Der Politikwissenschaftler Thomas Jäger sieht den weiteren Kriegsverlauf in der Ukraine von vielen Ungewissheiten geprägt.
Nach etlichen Anschlägen auf russische Rekrutierungsbüros und ein Raketenforschungszentrum in Twer nun der Mord an der Tochter eines russischen Ultranationalisten – Herr Professor Jäger, was sagt das über die Situation in Russland?
Wir wissen es noch nicht genau. Wir wissen nicht, wer wirklich dahintersteckt und wer den Anschlag wie nutzen wird. Die russische Führung hat sich dazu noch nicht geäußert. Eine angebliche Widerstandsgruppe will den Anschlag begangen haben. Andere sagen die Ukraine. Manche meinen der russische Geheimdienst. Stimmt das, stimmt das nicht? Wir wissen es noch nicht.
Aber was könnte die russische Führung für Konsequenzen ziehen?
Es gibt Deutungen, der Anschlag liefere ihr Vorwände, um die Repression zu erhöhen oder sogar eine Teilmobilmachung zu begründen. Andere meinen, die Attentäter wollten die Unsicherheit im Land erhöhen. Die russische Führung wird am Ende die Version verbreiten, bei der sie den Anschlag am besten politisch ausnutzen kann.
Ein halbes Jahr nach Beginn des Ukraine-Krieges sehen wir auf der Landkarte kaum Veränderungen im Frontverlauf. Steht der Krieg vor einem Patt?
Es gab bisher drei Kriegsphasen, und es ist noch nicht sicher erkennbar, ob wir vor einer vierten stehen oder noch mitten in der dritten stecken. Erste Phase: Die schnelle Einnahme von Kiew ist gescheitert. Zweite Phase: Eine zügige Einnahme des Donbass ist gescheitert. Dritte Phase: Russland versucht, den Donbass Kilometer, Straße für Straße einzunehmen. Das läuft derzeit. Russland bewegt sich langsam vorwärts und nimmt Gebiete ein, die es zuvor in Steinwüsten verwandelt hat. Die Ukraine baut eine Drohkulisse im Süden auf, zerstört wichtige Brücken, greift Munitionsdepots an. Aber es ist unklar, was daraus wird.
Welche Szenarien gibt es?
Wieder drei. Erstens, es geht so Stück für Stück weiter. Russland nimmt den Donbass ein, aber auch die Reste der Oblaste Saporischschja und Cherson, die Ukraine kann das nicht zurückerobern. Zweitens, es geht viel schneller, denn Russland erzielt auf anderen Schauplätzen rasche Fortschritte. Es erpresst Europa und die anderen Unterstützer der Ukraine erfolgreich mit Gas, stellt die Frage, wie viele Millionen Hungertote in anderen Teilen der Welt Demokratien in Kauf nehmen wollen. Über den Winter hinweg schafft es Russland, die Öffentlichkeit in europäischen Staaten zu mobilisieren und sie zu destabilisieren. Die Ukraine erhält kaum mehr Unterstützung und wird besetzt.
Und das Szenario drei?
Das wäre günstig für die Ukraine: Sie könnte in diesem Szenario Russland erheblich schwächen, könnte gezielte Schläge gegen russische Einrichtungen in den besetzten Gebieten führen, und in der politischen Elite und der Öffentlichkeit Russlands entstünde der Eindruck, dass man sich verrannt hat. Auch weil die westlichen Sanktionen wirken. Die Opposition in Russland wächst. Das könnte dazu führen, dass Russland verhandeln und einige ukrainische Gebiete räumen muss. Da ist ja zum Beispiel für Kiew die einzige Möglichkeit, das Atomkraftwerk Saporischschja zurückzubekommen. Die Ukraine kann das nicht zurückerobern, die Schäden wären viel zu groß. Sie kann nur auf politische Lösung hoffen.
Am Ende geht es in so einem Szenario ja ums Zermürben der russischen Angreifer.
Hat die Ukraine dafür genug Zeit?
Die Verfügbarkeit der Ressourcen ist die entscheidende Frage. Die Zeit spielt für den, der mehr Ressourcen hat. Momentan herrscht da ein Gleichstand. Es ist nicht so, dass Russland die Munition ausginge. Wir wissen aber nicht, wie lange sie noch reicht, welches Material Russland genau noch hat, wo es gelagert ist, in welchem Maße es der Ukraine gelingt, weitere Depots zu zerstören. Die Ukraine andererseits ist total vom Westen abhängig. Solange die Unterstützung läuft, kann sie mithalten.
Das Kieler Institut für Weltwirtschaft hat gerade festgestellt, dass die Unterstützung aus Europa eher nachlässt – das war allerdings vor der neuesten deutschen Hilfszusage mit den Vulcano-Granaten. Ist die westliche Unterstützung vielleicht sogar ganz bewusst eher knapp bemessen?
Es war von Anfang an so: Man hat die gelieferte Munition so ausgewählt, dass die Ukraine sich verteidigen kann, aber keine Schläge gegen russisches Gebiet führen kann. Wir wissen aber nicht, ob alles veröffentlicht wird, was in der Ukraine ankommt. Im Krieg geht es ja auch darum, den Gegner durch Streuen oder Zurückhalten von Informationen zu verwirren. Entscheidend ist das Kriegsgeschehen, und hier muss man sagen: Die Ukraine ist in der Lage, sich zu wehren und die russischen Kräfte im Süden zu binden. Aber wir wissen auch nicht, wie viele Soldaten sie einsatzfähig hat. Während die Ukraine die russischen Verluste mit 44 000 Soldaten angibt, seien auf der eigenen Seite 9000 Soldaten gefallen. Stimmt das, dürften bis zu 40 000 Soldaten nicht mehr kampffähig sein. Andererseits bildet sie Freiwillige neu aus, und die sind wahrscheinlich professionell besser als die Sträflinge, die Russland jetzt als Frontkämpfer anwirbt. Also: Derzeit halten sich zwei Kräfte gegenseitig in Schach – und das ist schon eine große Überraschung, denn Russland wurde doch anfangs viel stärker eingeschätzt.
FDP-Vize Wolfgang Kubicki und der Ruf nach Nord Stream 2, der Brandbrief von Handwerkern aus Halle, die Pfiffe gegen den Kanzler – wie lange halten wir das noch durch?
Ja, es ist erstaunlich, aus welch unterschiedlichen politischen Lagern Äußerungen kommen, die mit den russischen Interessen übereinstimmen. Die Diskussion wird aber falsch geführt, und die Regierung ist nicht ausreichend darauf vorbereitet, die Dimension dieser Debatte deutlich zu machen. Wir erleben hier eine ausgemacht nationalistische Argumentation von rechts bis links. Es geht bei Fragen wie der Öffnung von Nord Stream 2 oder den Waffenlieferungen aber doch nicht um Deutschland. Ein nationaler Eingang Deutschlands würde vielmehr die EU sprengen. Es geht nicht um die Ukraine und Deutschland, wie Nationalisten meinen, sondern darum, welches Ordnungsmodell unseren Kontinent prägt. Die russische Antwort ist: Hier kämpfen Nationalstaaten um Dominanz. Die Antwort der EU ist: Auch ehemals imperialistischen Staaten wie Frankreich und Deutschland geben ihre Ambitionen auf, Interessenkonflikte werden zukünftig auf friedliche Weise geregelt. Die Frage ist, ob sich das russische Modell durchsetzt. Also das Modell: Es geht nur um uns, das sind ja nur Wir. Oder ob sich das Modell der EU durchsetzt. Hinter der Argumentation, wir brauchten doch das russische Gas, steckt ein zentraler nationalistischer Gedanke, der für unser Land, für unsere Außenpolitik, aber auch für unseren Wohlstand viel zerstörerischer ist als alles, was wir gerade erleben.
Aber diese Probleme haben wir auch anderswo in der EU …
Ja, und umso wichtiger ist es für unser Land, das ökonomisch stärkste Land der EU, seiner Führungsrolle gerecht zu werden. Ungarn kann sich seinen Nationalismus leisten, und wir können das System Orban vielleicht einfach aussitzen. Aber es bröckelt auch in Italien und Österreich. Andererseits erhöhen die baltischen Staaten, Polen und die Skandinavier den Druck auf weitere Sanktionen. Umso wichtiger ist es, die EU zusammenzuhalten. Das ist eine Aufgabe, die schon die Bundesregierungen unter Gerhard Schröder und Angela Merkel sträflich vernachlässig haben. Wenn Olaf Scholz das ebenfalls macht, nimmt die EU dauerhaft Schaden.
Sie haben vorhin drei Szenarien genannt, von denen nur das dritte für Ukraine richtig gut ist. Welches ist am ehesten wahrscheinlich?
Am ehesten das erste Szenario. Ein Abnutzungskrieg, der auf beiden Seiten weitergeht. Russland kann das nicht kurzfristig zu seinen Gunsten kippen, aber ich sehe auch wenig Chancen für den politischen Wandel in Russland, auf den die Ukraine setzen müsste. Es kommt aber ein großes Aber: In der Geschichte gab es immer wieder Situationen, in denen solche Lagen überraschend gekippt sind. Deshalb sollten sich alle, die Verantwortung tragen, auf die erwartbaren Lagen einstellen, aber auch auf mögliche Überraschungen.