AboAbonnieren

Interview mit Anwalt zum Missbrauchsgutachten„Ohne Transparenz geht es nicht“

Lesezeit 7 Minuten
Woelki mit Stab

 Kardinal Rainer Maria Woelki, Kölner Erzbischof

In der Debatte um den sexuellen Missbrauch im Erzbistum Köln spielt ein Gutachten zur Missbrauchsaufarbeitung eine besondere Rolle: Es wurde von der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl - Spilker - Wastl erstellt, und soll nach dem Willen von Kardinal Rainer Maria Woelki nicht veröffentlicht werden. Auch sprechen dürfen die Anwälte über dieses Gutachten nicht. Unser Kirchenexperte Benjamin Lassiwe hat sich trotzdem mit Anwalt Ulrich Wastl unterhalten - denn die Münchner Kanzlei hat schon einige derartige Gutachten erstellt, und verfügt über einen reichen Erfahrungsschatz in Sachen Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche.

Herr Dr. Wastl, wo steht die katholische Kirche in der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs?

Sie ist gegenüber vielen anderen Institutionen schon relativ weit. Allerdings ist festzustellen, dass es innerhalb der katholischen Kirche meines Erachtens nach wie vor zwei Lager gibt. Da sind diejenigen, die noch immer daran festhalten wollen, dass der Schutz der Institution und vielleicht auch die Selbstbetroffenheit vieles rechtfertigen, beispielsweise die Aufarbeitung zu verzögern. Aber wir nehmen demgegenüber auch eine durchaus intensive Strömung in der katholischen Kirche wahr, die sagt, nur die schonungslose und transparente Aufklärung kann die Institution Kirche retten.

Zur Person

Der promovierte Jurist Ulrich Wastl (60) ist Gründungspartner der Münchner Kanzlei Westphal - Spilker - Wastl, die im Auftrag des Erzbistums Köln ein bislang unter Verschluss gehaltenes Gutachten zum sexuellen Missbrauch in der Erzdiözese veröffentlichte. Ähnliche Gutachten fertigte seine Kanzlei etwa für die Erzdiözese München und Freising sowie für das Bistum Aachen. Daneben ist Wastl auf Wirtschafts- und Kapitalmarktrecht spezialisiert und vertrat unter anderem das Bistum Eichstätt im dortigen Finanzskandal.

Wie passt das damit zusammen, dass Sie Ihr Kölner Gutachten nicht veröffentlichen dürfen?

Warum wir es nicht veröffentlichen ist klar: Es liegt derzeit noch an unserem anwaltlichen Selbstverständnis. Denn seitens des Erzbistums Köln wird uns jegliche Aussage zum Gutachten untersagt.

Sie haben sich auch mit dem Bistum Aachen beschäftigt, und zuvor bereits eine Untersuchung zum sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising gemacht. Was sind Ihre Kernbefunde? Wo sind die Defizite in der Kirche?

Was die von uns festgestellten systemischen Defizite anbelangt, möchte ich auf unser veröffentlichtes Aachener Gutachten verweisen. Ich würde es auch so formulieren, dass das Bistum Aachen ja nicht im luftleeren Raum unterwegs ist. Es ist Teil der katholischen Kirche und viele der Befunde, die wir dort gemacht haben, wird man so auch auf andere Diözesen übertragen können. Jedenfalls aber wird man die Frage stellen müssen, ob und inwieweit diese Befunde auch dort zutreffen.

Was sind denn aus Ihrer Sicht die wichtigsten Befunde?

Was mich sehr beeindruckt hat, war der Befund, dass ein gewisses Priesterbild vorherrscht, das unter Umständen den Missbrauch und die Vertuschung desselben begünstigt haben könnte. Wert ist dabei auf die Feststellung zu legen, dass wir das nicht als abschließende gutachterliche Bewertung festhalten, sondern als Frage aufwerfen. Die Frage nach dem Priesterbild und etwaigen Konsequenzen hieraus muss diskutiert werden.

Wodurch kennzeichnet sich dieses Priesterbild?

Nach meinem Verständnis geht es hierbei um eine gewisse Entrücktheit bzw. elitäre Sonderstellung des Priesters, so wie man sie auch in anderen Bereichen findet, wie z. B. mit Blick auf das Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr oder beim Thema Polizeigewalt: Immer, wenn eine Gruppe glaubt, eine besondere Stellung einzunehmen und dadurch eine spezifische Kameradschaft, in der Kirche heißt dies „Mitbrüderlichkeit“, entsteht, ist dies mit dem Risiko von Fehlentwicklungen verbunden.

Das könnte Sie auch interessieren:

Im Hinblick auf derartige Gruppen besteht die Gefahr der Entwicklung einer Wagenburgmentalität und des bedingungslosen Schutzes von Tätern vor Angriffen von außen. Häufig tritt der ebenso bedingungslose Schutz der elitären Gruppe bzw. Institution als weiteres Phänomen hinzu. Aber noch einmal: Wir wollen das nicht als feststehenden Befund verstanden wissen, aber wir wollen verdeutlichen, dass man innerkirchlich darüber diskutieren muss, ob dieser Befund nicht dazu führt, dass man über das Priesterbild kritisch nachdenken und es neu justieren muss. Diese abschließende Bewertung steht uns als Gutachter jedoch nicht zu, diese Frage muss am Ende die Kirche selbst beantworten.

Sind Priester oder Theologen aus Ihrer Sicht geeignet, Personalverantwortliche zu sein?

In dieser Generalität kann ich diese Frage nicht beantworten. Wir haben durchaus auch Theologen kennengelernt, die in der Lage sind, diese Funktion hervorragend auszuüben. Aber allein die Tatsache, dass jemand ein Theologiestudium absolviert hat und zum Priester geweiht wurde, zeichnet ihn noch nicht dafür aus, Personal entsprechend den heute üblichen Standards zu führen und zu entwickeln.

Gibt es in der Kirche mittlerweile Empathie gegenüber Missbrauchsbetroffenen?

Ja, mittlerweile haben wir diesen Eindruck. Manche sagen, es soll schon seit 2002 so sein – diesen Eindruck können wir nicht teilen. Es ist aber besser geworden. Nach unseren Erfahrungen hat es sich ab 2010 langsam, aber kontinuierlich zum Positiven entwickelt, weil sich die Einstellungen geändert haben, und diejenigen mehr in den Vordergrund gerückt sind, die das auch wollen. Es liegt aber auch daran, dass die Öffentlichkeit den Druck erhöht hat.

Haben Sie bei Ihren Untersuchungen eine Bereitschaft der katholischen Kirche zur Kooperation mit den Staatsanwaltschaften wahrgenommen? Im Missbrauchsgutachten für das Erzbistum Berlin wurde ja der Vorwurf erhoben, dass das erst seit 2018 systematisch passiert ist...

Wir haben in den Fällen, die wir geprüft haben, ab 2002 eine offenere Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft gesehen. Was mir auffiel, ist, dass es natürlich auch eine gewisse Tendenz gab, die Verantwortung zu verlagern. Man hat den Staatsanwaltschaften auch Sachverhalte übergeben, von denen man von vornherein wusste, dass die Straftat verjährt war, um sich selbst zu entlasten. Es ist richtig, dass man auch solche Fälle den Staatsanwaltschaften übergeben hat - aber wenn die das Verfahren eingestellt hat, darf man nicht generell die Konsequenz daraus ziehen: Jetzt legen wir das Ganze zu den Akten und das war‘s. Insgesamt gab es aber eine weitere Verbesserung als 2010 dieFälle sexuellen Missbrauchs am Canisius-Kolleg bekannt geworden waren und zunehmend eine gewisse grundsätzliche Offenheit gegenüber der Staatsanwaltschaft praktiziert wurde.

Welche Bedeutung hat die Transparenz? Worauf hoffen Sie beim Synodalen Weg?

Ich will dies an einem Beispiel aus einem anderen Bereich verdeutlichen: Wir haben in einer Diözese einen Finanzskandal begutachtet. Dieser Vorgang hat mir gezeigt, wie gut und durchaus auch differenziert die Öffentlichkeit mit problematischen Vorkommnissen innerhalb der Kirche umgeht, wenn man den Sachverhalt transparent aufarbeitet, und sagt: Okay, es ist passiert, das kann man wie folgt erklären, oder es sind massive Fehler gemacht worden und hierfür tragen die genannten Personen Verantwortung. Für mich war es faszinierend, dass bis zur umfassenden Transparenz und der Benennung von Verantwortlichkeiten in der öffentlichen Auseinandersetzung die Häme und die teils unsachliche Kritik überwogen. Nach der Veröffentlichung des Gutachtens war die Öffentlichkeit bereit, das Geschehene teils zwar hart, aber differenziert zu kritisieren. Umso mehr bedarf es im Hinblick auf die Behandlung von Fällen sexuellen Missbrauchs der größtmöglichen Transparenz.

Wie sehen das die Betroffenen?

Aus Gesprächen mit Betroffenen wissen wir, dass viele sagen: Der Missbrauchstäter war krank und wir haben mit ihm abgeschlossen – aber was uns nach wie vor fehlt, ist, dass wir erfahren, wie es im Apparat Kirche passieren konnte, dass Täter zu Tätern wurden und auch nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Die transparente und vor allem unabhängige Aufarbeitung ist die einmalige Chance der Kirche, hierzu öffentlich zu sagen: Diese Fehler und Defizite wurden festgestellt, hochrangige Bistumsrepräsentanten werden als Verantwortliche identifiziert und benannt, wir hoffen, damit eine Grundlage für eine Aufarbeitung der schrecklichen Geschehnisse im Dialog und auf Augenhöhe mit den Betroffenen geschaffen zu haben, wir werden aus diesem Aufarbeitungsprozess die Lehren ziehen, um sexuellen Missbrauch in der Kirche zukünftig, soweit irgend möglich, präventiv zu verhindern. Mit anderen Worten: Transparenz ist die Chance und Grundvoraussetzung, um eine gemeinsame Basis für eine bessere Zukunft zu finden.