AboAbonnieren

Interview mit SPD-Chef Walter-BorjansHat die SPD das bessere Pandemie-Rezept?

Lesezeit 5 Minuten

„Es wurde zu spät zu wenig bestellt“, sagt SPD-Chef Norbert Walter-Borjans.

  1. Nach dem Chaos-Gipfel ist vor der Lockerung: Im Interview mit Tobias Schmidt fordert SPD-Chef Norbert Walter-Borjans ein hartes Nachschärfen der Corona-Eindämmung.
  2. In NRW plant Schwarz-Gelb jedoch gerade das Gegenteil. Wer hat Recht – Laschet oder „Nowabo“?

Herr Walter-Borjans, eine Chaos-Woche geht zu Ende, mit einer beispiellosen Entschuldigung der Kanzlerin. Müssten sich nicht auch viele SPD-Politiker entschuldigen?Alle Beteiligten haben eingeräumt, der Kanzlerin nicht widersprochen zu haben. Aber der Vorstoß zur „Osterruhe“ kam nun mal von Angela Merkel – zu sehr später Stunde. Ich finde es höchst respektabel, dass sie für den Fehler um Verzeihung gebeten und ihn korrigiert hat. Festzuhalten ist aber auch: Der wahre Grund für die gefährliche Corona-Lage, in der wir noch immer stecken, ist das Desaster bei der Impfstoffbeschaffung.

Alle Vorschläge der Kanzlerin, die dritte Welle zu stoppen, wurden von Olaf Scholz und von SPD-Ländern gestoppt. Hat sie nicht erst deshalb die „Osterruhe“ aus dem Hut gezaubert?

Auch die rigiden Einschränkungen haben Folgen. Es bleibt ein Abwägungsprozess. Ein Patentrezept gibt es nicht. Es hat auch niemand mit dem Finger auf die Kanzlerin gezeigt…

Zur Person

Norbert Walter-Borjans (68) ist seit Dezember 2019 neben Saskia Esken Vorsitzender der SPD – in der ersten Doppelspitze seit Gründung der Partei. Der gebürtige Uerdinger war von 2010 bis 2017 NRW-Finanzminister in der Regierung von Hannelore Kraft. In Köln hinterließ er zuvor als Wirtschaftsdezernent und Stadtkämmerer Spuren, etwa durch die Einführung der Kulturförderabgabe. (EB)

Herr Scholz hat sich nicht in die Büsche geschlagen?

Überhaupt nicht. Wenn einer die vielen unterschiedlichen Aspekte zusammenführt, dann er. Die Kanzlerin hat in dieser Frage eher eine Extremposition. Ich nehme ihr die Sorge um jedes durch das Virus gefährdete Menschenleben ab. Damit erntet sie aber in ihrer eigenen Partei auch enormen Widerspruch. Da sind viele wirtschaftsorientiert, wollen die ökonomischen Grundlagen schützen. Olaf Scholz hat beides im Blick. Uns als SPD ist es außerdem sehr wichtig zu betonen, dass viele Menschen durch den Lockdown an ihren Belastungsgrenzen angelangt sind, auch psychisch. Nur, machen wir uns nichts vor: Die Enttäuschung und der Vertrauensverlust trifft die Regierenden ohne Unterschied.

Ihr Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sagt, wir brauchen Ausgangssperren, um den Gesundheitsnotstand noch abzuwenden…

Wir haben seit Anfang März eine Notbremse. Ab einer Inzidenz von 100 müssen alle Lockerungen zurückgenommen werden. Diese Notbremse muss jetzt allerdings auch überall konsequent gezogen werden, wo die kritische Marke überschritten ist. Und wir müssen testen, testen, testen, bis wir durchs Impfen ans rettende Ufer kommen.

Dabei könnte eine betriebliche Testpflicht helfen, oder?

Ja natürlich. Dass stattdessen weiter auf Freiwilligkeit gesetzt wird, ist ein Fehler. Es braucht sofort eine bundesweite Testpflicht für Unternehmen. Die Arbeitgeber müssen verpflichtet werden, alle Angestellten zwei Mal pro Woche zu testen. Dass sich CDU und CSU in dieser dramatischen Corona-Lage mit der rasanten Ausbreitung der Mutanten weiter verweigern, ist unverantwortlich. Für einen freiwilligen Test-Appell ist es viel zu spät, weil einfach nicht alle Betriebe mitmachen.

Was ist mit Schulen und Kitas?

Entweder werden auch Kitakinder und Schüler zwei Mal pro Woche getestet, oder die Einrichtungen müssen wieder zumachen, so schwer das auch fällt. Es muss Schluss sein mit Entscheidungen nach Gutdünken. Die Schutzlücke, die durch geöffnete Schulen und Kitas ohne engmaschiges Testen entsteht, können wir uns nicht länger leisten.

Bleibt die SPD bei ihrem Vorwurf, Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Brüssel hätten die Impfstoffbeschaffung vergeigt?

Der Vorwurf bleibt – und er ist kein parteipolitischer. Ja, wir brauchen einen gesamteuropäischen Ansatz. Aber bei der Impfstoffbeschaffung ist in der EU viel falsch gelaufen, das gilt auch für Deutschland. Und das rächt sich jetzt ganz, ganz bitter. Es wurde zu spät zu wenig bestellt. Das Argument, durch mehr EU-Bestellungen wäre ärmeren Ländern der Stoff weggeschnappt worden, ist ein Ablenkungsmanöver. Diejenigen, die von den europäischen Versäumnissen profitieren, gehören keinesfalls zu den unterentwickelten Staaten. Briten und Israelis haben einfach früher zugegriffen, weil ihnen völlig klar war, dass es auf jede Dosis ankommt, um Leben zu retten.

Im April wird endlich mehr Impfstoff erwartet. Werden es die Bundesländer hinbekommen, dann mit Volldampf alles sofort zu verimpfen?

Das muss gelingen, es darf keine einzige Dosis mehr liegen bleiben. Es war richtig, die Hochbetagten zuerst zu impfen. Aber jetzt brauchen wir viel mehr Flexibilität, damit auch Astrazeneca in den Oberarmen landet. Viele meiden den Impfstoff. Aber noch viel mehr würden sich sofort damit impfen lassen, wenn sie die Möglichkeit hätten – ich eingeschlossen, obwohl ich über 65 Jahre alt bin. Wenn die starre Priorisierung das blockiert und dazu führt, dass Astrazeneca im Kühlschrank Reif ansetzt, muss die Priorisierung gelockert werden. Sonst verlieren wir noch mehr Vertrauen bei den Bürgerinnen und Bürgern. Es kann nicht sein, dass wir uns durch noch so gut gemeinte Regeln auf dem Weg zum rettenden Ufer immer aufs Neue ein Bein stellen.

Haben Sie mal bei den SPD-Länderchefs nachgefragt, warum dort noch keine Testkonzepte wie im Saarland entwickelt worden sind?

Das Saarland ist ein kleines Land mit weniger Einwohnern als Köln. Das bietet die Chance, als Modellregion zu fungieren. Zudem hat es als Nachbar der französischen Hotspot-Region Elsass mehr Impfstoff erhalten. Deshalb sind die anderen über so einen Alleingang nicht gerade erfreut. Aber klar: Auch in anderen Ländern und Städten müssen mit Hochdruck lokale Konzepte aufgestellt werden, damit wir die Pandemie mit Massentestungen bis zum rettenden Impf-Ufer im Griff behalten.