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Interview

Krieg und Justiz
Wirkt die Drohung mit dem Internationalen Strafgerichtshof, Herr Kreß?

Lesezeit 9 Minuten
Internet-Meme: Russische Politiker vor dem Nürnberger Militärtribunal

Russische Politiker vor dem Nürnberger Gerichtshof: Im Internet verbreiten proukrainische Blogger solche Darstellungen. Was kann die Drohung mit internationaler Strafjustiz bewirken?

Vor dem Internationalen Strafgerichtshof ist ein Haftbefehl gegen Israels Ministerpräsident Netanjahu beantragt, gegen Kremlchef Putin liegt schon einer vor. Aber was bewirkt das? Fragen an den Kölner Staats- und Völkerrechtler Prof. Claus Kreß.

Halten sich westliche Staaten selbst an die von ihnen proklamierten Standards? Diese und weitere Fragen an den Kölner Staats- und Völkerrechtler Prof. Claus Kreß, der mit Kollegen ein neues Forschungszentrum zu solchen Themen gegründet hat.

Herr Professor Kreß, beim Internationalen Strafgerichtshof sind schon im Juni Haftbefehle gegen israelische Spitzenpolitiker und die Hamas-Führung beantragt worden. Trotzdem kommen täglich schlimme Nachrichten von dort. Bewirkt die Drohung mit dem Gerichtshof irgendetwas?

Bei der Hamas sollte man keine Hoffnung haben – obwohl auch sie an das Völkerrecht des bewaffneten Konflikts gebunden ist. Denn sie hat dieses Recht immer wieder ignoriert, in besonders fürchterlicher Form mit dem Massaker vom 7. Oktober. Die Hamas macht es der israelischen Armee ganz gezielt „höllisch“ schwer, zwischen militärischen und zivilen Zielen zu unterscheiden. Ich fürchte, dass israelische Soldaten, vielleicht auch Truppenteile, das Kriegsvölkerrecht bei mancher Gelegenheit verletzt haben. Ob das systematisch geschieht, bleibt für mich indessen eine offene Frage. In jedem Fall aber habe ich den Eindruck, dass die beiden internationalen Gerichte in Den Haag – der Internationale Strafgerichtshof, aber auch der altehrwürdige Internationale Gerichtshof – in Israel etwas bewirken. Die israelische Armee erhebt ja den Anspruch, sich strikt ans humanitäre Völkerrecht zu halten. Entsprechend groß ist der Druck.

Das Kriegsvölkerrecht ist ein raues Recht. Es schließt zivile Opfer nicht kategorisch aus.

Sehen Sie diesen Erfolg wirklich bei so vielen auch zivilen Opfern?

So wird tatsächlich argumentiert: Bei so vielen Toten sei ja wohl die ganze Kriegsführung auf Völkerrechtsverletzung angelegt. Das ist aber zu kurz gegriffen. Das Kriegsvölkerrecht ist ein raues Recht. Es schließt zivile Opfer nicht kategorisch aus. Wenn bei der Bekämpfung militärischer Ziele zivile Opfer unvermeidbar sind, schließt das Kampfführungsrecht solche nur aus, wenn absehbar ist, dass sie ein exzessives Ausmaß annehmen. Eine Schule ist zunächst natürlich eine zivile Einrichtung, aber wenn sie auch militärisch genutzt wird, kann sie zum militärischen Ziel werden.

Ist der von Chefankläger Karim Khan gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu beantragte Haftbefehl dann angemessen?

Ich kenne das Beweismaterial nicht, auf das sich der Ankläger stützt. Deshalb kann ich das nicht seriös beantworten. Auffällig ist, dass das Gericht auch nach drei Monaten nicht über den Antrag entschieden hat. In anderen Fällen sind Haftbefehle viel schneller erlassen worden.

Also haben die Richter wohl Probleme mit dem Antrag?

Jedenfalls stellen sich erhebliche Rechtsfragen. Denn der Hauptvorwurf lautet, dass Israels und damit Netanjahus Kriegsführung darauf ausgerichtet sei, die Zivilbevölkerung auszuhungern. Da gibt es zunächst eine formale Schwierigkeit: Der Internationale Strafgerichtshof kann über diesen Vorwurf nur urteilen, wenn es sich um einen internationalen Konflikt handelt. Die Hamas ist aber kein Staat, und die Staatlichkeit Palästinas bleibt umstritten. Eine Vertragsänderung, die die Zuständigkeit ausdehnt, hat ausgerechnet Palästina noch nicht ratifiziert. Und dann bleibt die Frage, was Netanjahu und Verteidigungsminister Joav Gallant wirklich gewollt bzw. gewusst haben und was ihnen nachzuweisen wäre. Israel sagt ja, wir „fluten“ den Gazastreifen förmlich mit Hilfe, die Hamas allerdings mache große Schwierigkeiten bei deren Verteilung.

Aber wo wirkt der Internationale Strafgerichtshof dann mäßigend – zumal Israel und auch die USA ihn nicht anerkennen?

Der Internationale Strafgerichtshof ist zuständig – wegen des Beitritts Palästinas zum Statut –, und das übt auf Israel einen positiven Druck aus. So schlimm die Lage auch ist, bei den Hilfslieferungen hat sich viel getan. Erinnern Sie sich an Gallants Erklärung am Anfang des Krieges, das Gebiet werde komplett abgeriegelt? Israel hat seine Position schon bald danach korrigiert. Man darf vermuten, dass da auch der Druck gewirkt hat. Ich sehe gerade bei den Hilfslieferungen insgesamt eine positive Entwicklung.

Weltöffentlich sichtbar gibt es – erstmals – einen internationalen Haftbefehl gegen den Staatschef eines ständigen Mitglieds im Weltsicherheitsrat.

Vom Gericht zugelassen wurde die Anklage gegen den russischen Staatschef Wladimir Putin. Trotzdem ist der jetzt in die Mongolei gereist. Die ist Vertragsstaat und hätte Putin festnehmen müssen. Stattdessen wurde er mit militärischen Ehren empfangen. Führt so etwas das Prinzip internationaler Strafgerichtsbarkeit nicht ad absurdum?

Ich würde es nicht so hart formulieren. Ja, die Mongolei hätte Putin festnehmen müssen. Das wäre allerdings für einen militärisch schwachen Staat im nahezu unmittelbaren Zugriff eines hochgerüsteten und brutalen Unrechtsherrschers eine ungeheure Zumutung gewesen. Das ist sehr unerfreulich, ad absurdum wird die internationale Strafgerichtsbarkeit damit aber nicht geführt. Es bleibt ja dabei: Weltöffentlich sichtbar gibt es – erstmals – einen internationalen Haftbefehl gegen den Staatschef eines ständigen Mitglieds im Weltsicherheitsrat. Das hat eine sehr hohe symbolische Bedeutung für die internationalen Beziehungen, und es hat sogar bereits ganz praktische Folgen für Putin selbst gehabt. In die Mongolei konnte er reisen, nach Südafrika nicht. Südafrika hat diskret dafür gesorgt, dass Putin nicht zum Gipfel der Brics-Staaten kam, an dem er gerne teilgenommen hätte. Das ist überaus bemerkenswert. Und wir wissen ja nicht, in wie vielen Fällen Ähnliches passiert ist.

Also eine indirekte Wirkung, auch wenn die ganz Mächtigen nicht mitmachen? Auch die USA nicht?

Ja. Erinnern Sie sich daran, dass die Trump-Administration Boykottmaßnahmen gegen die damalige Chefanklägerin Fatou Bensouda verhängt hat? Die USA haben den Strafgerichtshof behandelt wie eine Terrororganisation, und warum? Weil Bensouda Foltervorwürfe gegen US-Soldaten und CIA-Leute in Afghanistan prüfte. Das führte den Gerichtshof doch nicht ad absurdum, sondern im Gegenteil zeigte Trumps hysterische Reaktion gerade, wie unangenehm die Ermittlungen für sein Land waren.

Viele ukrainische Blogger verbreiten im Internet Bilder, Memes, in denen russische Politiker als Angeklagte im Saal des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses dargestellt werden. Sie würden also sagen, auch wenn es nie zu so etwas kommt, hilft schon die Drohung?

Die Reaktion auf den russischen Angriffskrieg ist eben nicht nur eine militärische, sondern auch in ganz staunenswertem Ausmaß eine völkerrechtliche. Vor allem ist es staunenswert, in welchem Ausmaß die Ukraine selbst als Opfer bei ihrer Reaktion auf die russische Aggression auf das Völkerrecht setzt. Natürlich muss sie die Aggression militärisch abwehren, aber sie hat eben auch eine Armee von Juristen ins Feld geschickt. Und dabei sind die Ukrainer nicht zuletzt von der Geburtsstunde des Völkerstrafrechts in Nürnberg inspiriert. Ebenso wie damals den USA und den Sowjets geht es für die Ukrainer allem anderen voran um das Verbrechen des Angriffskrieges, das in Nürnberg erstmals als internationales Verbrechen abgeurteilt wurde. Deshalb wird überlegt – da Ankläger Khan dazu aus rechtlichen Gründen nicht ermitteln kann – ein Sondertribunal einzurichten.

Ein Sondertribunal? Warum?

Unglücklicherweise setzt das Statut dem Internationalen Strafgerichtshof speziell bei der Ausübung seiner Zuständigkeit über das Verbrechen der Aggression die allerengsten Schranken. Und das ist kein Schicksal, das einfach so auf uns gekommen ist. Vor allem mächtige westliche Staaten, die USA, Frankreich und Großbritannien haben auf diese rechtlichen Fesseln gedrungen.

Also auch die USA, die gar nicht unterschrieben haben …

Die USA waren höchst emsig im Hintergrund tätig, was nochmal zeigt, wie sehr auch Nichtvertragsstaaten den Gerichtshof fürchten. Zu Russlands Angriffskrieg gibt es die Überlegung, als zweitbeste Lösung ein Sondertribunal zu schaffen. Wie es die Kriegsverbrechertribunale in Nürnberg und Tokio waren oder das UN-Tribunal für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien. Über das Format eines solchen Tribunals laufen seit Monaten vertrauliche Verhandlungen. Am besten wäre ein UN-Tribunal, aber der Weltsicherheitsrat als Gerichtsgründer scheitert am russischen Veto, und der Weg über die Generalversammlung ist politisch gerade kaum gangbar. Deshalb wird jetzt über eine Anbindung an den Europarat nachgedacht. Dessen Ministerkomitee hat grünes Licht dafür gegeben, eine solche Lösung zu prüfen.

Damit künftige Putins wissen, dass ihnen ein Verfahren vor diesem – ständigen – Strafgerichtshof droht.

Nürnberg galt Kritikern damals als Siegerjustiz. Und auch in Serbien und Kroatien werden die Urteile des Jugoslawien-Tribunals bis heute vielfach nicht akzeptiert.

Sie haben Recht, so eine Ad-hoc-Gerichtsbarkeit wird immer Kritik auf sich ziehen. Gerade in osteuropäischen Ländern wird im Zusammenhang mit der laufenden Debatte an die Schattenseite Nürnbergs erinnert, dass Stalin davonkam. Das Jugoslawien-Tribunal hat aber immerhin wirklich in alle Richtungen ermittelt. Nicht nur gegen Serben und Kroaten, auch gegen Vertreter Bosnien-Herzegowinas. Dass hauptsächlich serbische Täter verurteilt worden sind, hat einfach damit zu tun, dass die größte Zahl der Verbrechen von serbischer Seite begangen wurde. In Sachen Verbrechen der Aggression plädiert Bundesaußenministerin Annalena Baerbock vor dem Hintergrund der Kritik an Tribunalen ad hoc zu Recht für eine Änderung des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs. Damit künftige Putins wissen, dass ihnen ein Verfahren vor diesem – ständigen – Strafgerichtshof droht.

Wird die deutsche Idee einer Vertragsänderung denn Erfolg haben?

Sie wird Erfolg haben, wenn es gelingt, eine breite Allianz aus Vertragsstaaten aller Weltregionen zu bilden, die sich von der ablehnenden Haltung der Vertragsstaaten Frankreich und England und von dem im Hintergrund sehr spürbaren Widerstand der USA nicht beirren lässt. Das erfordert viel diplomatisches Geschick und einen starken politischen Willen.

Bei den Skeptikern also das alte Großmachtgehabe? Man will intervenieren können, wo es passt, ohne dass da jemand reinredet?

Sie haben Recht, hier geht es zentral um Doppelstandards, und solche kritisieren viele im sogenannten globalen Süden durchaus zu Recht – wenngleich es natürlich auch dort unter den Staatenlenkern nicht nur Heilige gibt. In Nürnberg hat US-Chefankläger Robert H. Jackson gesagt: Wir müssen die Prinzipien dieses historischen Verfahrens zukünftig auch gegen uns selbst gelten lassen. Was ist daraus geworden? In Fensterreden halten auch die USA und Großbritannien das Völkerstrafrecht hoch. Aber wenn es weh zu tun droht, sprechen die Taten leider nicht selten eine andere Sprache. Der Westen muss einsehen: Wenn wir – und das wäre auch in unserem eigenen Interesse – die völkerrechtliche Ordnung wahren wollen, dann müssen wir weg von Doppelstandards.

Zur Person

Claus Kreß, Professor für Straf- und Völkerrecht an der Universität zu Köln

Prof. Claus Kreß, geboren 1966 in Köln, ist Straf- und Völkerrechtler. Er lehrt in beiden Disziplinen an der Universität zu Köln und ist dort Direktor des Instituts für Friedenssicherungsrecht. Seit 2019 ist er überdies Richter ad hoc in einem Verfahren am Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Gemeinsam mit der Völker- und Verfassungsrechtlerin Angelika Nußberger (ehemalige Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte) und dem Historiker Fabian Klose (Lehrstuhl für Internationale Geschichte und Historische Friedens- und Konfliktforschung) hat Kreß ein Zentrum für Internationale Geschichte und Völkerrecht (Cologne Center for Advanced Studies in International History and Law, CHL) ins Leben gerufen.

„Doppelstandards im Völkerrecht?“ lautet das Thema des CHL-Eröffnungskolloquiums am Montag, 16. September, im Seminargebäude der Universität zu Köln (ab 12.30 Uhr). Kreß kündigt eine „in Deutschland einzigartige Form“ der Analyse an: Völkerrechtler machen sich bei Historikern über die geschichtliche Dimension des Problems kundig, Juristen helfen Historikern beim Verständnis der rechtlichen Inhalte. Daraus sollen auch rechtspolitische Vorschläge entstehen. Völkerrecht, sagt Kreß, habe noch stärker als andere Rechtsbereiche einen „langen historischen Atem“: „Nürnberg etwa ist ganz nah an Debatten, die wir jetzt führen.“