- Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki spricht im Interview mit Raimund Neuss über die Aufklärung des kirchlichen Umgangs mit Missbrauchsfällen und über die Kritik an seiner Person.
Herr Kardinal, Sie haben tabulose Aufklärung des Umgangs mit sexualisierter Gewalt an Kindern im Raum des Erzbistums Köln versprochen. Jetzt fühlen sich Betroffene missbraucht, und der Kölner Domdechant Robert Kleine sagt, im innersten Raum der Kirche fehle vielen der Glaube an den Aufklärungswillen ihres Erzbischofs. Können Sie unter diesen Umständen die Aufarbeitung überhaupt noch weitertreiben?Selbstverständlich. Ich stehe zu meinem Versprechen, das ich vor allem den Betroffenen gegeben habe. Bei ihnen bin ich im Wort Das Datum steht ja fest: Am 18. März werden wir das Gutachten der Anwalts Björn Gercke vorlegen. Wir sind weiter im Gespräch mit dem Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen sexuellen Missbrauchs, Johann-Wilhelm Rörig, und wir lösen auch die Vereinbarung zwischen der Bischofskonferenz und Herrn Rörig ein: Wir richten eine Unabhängige Kommission ein, die das Gercke-Gutachten genauso erhalten wird wie das Gutachten der Münchner Kanzlei Westphal Spilker Wastl, um das so viel gestritten wird. Wir klären auf, ich stehe zu meinem Versprechen.
Sind Sie mit Ihren Kritikern im Gespräch?
Ja, ich bin mit vielen im Gespräch, auch mit Stadtdechant Kleine.
Und mit dem Diözesanrat der Katholiken, der jetzt die Zusammenarbeit bei der Gemeindereform aufgekündigt hat?
Der Austausch ist intensiv. Wissen Sie, ich habe mit dem Vorsitzenden Tim Kurzbach noch im Oktober lange zusammengesessen. Vertreter des Diözesanrats sind in alle Fragen eingebunden, und übrigens: Der Vorschlag, den Prozess des Pastoralen Zukunftswegs zu entschleunigen, der kam von uns.
Aber warum lassen Sie nicht zu, dass das Münchner Gutachten veröffentlicht wird?
Wir veröffentlichen am 18. März das Gutachten der Kanzlei Gercke, und wir gewähren Betroffenen, Journalisten und anderen Interessierten dann auch Einsicht in das Münchner Gutachten. Die Kanzlei Gercke wird alle Standards erfüllen, die das Münchner Gutachten nach Auffassung unserer Fachleute verfehlt. Ich kenne das Münchner Gutachten ja nicht, aber diese Experten sehen schwere methodische Mängel und Verstöße gegen Persönlichkeits- und Äußerungsrechte. Professor Gercke hat im Unterschied zu den Münchnern alle handschriftlichen Notizen gesichtet. Er wertet alle 236 vorliegenden Fälle aus, die Münchner haben angeblich 15 ausgewählt - nach Auffassung der Fachleute, die es gelesen haben, nach nicht nachvollziehbaren Kriterien. Gerckes Gutachten wird handwerklich sauber sein und es möglich machen, mein Versprechen einzulösen: Wir werden Namen von Verantwortlichen nennen. Auch die Münchner Kanzlei hatte uns zugesichert, eine rechtlich einwandfreie Grundlage für eine solche Namensnennung zu schaffen, aber das nach Ansicht von Fachleuten nicht halten können.
Aber der Vorschlag des Münchner Anwalts Ulrich Wastl, das Gutachten auf eigene Rechnung zu veröffentlichen, ist nicht umsetzbar?
Ich kann mich nur auf das Urteil unserer Fachleute verlassen, die sagen: Das geht juristisch nicht. Weiter kann ich nur sagen: Am 18. März veröffentlichen wir ein Gutachten, das aufklären wird, das rechtssicher ist, aus dem wir lernen können, so dass sexualisierte Gewalt im Erzbistum Köln keine Chance hat. Ein weiterer Baustein in unserer Aufklärungsarbeit, die wir mit unserer Prävention und Intervention leisten.
Das Erzbistum Berlin hat gerade ein Gutachten veröffentlicht, in dem der ganze Mittelteil, der mit den meisten Namen, fehlt. Geht das in Köln anders?
Die Entscheidung in Berlin kann ich nicht beurteilen. Dass es bei uns anders geht, hat Herr Prof. Gercke mit zugesichert, und darauf vertraue ich.In der veröffentlichten Fassung des Berliner Gutachtens werden Dekrete erwähnt, die Sie als Erzbischof von Berlin unterschrieben hätten und die nach Auffassung der Gutachter nicht nachvollziehbar seien.
Es ging um Bescheide über Untersuchungsaufträge, die ich erteilt hatte, und Verfahrenseinstellungen. Ich habe dabei nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, gestützt auf Empfehlungen des zuständigen Ermittlungsführers und kirchlichen Untersuchungsrichters.
Was bedeutet die breite Kritik für Sie persönlich?
Das Ganze ist nicht schön für mich, aber es geht ja auch nicht um mich. Es geht um die Betroffenen. Das ist das Entscheidende. Es geht darum, das Unrecht, das über Jahre und Jahrzehnte in der Kirche existiert hat, aufgeklärt wird. Und dass die Betroffenen zu ihrem Recht kommen. Ich tue das für die Betroffenen, damit sie ein Stück Gerechtigkeit erfahren. Meine Person interessiert da nicht.
Wie blicken Sie jetzt auf Ihren Vorgänger Joachim Kardinal Meisner?
Wir müssen das Gutachten abwarten und dann sehen, ob wir das Wirken von Kardinal Meisner in diesen Fragen neu bewerten müssen.
Sie selbst stehen in der Kritik, weil Sie 2015 über die Einstellung des Verfahrens gegen einen schwer demenzkranken Düsseldorfer Pfarrer, dem Sie eng verbunden waren, selbst entschieden haben. Hätten Sie das nicht besser nach Rom gegeben?
Ich habe mein Gewissen geprüft, und ich bin persönlich der Überzeugung, dass ich mich korrekt verhalten habe. Aber auf meine Einschätzung kommt es nicht an: Professor Gercke untersucht den Fall - die Münchner Anwälte haben ihn angeblich nicht mit aufgenommen, wie ich von Experten höre. Ich werde mich natürlich meiner Verantwortung stellen und warte darauf, dass das jetzt von unabhängiger Seite in Rom geprüft wird.
Nach dem 18. März wird sich die Frage nach Konsequenzen stellen. Was erwarten Sie von Verantwortungsträgern im Erzbistum?
Zunächst mal: Das Gutachten ist ein weiterer Meilenstein im Prozess der Aufklärung, der bei uns seit Jahren läuft. Ein Weg, der schwierig war und auf dem wir Fehler gemacht haben. Ich bin dankbar, dass wir diesen Meilenstein jetzt erreichen, und ich erwarte, dass jeder, der in diesem Erzbistum eine Verantwortung getragen hat, sich dazu bekennt. Ich werde das auch tun. Mein Versprechen, ein veröffentlichungsfähiges Gutachten vorzulegen, werde ich eingelöst haben. Aber das wird nicht der Endpunkt, sondern der Ausgangspunkt für weitere Aufarbeitung sein.
Sie sprechen von Fehlern, die Sie gemacht haben …
Ein Fehler war, dass wir immer wieder den Zusagen der Münchner Kanzlei vertraut haben, eine rechtssichere Aufarbeitung vorzulegen. Dann war es natürlich ein Fehler, Journalisten zum Hintergrundgespräch einzuladen und dabei mit einer Verschwiegenheitserklärung zu konfrontieren. Das führte zu dem Eindruck, wir wollten keine offene und unabhängige Berichterstattung. Fehler haben wir sicher auch im Gespräch mit den Betroffenen gemacht, als klar wurde, dass das Münchner Gutachten nicht veröffentlicht werden konnte. Diese Entscheidung hätten wir als Erzbistum allein vertreten müssen, anstatt dem Angebot von Betroffenenvertretern nachzukommen, mit dafür einzustehen. Sie hatten das angeboten, aber wir hätten das nicht annehmen dürfen. Und wir hätten darauf dringen müssen, dass auch die Betroffenenvertreter mehr Zeit haben, darüber nachzudenken, ob eine neue Kanzlei beauftragt werden soll. Einmal darüber schlafen, das wäre gut gewesen.
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Was sagen Sie zu Forderungen nach Ihrem Rücktritt oder zumindest nach einer Apostolischen Visitation?
Wir stehen kurz vor der Aufklärung. Wir haben Fehler gemacht, wir haben Vertrauen verspielt, ich verstehe die Ungeduld. Deshalb verstehe ich emotional auch, wenn Leute glauben, wir würden die Zeit nutzen, um etwas unter den Teppich zu kehren. Ich kann da nur um Geduld bitten. In sechs Wochen werden die Verantwortlichen genannt, werden auch strukturelle und organisatorische Mängel benannt. Nicht mehr ich entscheide, was dann weiter geschieht, sondern das macht in Abstimmung mit der Landesregierung die Unabhängige Kommission, der dann beide Gutachten vorlegen. Sie wird die Aufklärung weiter unabhängig, transparent, zum Wohle der Betroffenen betreiben.
Wie schaffen Sie es, dass die ganze Missbrauchsthematik nicht das überlagert, was die Kirche eigentlich zu sagen hat – gerade in der schweren gesellschaftlichen Krise, in die Corona uns gestürzt hat?
Wir haben uns diese Situation ja nicht ausgesucht, und wir müssen uns diesen Fragen stellen. Es geht um Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit, um Umgang mit Verbrechen, die im Raum der Kirche geschehen sind, um Wiedergutmachung, um Schuld und Versagen. Aber das hindert uns doch nicht daran, unserem Verkündigungsauftrag nachzukommen. In vielen Gemeinden helfen Ehrenamtliche zum Beispiel alten und einsamen Menschen in der Pandemie, begleiten sie etwa zu Impfungen. Es gibt das Tatzeugnis, und es gibt auch das Wortzeugnis.
Chronik der Aufarbeitung im Erzbistum Köln
2018 Am 25.. September stellt die Deutsche Bischofskonferenz eine bundesweite Studie zu Missbrauchsfällen von 1946 bis 2014 vor. Die Autoren fanden Hinweise auf 1677 Betroffene und 1670 Beschuldigte, davon mindestens 135 Betroffene und 87 Beschuldigte im Erzbistum Köln. Am 13. Dezember beauftragt der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki die Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW), den Umgang des Erzbistums mit solchen Fällen in einem Gutachten zu prüfen.
2020 Am 12. Februar kündigt Generalvikar Markus Hofmann in der Rundschau an, das WSW-Gutachten werde am 12. März 2020 vorgelegt. Zwei Tage vor diesem Termin sagt das Erzbistum die Vorstellung des Gutachtens ab. Die vorgesehene Nennung von Verantwortlichen müsse noch "äußerungsrechtlich" abgesichert werden. Im Herbst werden Vorwürfe gegen den Hamburger Erzbischof Stefan Heße laut, die sich offenbar auf das unveröffentlichte Gutachten stüzen: Er soll als Personalchef im Erzbistum Köln Missbrauchsfälle vertuscht haben. Am 30. Oktober teilt das Erzbistum mit, dass das WSW-Gutachten nicht veröffenticht wird. Statt dessen wird der Kölner Starfrechter Björn Gercke beauftragt. Der Vorsiztende des von Woelki berufenen Betroffenenbeirats, Patrick Bauer, trägt diese Entscheidung zunächst mit, distanziert sich später davon und tritt zurück. Sein ebenfalls zurückgetretener Vize Karl Haucke spricht später in der Rundschau von einer "zweiten Stufe des Missbrauchs".
2021 Die Kanzlei WSW drängt darauf, ihr Gutachten auf eigenes Risiko veröfentlichen zu dürfen. Dies lehnt das Erzbistum ab. Der Diözesanrat der Katholiken, oberste Laienvertretung im Erzbistum, setzt seine Mitwirkung beim "Pastoralen Zukunftweg" zur Neuordnung der Pfarrgemeinden aus. Am 18. März 2021 soll das Gutachten der Kanzlei Gercke vorgelegt werden. (rn)