen zeigen, dass wir sehr selbstbewusst die Ukraine unterstützen. Putin ist besessen von der Idee, Russland zur Großmacht zu machen. Es ist sehr klug von Bundeskanzler Olaf Scholz, wie er international strategische Partnerschaften sucht, um Russland zu isolieren. Er hat das in China getan oder beim G20-Gipfel in Bali. Dieses Vorgehen schätzt die Mehrheit unserer Bevölkerung.

Wünschen Sie sich, wie die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt?

Wenn der Sieg bedeutet, dass die Ukraine die russischen Truppen aus den völkerrechtswidrig besetzten Gebieten vertreibt und ihre territoriale Integrität zurückerhält, dann bin ich dafür, ja.

Wäre es auch ein Sieg für die Ukraine, einen weiteren russischen Vormarsch zu stoppen und Putins Großmacht-Fantasien zu beerdigen?

Sie meinen, dass die besetzten Gebiete also russisch blieben? Das wäre kein Sieg. Die Ukraine ist in ihrer territorialen Unversehrtheit verletzt. Das darf nicht hingenommen werden. Deswegen noch einmal: Wenn das Zurückdrängen von Putins Armee der Sieg ist, dann stehe ich dahinter.

Kiew bräuchte dann Sicherheitsgarantien, also militärischen Beistand im Falle neuer russischer Angriffe. Wird es den jemals geben?

Olaf Scholz will, dass die Ukraine Teil der Europäischen Union wird. Und der Europäische Rat ist ihm in dieser Frage gefolgt. Das ist eine historische Weichenstellung. Denn ein Anwärter auf die EU hat auch Anspruch auf Beistand und Sicherheit durch die EU.

Daran mitzuarbeiten, wird auch Aufgabe unseres neuen Verteidigungsministers. Warum heißt der eigentlich Boris Pistorius und nicht Lars Klingbeil?

Wir brauchen einen Verteidigungsminister, der sich zu 100 Prozent um die Herausforderungen der Bundeswehr, der internationalen Sicherheitspolitik und der Rüstungsbeschaffung kümmern kann. Das kann Boris Pistorius. Ich freue mich als Parteivorsitzender sehr auf die Zusammenarbeit mit ihm.

Hat der Kanzler Sie gebeten, den Job von Christine Lambrecht zu übernehmen?

Wir haben im engsten Kreis beraten. Und der, den wir gefragt haben, war Boris Pistorius, und er hat ja gesagt.

Dass Pistorius der Sprung aus Niedersachsen mitten hinein in eine dramatische internationale Krise überfordern könnte, das befürchten Sie nicht?

Die Aufgabe ist riesig, das weiß er. Boris Pistorius hat 2015 als Innenminister in der Frage wie wir Geflüchtete in Deutschland aufnehmen in jeder Sekunde ausgestrahlt, dass er mit sehr klarem Verstand und Menschlichkeit Politik macht, und er hat damals auch bundespolitisch mit den Ton angegeben. Boris Pistorius ist krisenfest, sturmfest, er ist seit zehn Jahren in der Sicherheitspolitik verankert, ist ein Typ, der die richtige Ansprache findet. Also: Ich habe null Zweifel daran, dass er dem Job absolut gewachsen ist.

Hat er dafür auch genug Geld, oder muss das 100-Milliarden-Sondervermögen für die Truppe aufgestockt werden?

Die 100 Milliarden Euro sind ein riesiger Schritt nach vorne. Es geht aber um mehr als ums Geldausgeben. Die Bundeswehr muss neu ausgerichtet werden für die Landes- und die Bündnisverteidigung. Die Soldatinnen und Soldaten brauchen an ihrer Spitze einen Anwalt, der für sie eintritt, damit sie die Anerkennung und den Respekt bekommen, den sie verdienen. Und Boris Pistorius wird Strukturen und Prozesse verändern müssen, allen voran bei der Beschaffung. Wir brauchen einen Pakt mit der Rüstungsindustrie, damit schneller produziert wird. Christine Lambrecht hat damit begonnen. Der neue Verteidigungsminister steht nun vor der Aufgabe, die Zusammenarbeit weiter zu verbessern und das Tempo noch deutlich zu erhöhen.