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Interview mit Kevin Kühnert„Der Personenkult um mich war absurd“

Lesezeit 11 Minuten
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Kevin Kühnert, der Bundesvorsitzende der Jusos, kommentiert ebenfalls an der Seite des Kölners Robby Hunke. 

Berlin – Es ist heiß, aber Kevin Kühnert trägt an diesem Tag einen Kapuzenpulli. Der 29-Jährige hat eine verrückte Zeit hinter sich: Innerhalb kürzester Zeit ist er im vergangenen Jahr von einem unbekannten Hobby-Politiker zum Machtfaktor geworden, einen riesigen Rummel um seine Person inklusive.

Was will er in seiner Partei, der SPD, bewegen? Und: Was bewegt den Menschen Kevin Kühnert? Eineinhalb Stunden lang haben wir im Willy-Brandt-Haus mit dem Juso-Chef über Politisches und Persönliches gesprochen, von der Forderung nach der Abschaffung von Hartz IV bis hin zu seinem Coming Out.

Herr Kühnert, was war das für ein Gefühl, als Sie sich das erste Mal im Fernsehen gesehen haben?

Ungewohnt, irgendwie seltsam. Und das nicht nur für mich, sondern auch für mein Umfeld. Am Anfang habe ich noch regelmäßig Nachrichten von meiner Oma bekommen, wenn sie mich irgendwo entdeckt hat.

Gibt es irgendetwas, was Sie nicht mehr machen können, seit Sie bekannt sind?

Die Anonymität ist weg. Das ist die spürbarste Veränderung. Auf der Straße oder in der Bahn unterwegs zu sein, heißt angeguckt und angesprochen zu werden. Ich habe zwar fast immer positive Erfahrungen gemacht. Aber es verändert das eigene Leben, wenn man realisiert: Bei allem, was ich tue, muss ich einkalkulieren, dass mich jemand sieht und zuordnet.

Also geht es Ihnen wie einem jungen Lehrer nach dem Studium, der denkt: „Oh Gott, ich kann hier nicht mehr betrunken nach Hause wanken…“

Nein. Das fände ich auch bedenklich, wenn ich mir nicht mehr trauen würde, auf einer Party drei Bier zu trinken – falls ich da mal Lust drauf habe. Ich will kein klinisch reines Bild von mir produzieren. Die Leute sollen nicht denken: Der steht immer um sechs Uhr morgens auf und ernährt sich nur von Obstsäften. Das glaubt doch sowieso keiner.

Sie haben Martin Schulz aus nächster Nähe erlebt, als er – wenige Tage nach seinem unbedingten Nein zur großen Koalition – auf dem Juso-Bundeskongress in Saarbrücken die Wende einleitete. Wie ein Häufchen Elend stand er auf der Bühne und sagte: „Ich will gar nichts.“ Waren Sie da wütend auf ihn? Oder tat Ihnen der SPD-Vorsitzende leid?

Er hat mir erst mal leidgetan, weil er an diesem Tag richtig krank war und hohes Fieber hatte. Der Mann hätte ins Bett gehört – und durfte sich nicht auskurieren. Das wirft ein Schlaglicht darauf, wie hart und unnachgiebig der Politikbetrieb in solchen Momenten ist.

„Mitleid ist keine politische Kategorie“

In der Sache fanden Sie sein Schlingern ziemlich daneben.

Absolut. Martin Schulz hat sich seine Rede ja nicht spontan ausgedacht, sondern er wusste, was er tat. Mitleid ist auch keine politische Kategorie. Das Wort wütend trifft meine Gefühlslage von damals aber dennoch nicht. Ich fand den Kurs einfach falsch, den Schulz und der SPD-Vorstand plötzlich einschlugen.

Nach dem Juso-Kongress wurden Sie schnell zur Gallionsfigur der Gegner einer großen Koalition. Von jetzt auf gleich waren Sie – einfach nur wegen des konsequenten Festhaltens an einem Standpunkt – ein politischer Popstar. Irre, oder?

Ja. Der Personenkult war absurd. Ich bin ja auch gar nicht der Entdecker einer Geheimrezeptur, wie man die Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert retten kann. Ich habe mit den Jusos zusammen zunächst mal nur die Position gehalten, die der SPD-Parteivorstand im September und im November zwei Mal beschlossen hatte: Die große Koalition ist abgewählt. Dass wir damit solche Kreise gezogen haben, lag auch daran, dass wir die einzige organisierte Gruppe in der SPD waren, die das so durchgezogen hat. Da hatten wir eine gewisse Exklusivität.

Hatten Sie zwischendurch Angst, dass es Ihnen in unserer schnelllebigen Zeit genau so ergehen könnte wie Martin Schulz: erst gefeiert, dann komplett abgestürzt?

Das war mir nicht so wichtig. Martin Schulz hat Hype und Absturz in einer Bewerbungssituation erlebt: Er wollte Kanzler werden. Ich war ja schon in dem Amt, in dem ich gern arbeiten wollte: Juso-Vorsitzender. Meine Aufgabe ist, die politische Stimme unseres Jugendverbandes sein. Den Job kann man auch machen, ohne dass dafür alle applaudieren.

Jetzt ist die SPD in der großen Koalition, will sich aber zugleich erneuern. Muss am Ende dieses Prozesses der Bruch mit Hartz IV stehen?

Mein Ziel ist nicht, dass am Ende nur rauskommt: Hartz IV war doof. Mein Ziel ist, dass wir mit der Logik dahinter brechen, die nämlich nicht nur Betroffenen als Drohkulisse erscheint. Deshalb habe ich in den Erneuerungsprozess die Frage eingebracht: Was kommt nach Hartz IV? Der Vorstand hat einstimmig beschlossen, dass die ganze Partei sich mit dieser Frage beschäftigen wird. Wir wollen etwas Gerechteres als Hartz IV, das breite Akzeptanz genießt. Es darf nicht nur um die 78. Korrektur einer Reform gehen, die ganz viele Menschen abgrundtief ablehnen.

Also Sie versprechen: Die SPD macht definitiv Schluss mit Hartz IV.

Dazu müssen wir aber auch erst mal etwas Besseres finden. Die Höhe der Regelsätze, Sanktionen, Weiterbildung, Schonvermögen und wie wir Kinder aus diesem System rausbekommen – das alles steht auf der To-do-Liste. Die Erneuerung der SPD ist erst dann gelungen, wenn diesmal nicht nur die SPD selbst findet, dass sie gelungen ist. Der Gradmesser ist die Gesellschaft, nicht unser Parteitag.

„Wir haben ein negatives Eigenbild“

Die SPD erinnert in ihrem aktuellen Zustand an ein abgestandenes Bier, das im Partykeller in der Ecke steht und das keiner mehr trinken will. Wie wollen Sie daraus einen Cocktail machen, der auch junge Menschen begeistert?

Also ich trinke ja lieber Bier als Cocktails. Diese Außenwahrnehmung der SPD kommt nicht zuletzt daher, dass wir im Moment auch ein negatives Eigenbild haben. Das durchschnittliche SPD-Mitglied spricht derzeit nicht gerade euphorisch von seiner Partei. Dauergrinsen löst das Problem natürlich nicht.

Uns ist aber zu oft die Lust abhandengekommen, über tagespolitische Detailgestaltung hinaus Fragen der Zukunft zu diskutieren: Wie sieht die Arbeitsgesellschaft in 20 Jahren aus? Was sind gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land? Die SPD muss wieder ein Debattenort werden, wo Menschen hingehen, weil sie sonst etwas verpassen.

Wenn Sie so über die SPD sprechen, klingt das nach einem sterilen Empfang oder einer total langweiligen Party, auf der weder Gastgeber noch Gäste Spaß haben.

Die SPD war mal eine ziemlich erfolgreiche Partyreihe. Wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie diese Partyreihe ein Revival erleben kann. Da haben mittlerweile ein paar andere Clubs aufgemacht, in denen man auch gut feiern kann. Wir glauben aber, dass unser Club immer noch viel zu bieten hätte. Aber nicht, indem man einfach so weitermacht. Wir müssen vor allem mal unsere Playlist überarbeiten. Bier kann man dann ja trotzdem noch trinken.

Andrea Nahles war mal Juso-Vorsitzende. Heute ist sie SPD-Chefin und sagt zur Flüchtlingspolitik Sätze wie „Wir können nicht alle aufnehmen“. Muss man für Macht einen Preis an Idealismus zahlen?

Das ist mir zu einfach. Ich würde weder ihr noch Gerhard Schröder oder anderen früheren Juso-Vorsitzenden grundsätzlich vorwerfen, dass sie Positionen geändert haben. Ich möchte meine politische Standfestigkeit auch nicht daran messen lassen, dass ich in 20 Jahren noch eins zu eins das Gleiche sage wie heute. Das tut niemand. Die Frage ist: Kommen die Veränderungen aus einem Lernprozess heraus – oder ist man getrieben von Taktik und Tagespolitik? Sagt man also etwas nur, weil man denkt, andere wollen es hören?

Wie zum Beispiel den Satz „Wir können nicht alle aufnehmen“?

Der Satz ist Quatsch und aus guten Gründen nicht wiederholt worden. In der politischen Kommunikation sollten wir nie Pappkameraden aufbauen. Genau das wurde hier aber gemacht. Es ist ja nicht so, als fordere irgendwer, dass Deutschland alle Menschen aufnimmt, die auf der ganzen Welt auf der Flucht sind. So löst sich eine Debatte von den Fakten. Das ist schlecht.

„Es kann hässlich aussehen, wenn Politiker von Prinzipien abweichen“

Sie studieren Politikwissenschaften und Soziologie. Außerdem arbeiten Sie im Berliner Abgeordnetenhaus für eine Parlamentarierin. Würde es Sie als Politiker nicht freier machen, auf eine Ausbildung zurückgreifen zu können, die nichts mit Politik zu tun hat?

Ich finde es logisch, den eigenen Neigungen nachzugehen. Die meisten Menschen sind dort am besten aufgehoben, wo sie eine Leidenschaft haben. Mich treibt an, Dinge politisch zu gestalten. Das ist für mich ein moralischer Imperativ. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, vorher noch den Beruf des Controllers in einem Konzern zu erlernen – nur um eine Rückfalloption zu haben.

Bei der Rückfalloption geht es darum, nicht erpressbar zu sein. Was ist, wenn Sie mal in eine Situation kommen, in der Sie vor der Wahl stehen, entweder gegen die eigene Überzeugung bei einer Sache mitzuziehen oder die eigene politische Karriere zu verlieren?

Es kann hässlich aussehen, wenn Politiker von Prinzipien abweichen, nur um ihr Mandat zu behalten. Das beobachten wir aber auch bei solchen, die wirtschaftlich bestens abgesichert sind. Der beste Schutz dagegen ist politisches Engagement, das nicht auf das Parlament beschränkt ist.

Wer sich nur vorstellen kann, als Abgeordneter Politik zu machen, ist womöglich irgendwann darauf angewiesen, auf Teufel komm raus einer Mehrheitsmeinung nachzulaufen – auch wenn er sie für falsch hält. Für die eigene Überzeugung kann man aber auch in Gewerkschaften, Stiftungen und ehrenamtlich kämpfen. So wie 99 Prozent unserer Mitglieder. Übrigens ist auch der Juso-Vorsitz ein Ehrenamt.

Der engere Führungszirkel der SPD sucht jetzt häufiger Kontakt mit Ihnen als früher. Kann man mit Olaf Scholz so richtig Spaß haben?

Olaf Scholz hat einen feinen, trockenen Humor, wie ich in und um Parteivorstandsitzungen herum festgestellt habe. Es ist lähmend, wenn über Gremiensitzungen nur Bierernst schwebt. Dafür, dass das bei der SPD nicht mehr so krass ist, leistet vor allem Andrea Nahles als Vorsitzende einen riesigen Beitrag. Es steckt an, wenn sie mal einen ihrer heftigen Lachanfälle bekommt. Das lädt auch andere ein, sich mal locker zu machen.

„Es ist unwahrscheinlich, dass ich mich in jeamden aus der Jungen Union verlieben werde“

Das Persönliche ist politisch. Könnten Sie sich in jemanden von der Jungen Union verlieben?

Das ist sehr unwahrscheinlich. Ich fände es zwar öde, immer nur gleich tickende Menschen um mich herum zu haben. Aber ich habe keine Lust in meinem privatesten Umfeld permanent über Grundsätzliches streiten zu müssen. Die große Stärke einer Partei, Gewerkschaft oder ähnlichen Interessensorganisation ist, dass man sich in gewissen Grundstandards einig ist, ohne das jedes Mal ausdiskutieren zu müssen.

Als Sie im Magazin „Die Siegessäule“ über Ihre Homosexualität gesprochen haben, hat auch Markus Lanz Sie im Fernsehen danach gefragt. Und er kam ganz schön ins Stammeln. Hat Sie das überrascht?

Ich saß auch da und habe gedacht: Mensch, wann bringt er die Frage jetzt endlich zum Ende? Ich wusste, dass sie kommt. Lanz hatte mich vor der Sendung gefragt, ob es okay ist, das Thema anzusprechen. Ich glaube, der leichte Hang zum Stammeln hatte weniger mit ihm zu tun als damit, dass er krampfhaft überlegt hat, wie er sein Publikum am besten in den Themenkomplex reinführt. Für mich war das eher belustigend – weil es gezeigt hat, dass um das Thema oft doch noch ein ziemlicher Eiertanz aufgeführt wird.

Erika Steinbach hat sich auf Twitter über Sie beklagt: „Warum um alles in der Welt, werden wir immer mit so Nebensächlichkeiten wie sexuelle Neigungen behelligt?“ Steinbach unterstützt die AfD. Es gibt aber auch jenseits dieses politischen Umfelds Menschen, die so denken.

Wer in der Öffentlichkeit steht, muss sich darauf einstellen, im Zweifel immer wieder nach einer Freundin gefragt zu werden. Ich hätte also die Möglichkeit gehabt, dann jedes Mal verlegen auf den Boden zu schauen. Oder eben einfach offen und selbstverständlich darüber zu sprechen, dass ich schwul bin. Das war mir auch deshalb wichtig, weil es noch immer viele junge Menschen gibt, für die das Coming Out schwierig ist. Mir haben einige 16-Jährige geschrieben, die sich bei mir für die Ermutigung bedankt haben.

Gibt es irgendeinen Rat, den Sie anderen für das Coming Out geben können?

Ehrlicherweise: Nein. Jeder hat ja andere Eltern, andere Freunde. Ich selbst war so 15, 16 Jahre alt, als ich mein Coming Out hatte – die Situation hat sich gar nicht so tief in mein Gedächtnis eingraviert. Das liegt vermutlich daran, dass ich Glück hatte. Bei mir war ziemlich schnell alles fein. Das wünsche ich anderen auch.

Sie sagen immer: „Aus der SPD tritt man nicht aus, aus der SPD stirbt man raus.“ Halten Sie es für möglich, dass die SPD vor Ihnen tot ist?

Dass sie tot ist? Nein, damit rechne ich nicht. Die Frage, die mich umtreibt, ist aber auch nicht, ob die SPD aus einem Register gelöscht wird. Mir geht es darum, ob sie es schafft, eine wirkliche Transformation in das jetzige und nächste Zeitalter unserer gesellschaftlichen Entwicklung hinzubekommen. Halten wir Schritt? Oder sagen die Leute: „Ach, das ist ein süßes Relikt, das uns an früher erinnert. Da erzählen ein paar Opis von der guten alten Zeit.“

Wie möchten Sie in Erinnerung bleiben?

Als Freund, als einer, der wichtige zwischenmenschliche Beziehungen ein Leben lang gepflegt hat. Ich fände es cool, wenn es mir gelänge, mit meinem besten Kumpel im Alter von 75 Jahren noch auf Sportveranstaltungen abzuhängen. Das ist ein Gedanke, mit dem wir uns beide sehr gut anfreunden können und der uns beide antreibt.

Zur Person

Kevin Kühnert wurde im Jahr 1989 wenige Monate vor dem Mauerfall in West-Berlin geboren. Der 29-Jährige studiert Politikwissenschaft und Soziologie an der Fernuniversität Hagen und er arbeitet für eine Parlamentarierin im Berliner Abgeordnetenhaus.

Zur SPD kam er über ein Schülerpraktikum. Im November 2017 wurde er zum Vorsitzenden der Jusos gewählt, der Nachwuchsorganisation der Partei. Genau zu diesem Zeitpunkt leitete die Parteispitze einen Kurswechsel hin zur großen Koalition ein. Die Jusos hielten dagegen. Kühnert wurde Kopf der No-Groko-Bewegung – und bundesweit bekannt.