Berlin – Ende Oktober lehnte sich Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus noch weit aus dem Fenster. Der Bundestag sei bei den Corona-Regelungen ausreichend beteiligt, Änderungen vorerst nicht nötig, sagte der CDU-Politiker kraftvoll in der Debatte über die Regierungserklärung der Kanzlerin. Doch der Druck aus allen Parteien und auch von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) persönlich war stärker: An diesem Mittwoch wird es eine Novelle des Infektionsschutzgesetzes geben, in dem der Bundestag die bisherigen weitgehenden Blanko-Vollmachten für den Gesundheitsminister und die Länder in präzise Vorgaben verändert und die Berichtspflicht der Regierung ans Parlament ausbaut. Das Problem: Union und SPD pauken das Gesetz im Eilverfahren durch.
Erst vor zwei Wochen hatten sich Union und SPD darauf verständigt, in welcher Form sie „Formulierungshilfen“, wie sie von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) aufgeschrieben worden waren, als eigenen Entwurf in den Bundestag einbringen wollen. Am vergangenen Donnerstag konnten sich die Fachausschüsse damit auseinandersetzen. Weil bei den Beratungen noch Bedenken aufgetaucht waren, schoben Union und SPD an diesem Montag zahlreiche Änderungen nach und lehnten es ab, den Ausschüssen für die nochmalige Beratung mehr Zeit einzuräumen. Stattdessen soll es am Mittwochmittag bereits die abschließende Debatte und Abstimmung geben, der Bundesrat tritt ebenfalls zusammen, so dass der Bundespräsident das Gesetz noch am selben Tag unterschreiben kann.
Kritik am Ermächtigungsgesetz
Die Eile steht einer breiten Debatte in der Öffentlichkeit entgegen, um die Bevölkerung intensiv mitnehmen zu können. Abgeordnete berichteten in den Tagen vor der Abstimmung, sie würden von Tausenden von Mails überflutet, in denen vor einem neuen „Ermächtigungsgesetz“ wie zu Beginn der NS-Zeit gewarnt werde. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte am Dienstag, allein sein Büro habe bis zum Vormittag etwa 37.000 solcher Mails erhalten. Die überwiegende Mehrzahl sei gleichlautend mit identischen Textstellen. Wer dahinter stehe, könne man nicht klären. Es gebe auch Anrufe in Abgeordnetenbüros etwa aus dem Wahlkreis, bei denen Menschen Falschinformationen aufgesessen seien, sagte Dobrindt. „Ich sehe die Änderungen im Infektionsschutzgesetz kritisch, aber dieser gefährliche Unsinn über ein angebliches Ermächtigungsgesetz und das absichtliche Missverstehen machen mich sehr betroffen", schrieb dazu der FDP-Politiker Konstantin Kuhle bei Twitter.
Am Mittwoch soll es Demonstrationen von Gegnern der Corona-Maßnahmen und rechten Gruppen in Berlin geben. Die Koalition hat sich zu diesem Tempo entschlossen, um eine bessere Grundlage für die in der nächsten Woche erwarteten Verschärfungen der Corona-Auflagen in Händen zu haben. Gerichte hatten eine Reihe von Freiheitseinschränkungen wieder aufgehoben – unter anderem unter Hinweis darauf, dass die entsprechende eindeutige gesetzliche Grundlage fehle.
Es gilt „soziale und wirtschaftliche Aspekte abzuwägen“
So gibt es jetzt einen detaillierten Katalog von möglichen Maßnahmen, die zur Eindämmung einer Pandemie ergriffen werden können. Dazu gehören Ausgangs-, Kontakt- und Reisebeschränkungen sowohl für den öffentlichen als auch den privaten Raum, die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung, das Schließen von Übernachtungsangeboten, Gaststätten und Geschäften des Groß- und Einzelhandels sowie Verkaufs- und Konsumverbote für Alkohol auf bestimmten Plätzen. Weitere Punkte betreffen unter anderem digitale Meldungen bei Einreisen aus ausländischen Risikogebieten, Unterstützungen für Eltern, deren Kinder in Quarantäne müssen, differenziertere Ausgleichszahlungen für Krankenhäuser mit Reserve-Intensivbetten und die Details der Arbeit in den Impfzentren, die ab Mitte Dezember einsatzfähig sein sollen.
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Die von Gerichten ebenfalls monierte fehlende Abwägung findet sich nun auch im Gesetz mit der Vorgabe, dass bei den einschränkenden Maßnahmen nicht allein der Gesundheitsschutz betrachtet werden dürfe, sondern dass auch „soziale und wirtschaftliche Aspekte abzuwägen“ seien. Ein größeres Hindernis wird laut Gesetzesnovelle nun bei Einschränkungen der Religionsausübung und des Demonstrationsrechtes festgelegt. In diese dürfe nur eingegriffen werden, wenn „keine anderen Möglichkeiten“ gegeben seien, dem Infektionsschutz Rechnung zu tragen.
Der Hotel- und Gaststättenverband Dehoga sagte bereits voraus, dass das Gesetz vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe keinen Bestand haben werde, weil Entschädigungsregelungen fehlen. Diese sind in vielen Grundgesetz-Artikeln für den Fall von Einschränkungen von Grundrechten vorgeschrieben.
Auch der FDP-Pandemieexperte Andrew Ullmann kritisierte, dass sich das Gesetz bei den die Maßnahmen auslösenden Fixpunkten ausschließlich auf Infiziertenzahlen pro 100.000 Einwohner beziehe. Das sei unzureichend und werde der Sache nicht gerecht. Ullmann sieht die „Gefahr, dass die Änderungen im Infektionsschutzgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht nicht Bestand haben werden“. Dies würde dann „einen großen Schaden für die Pandemiebekämpfung bedeuten“, sagte er unserer Redaktion.