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Interview

„Ich möchte, dass wir die Demokratie verteidigen“
Kretschmer verteidigt Merz‘ Vorschläge zu Migration und kritisiert die Debatte um Tabubrüche

Lesezeit 5 Minuten
Michael Kretschmer (CDU), Ministerpräsident von Sachsen, sitzt in den Firmenräumen der Grünhorn-Gruppe.

Michael Kretschmer (CDU), Ministerpräsident von Sachsen, sitzt in den Firmenräumen der Grünhorn-Gruppe.

Kretschmer fordert im Interview die Durchsetzung europäischer Asylreformen zur Migration, betont notwendige Energiepolitik und marktwirtschaftliche Ansätze.

Herr Kretschmer, wie ist der doppelte Tabubruch von Friedrich Merz bei den Sachsen angekommen?

Michael Kretschmer: Ich kenne keinen Tabubruch von Friedrich Merz.

Der Unionskanzlerkandidat hat sein Versprechen gebrochen und sich eine Bundestagsmehrheit mit der AfD beschafft. Und er will EU-Recht brechen, um Flüchtlinge nicht ins Land zu lassen.

Bei unzähligen Wahlen in den vergangenen Jahren haben die Menschen angegeben, ein wichtiger Beweggrund für die Wahlentscheidung sei die Unzufriedenheit mit der Migration gewesen. Die fünf Punkte von Friedrich Merz sind sehr klug ausgewählt, weil sie gemeinsame Beschlüsse aller Ministerpräsidenten und Punkte aus dem SPD-Wahlprogramm aufgreifen. Wir schlagen Änderungen vor, die in anderen Ländern längst Normalität sind. Wann kommt die Politik ins Handeln, statt Haltung einzufordern? Ich beteilige mich nicht an der Placebo-Diskussion, ich möchte, dass wir die Demokratie verteidigen. Das gelingt, wenn man die Probleme löst, die den Menschen unter den Nägeln brennen.

Mein Vater hat seit 1963 immer die CDU gewählt. Jetzt sagt er: Wer am Holocaust-Gedenktag mit einer Partei abstimmt, die Neonazis in ihren Reihen hat, bekommt meine Stimme nicht mehr. Haben Sie solche Stimmen auch in Sachsen vernommen?

Man muss auch in den Formulierungen präzise sein. CDU und CSU haben nicht mit der AfD gestimmt. Es war unser Antrag, der unsere Überzeugungen beinhaltet, wie eine Sachfrage zu lösen ist, die die Menschen in unserem Land bewegt. Dem hat die AfD zugestimmt. Den Menschen in unserem Land geht es um Inhalte, um die Klärung des Themas Migration. Die Grünen sind dazu nicht bereit. Die SPD versucht, das richtige Vorgehen von Friedrich Merz für den Wahlkampf auszuschlachten. Ich rufe alle diejenigen auf, die es gut mit dem Land meinen und die Demokratie wirklich verteidigen wollen, möglichst noch vor der Wahl Maßnahmen zum Stopp der irregulären Migration zu beschließen. Denn die Probleme sind aus Sicht der Bevölkerung so gravierend, dass sie das Wahlverhalten massiv beeinflussen.

Merz will unter anderem Asylbewerber an den deutschen Grenzen zurückweisen. Der Europäische Gerichtshof hat das verboten. Wir sollten es trotzdem machen?

Ja, selbstverständlich. Solange die EU-Außengrenzen nicht sicher sind und wir an unserer Grenze nicht zeigen, dass jetzt Schluss ist, werden die Menschen zu uns durchgereicht. Dieses Durchleiten der Menschen ohne Registrierung und Asylverfahren bis nach Deutschland, das ist im Übrigen europarechtswidrig und muss beendet werden.

Was würden Ihre Nachbarn in Tschechien und Polen sagen, wenn das knallhart durchgezogen werden würde?

Das wird bereits gemacht. Ich komme von der polnischen Grenze. Mit Einführung der stationären Grenzkontrollen hat der Zustrom massiv abgenommen, weil sich die Länder um uns herum kümmern und bemühen. Und weil viele Menschen, die ohne gültige Papiere oder triftigen Einreisegrund abgewiesen werden, keinen Asylbegehren stellen. Es braucht die gemeinsame Sicherung der europäischen Außengrenzen, auch mit Geld aus Deutschland. Die Grünen haben das in der Bundesregierung lange blockiert.

Na ja. Die Ampel hat in der EU eine Reform der Asylregeln vereinbart, die genau das vorsieht: die Bearbeitung von Asylanträgen an den Außengrenzen. Warum stimmt die Union im Bundestag dem nicht zu?

Die Asylreform besteht aus insgesamt elf EU-Gesetzgebungsakten. Diese sind erst ab Mitte 2026 abwendbar. Deshalb besteht zurzeit keine Eile – wenn wir die Umsetzungs-Gesetze jetzt schon beschließen, würde sich in den nächsten Wochen und Monaten nichts ändern. Viel wichtiger ist, dass Deutschland jede, wirklich jede Möglichkeit nutzt, die das neue europäische Recht eröffnet, um illegale Migration zu stoppen. Dazu müssen wir uns die Gesetzentwürfe nochmal sehr sorgfältig anschauen und eventuell nachbessern. Zudem braucht es jetzt schnell wirksame Maßnahmen, insbesondere Zurückweisungen an den Grenzen.

Sie selbst haben bei der Landtagswahl im vergangenen Sommer einen hauchdünnen Vorsprung der CDU vor der AfD behauptet. Wie haben Sie das geschafft?

Mit einer Politik des gesunden Menschenverstandes. Ich versuche nicht, die Leute zu erziehen oder zu belehren, sondern die Sorgen aufzunehmen, die sie haben. Ich führe eine kritische und unverstellte Diskussion über die nun wirklich nicht einfache Lage. Das Thema Russland war sehr wichtig im Landtagswahlkampf. Ich habe klar gesagt: Die EU-Sanktionen, die die Bundesregierung mitgetragen hat, schaden Deutschland. Wir stoppen diesen Krieg nicht nur mit Waffenlieferungen, sondern mit Diplomatie. Aber Berlin und Brüssel betreiben Bekenntnispolitik. Ich habe auch meine Entrüstung über den Umgang mit den Bauern deutlich gemacht. Diese haben eine Ohnmachtserfahrung gemacht, sind nach Berlin gefahren, um mit der eigenen Regierung zu klären, wie sie besser arbeiten können. Sie wurden einfach abgewiesen. Ja, was glauben die Leute denn, was das in einer Demokratie für Folgen hat? In den zurückliegenden drei Jahren der Ampel-Regierung hat die AfD ihre Stimmanteile verdoppelt!

Sie würden als Bundeskanzler also wieder Putins Gas kaufen?

Dieser Krieg muss so schnell wie möglich angehalten werden. Und es ist gefährlich, dass China, Indien, Russland und andere aufstrebende Länder so stark zusammenwachsen, wie wir es gerade erleben.

Sachsens Industrie ist 2024 gewachsen. Wie kann das trotz Robert Habecks angeblicher Deindustriealisierungspolitik sein?

Deutschland steckt in der Rezession! Immer mehr Unternehmen wandern ab, die Arbeitslosigkeit steigt. Länder und Kommunen haben nicht genug Geld und müssen mit sinkenden Steuereinnahmen klarkommen. Deswegen brauchen wir sehr, sehr schnell eine andere Wirtschaftspolitik. Selbstgemachte Wachstumsbremsen auf dem Arbeitsmarkt, die bisherige Energiepolitik und zu hohe Standards helfen uns da nicht weiter. Und wir müssen schauen, wo wir die Staatsausgaben senken können. Sonst gerät der soziale Zusammenhalt wirklich in Gefahr.

Sie wollen die erneuerbaren Energien ausbremsen und an Gas und Kohle festhalten?

Energie ist die Achillesferse einer jeden Volkswirtschaft. Die Energiepreise entscheiden darüber, ob Industriebereiche überleben oder nicht. In den USA kostet eine Kilowattstunde Industriestrom 4 Cent. Wir sind in Richtung 12, 14 oder 16 Cent unterwegs. Das heißt: Die Energiewende muss neu aufgesetzt werden, weil sich die Voraussetzungen – Stichwort russisches Gas – geändert haben. Die beiden Ziele CO2-Minderung und wettbewerbsfähige Strompreise müssen auf eine Stufe gestellt werden. Mein Vorschlag: Es wird eine Kommission eingesetzt, die bis Ende des Jahres Zeit bekommt, um ein Energiesystem der Zukunft vorzuschlagen, das beiden Zielen gerecht wird. Sonst können wir die Abwanderung der Industrie nicht aufhalten.

Und was ist mit privaten Immobilienbesitzern? Müsste für sie nicht die Botschaft lauten: Geld vom Staat für Wärmenetze, wo es Sinn macht, ansonsten für Wärmepumpen und Sanierungen, statt eine neue Gasheizung einzubauen?

Die Bürger kennen diese Zusammenhänge. Aber muss der Staat denn alles vorschreiben? Meine Überzeugung: Wir müssen zurück zu marktwirtschaftlichen Instrumenten und es den Menschen überlassen, wie sie handeln. Die Lebenswirklichkeiten sind sehr verschieden, aber immer sehr konkret. Und die Leute sind sehr schlau. Sie ertragen es eher, selbst einen Fehler gemacht zu haben, der Geld kosten mag, als dass der Staat ihnen ständig im Weg rumsteht. Nach 1990 haben die Menschen im Osten die gewaltigen Umweltsünden der DDR in Freiheit beseitigt, und nicht mit Technologiefeindlichkeit und Mikrosteuerung.

Machen Sie sich eigentlich ernsthaft Sorgen, dass Deutschland nach der Wahl unregierbar werden könnte?

Wir brauchen wieder mehr Miteinander. Wir müssen aus der Geschichte lernen und müssen Respekt vor ihr haben. Wir alle sind in die Zeit gestellt, in der wir sind, und können uns keine andere aussuchen. Man wird uns danach bewerten, ob wir es als vernünftige, erwachsene, demokratische Politiker schaffen, zu klären, was zu klären ist. Dazu bin ich und dazu ist die CDU bereit.