Interview mit André Wüstner„Die Bundeswehr droht zu implodieren“
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Der Bundeswehrverband sieht die Truppe in einer permanenten Überlastung.
Wenn der Verteidigungsetat nicht massiv erhöht werde, um die maroden Waffensysteme zu modernisieren, drohe ein Shutdown der Armee.
Verbandschef Wüstner sieht zudem die europäische Libyen-Mission Irini vor dem Scheitern.
Wie bewerten Sie den ersten Vorschlag der neuen Wehrbeauftragten Eva Högl zur Wiedereinführung der Wehrpflicht?Wüstner Es ist grundsätzlich richtig, wenn wir neun Jahre nach Aussetzung der Wehrpflicht einmal analysieren, wie gut oder schlecht wir damit gefahren sind. Es ist auch immer gut, wenn wir uns mit der Frage nach einem allgemeinen Dienst für unsere Gesellschaft auseinandersetzen. Aber wer mit der Wehrpflicht als einzigem Instrument gegen Rechtsextremismus vorgehen will, ist auf dem Holzweg. Das greift zu kurz.
Die Bundeswehr wieder zur Wehrpflichtarmee zu machen, dürfte auch nicht billig sein…
Wüstner Mit Wehrerfassung, Ausbildungsstrukturen und der Infrastruktur für neue Kasernen sind wir sicherlich im Milliardenbereich. Und aktuell haben wir weder die Kapazitäten, noch das Geld oder die Zeit dafür. Damals ist man sehr unüberlegt aus der Wehrpflicht ausgestiegen. Heute wäre es genauso unüberlegt, spontan wieder einzusteigen. Die alte Wehrpflicht passt nicht mehr zu den neuen Anforderungen an die Truppe.
Das Verfassungsgericht lässt Eingriffe in Freiheitsrechte (hier von jungen Leuten) nur zu, wenn es nicht anders geht. Gäbe es dafür überhaupt noch einen Nachweis?
Wüstner Unsere europäischen Partner haben mit uns die Erfahrung gemacht, dass man den heutigen Herausforderungen ohne Wehrpflicht gut begegnen kann, in Sachen Professionalität sogar besser als mit ihr. Man sollte zwar niemals eine Wiedereinsetzung der Wehrpflicht ausschließen, aber dafür brauchte es eine sicherheitspolitische Herleitung – und die sehe ich aktuell nicht.
Die Ministerin spricht von einem neuen Freiwilligendienst, der weit über die Bundeswehr hinausreichen soll. Wie schätzen sie den ein?
Wüstner Sie hat dafür noch kein Konzept vorgestellt. Auch bei einem freiwilligen Dienst in kleinerem Rahmen, der nur ein paar Monate dauert und in die Reserve mündet, müssen ähnliche Fragen beantwortet werden: Woher nehmen wir die Ausbilder, woher die Infrastruktur, die Organisation, das zusätzliche Geld? Deshalb bin ich froh, dass die Ministerin sich das erst für nächstes Jahr vorgenommen hat. Jetzt käme das zur Unzeit. Wir sind durch Corona in einer Phase großer Belastungen, unzählige Ausbildungsabschnitte sind ausgefallen, die müssen jetzt nachgeholt werden. Das kostet Kraft genug.
Jeder Soldat schwört, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen. Wie können Reichsbürger, für die es gar keine Bundesrepublik gibt, Soldaten werden?
Wüstner Die Frage treibt uns auch als Verband um. Noch gibt es kein klares Bild. Deshalb ist es gut, wenn Frau Kramp-Karrenbauer jetzt eine Studie dazu in Auftrag gibt. Nach meinen Erfahrungen sind viele mit 18 oder 19 Jahren noch nicht auf dem falschen Pfad. Bei etlichen der jetzt bekanntgewordenen Fälle von Extremismus hat sich das erst im Laufe der Zeit entwickelt. Das mag der Grund dafür sein, dass der Militärische Abschirmdienst trotz der vielen überprüften jungen Menschen, die zur Bundeswehr kommen, nur wenige Alarmzeichen wahrnimmt.
Tatsache ist auch: Wir haben in der Gesellschaft einen latenten Extremismus. Deshalb kann niemand ausschließen, dass sich Derartiges auch in der Truppe entwickelt. Das darf natürlich nicht sein, schon gar nicht darf es sich festsetzen. Deshalb müssen wir gegensteuern und die Soldaten festigen. Durch mehr ethische, historische und politische Bildung müssen wir alle, insbesondere Vorgesetzte, mehr sensibilisieren, wir müssen auch dort Demokratieverständnis erzeugen, wo die Schule es nicht vermocht hat. Auch hier geht es um Resilienz.
Die Ministerin hat nach den Rechtsextremismus-Vorfällen im Kommando Spezialkräfte mit dem eisernen Besen durchs KSK gefegt. Wie finden die Soldaten das?
Wüstner Sie zollen der Ministerin Respekt. Trotz des immensen medialen Drucks ist sie sehr sachorientiert, geordnet und konsequent vorgegangen. Sie hat sich auch immer gegen einen Generalverdacht ausgesprochen. All das hat ihr im KSK und weit darüber hinaus Anerkennung gebracht. Den Maßnahmenkatalog hat sie im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin mit der militärischen Führung abgestimmt, und er ist auch geeignet, nicht nur Symptome, sondern auch die Ursachen zu bekämpfen. Es ist aber wichtig, jetzt den Blick über das KSK hinaus zu weiten.
Was steckt denn an grundsätzlichen Problemen dahinter?
Wüstner Wir haben eine Situation der Überlastung: Eine zu kleine Truppe hat zu viele Aufgaben zu bewältigen. Wenn wir dann noch eine fehlerhafte Struktur haben, in der Führung und Verantwortung nicht in Gänze klar geregelt sind, droht eine Lähmung der Dienstaufsicht. Und was sich daraus entwickeln kann, haben wir beim KSK erlebt. Die Ministerin wird also strukturell nachsteuern müssen. Sie hat das erkannt, das zeigt ihre Analyse von Fehlern über alle Ebenen hinweg bis ins Ministerium.
Hat das auch mit den vielen Einsätzen zu tun?
Wüstner Trotz bester Vorbereitung erleben viele Soldaten in den Auslandseinsätzen Dinge, die man sich hier nur schwer vorstellen kann. Manchmal verschiebt sich dadurch der jeweilige Bezugsrahmen. Man muss Erlebtes verarbeiten, braucht Zeit zur Reflektion und Regeneration. Vereinzelt muss das Werte- und Normenkorsett rekalibriert werden. Wenn die Zeit dafür fehlt, weil die Menschen aus Afghanistan oder Mali zurückkommen, dann ins Baltikum oder auf die nächste Übung müssen, dann ist diese Art der Überreizung ein Fehler im System. Gepaart mit dysfunktionalen Strukturen kann das zu einer toxischen Führungskultur führen. Und dieser systemische Fehler muss seitens der Ministerin behoben werden.
Der Laie würde sagen: Entweder gibt es zu wenig Soldaten oder zu viele Aufgaben.
Wüstner Genau das sagen wir seit vielen Jahren. Der politische Anspruch an die Bundeswehr deckt sich in keiner Weise mit ihrer Größe, geschweige denn mit ihrer materiellen Ausstattung. Die Konsequenz ist richtig: Die Bundeswehr soll wieder wachsen. Aber sie wächst immer noch viel zu langsam im Vergleich zu all den Anforderungen, die die Politik an sie hat. Jetzt wird vereinzelt schon über einen möglichen Einsatz in Libyen gesprochen. Die Corona-Amtshilfe wird als selbstverständlich betrachtet. Wenn das so weitergeht, wenn immer neue Aufgaben zusätzlich zu den laufenden Missionen im Krisen- und Konfliktmanagement oder im Bündnis, siehe Baltikum, hinzukommen, droht die Bundeswehr zu implodieren.
Überall, wo der MAD in Sachen Rechtsextremismus näher hinschaut, wird er auch häufiger fündig. Wird er zusammen mit dem Verfassungsschutz auch bei den Reservisten mehr finden als bislang vermutet?
Wüstner Es gibt die Sorge im Ministerium, auf mehr Fälle zu stoßen, je mehr man den Scheinwerfer darauf richtet. Aber so, wie der aktive Teil der Truppe zunehmend durchleuchtet wird, muss das auch für die Reservisten gelten. Ich schätze, dass das Phänomen hier künftig auch mehr sichtbar wird. Und das ist richtig. Man muss Extremisten entlarven und dann auch Entlassungsverfahren einleiten.
Welche Erfahrungen haben die Soldaten bei ihrem Corona-Einsatz gemacht? Gehört etwas geändert, bevor die nächste Welle kommt?
Wüstner Die Bundeswehr kann in besonderen Lagen auch ihren Beitrag zur Bewältigung einer Pandemie leisten, das hat sie übrigens auch schon beim Kampf gegen Ebola in Westafrika unter Beweis gestellt. Streitkräfte können zwar viel und sind immer eine Art „nationale Reserve“. Aber im Schwerpunkt muss es auch bei Pandemien zuerst um den Selbstschutz innerhalb der Bundeswehr gehen. Streitkräfte sind im Kern zur Verteidigung da, sind wurden grundsätzlich für die äußere Sicherheit aufgestellt, dass muss man immer wieder betonen. Die Pandemie-Bekämpfung kann keine Kernaufgabe der Bundeswehr sein. Dafür tragen andere Verantwortung, und ich hoffe, dass diejenigen aus ihren Fehlern und Erfahrungen die richtigen Konsequenzen ziehen.
Die Pannentruppe ist aus den Schlagzeilen verschwunden. Ist das Material besser geworden?
Wüstner Die schlechte Einsatzbereitschaftslage der Hauptwaffensysteme ist nach wie vor frustrierend, das geht aus den jüngsten Bestandsaufnahmen hervor. Die Öffentlichkeit war davon durch Corona und anderes nur abgelenkt. Wir haben einen immensen Modernisierungsstau. Die „Oldtimer“ unter unseren Waffensystemen verschlingen Unsummen an Instandsetzungskosten.
Ihr Einsatz wird in einzelnen Fällen aus Sicherheitsgründen kaum noch zu verantworten sein. Zuletzt war zumeist eher von Problemen bei den Landstreitkräften oder der Luftwaffe zu lesen, aber auch die Marine braucht in den nächsten Jahren etliche neue Schiffe und Boote. Bleiben sie aus, droht ein Shutdown in nicht allzu ferner Zukunft. Das alles kostet viel Geld. Und deshalb wird die Ministerin bis zur Kabinettsentscheidung zum Haushalt am 23. September noch viele Gespräche führen müssen. Der Verteidigungsetat muss von 45 Richtung 48 Milliarden Euro im Jahr 2021 und bis 2024 stetig bis auf 56 Milliarden wachsen.
Was lässt sich kurzfristig verbessern?
Wüstner Ich kann nur hoffen, dass die Bundeswehr einen wesentlichen Teil aus dem Konjunkturprogramm erhält. Wir haben viele Rahmenverträge, über die die Finanzmittel schnell eingesetzt werden können, wie es der Finanzminister wünscht. Das Ankurbeln der Konjunktur und die Wertschöpfung in Deutschland wäre schnell möglich, beispielsweise bei IT-Projekten, Munition oder der Beschaffung von Lkw. Vieles ist denkbar, muss aber in den kommenden Wochen zwischen Finanz- und Verteidigungsministerium abgestimmt werden.
Mit der Mission Irini soll der Waffenschmuggel nach Libyen unterbunden werden. Wie läuft der Einsatz in der Wahrnehmung Ihrer Mitglieder?
Wüstner Politisch gibt es international hinter den Kulissen viele Unstimmigkeiten, dieses Vorzeigeprojekt europäischer Verteidigungspolitik droht tatsächlich zu scheitern. Militärisch überwiegt jedenfalls die Skepsis, ob dieser Einsatz überhaupt jemals effektiv werden kann. Die Interessenlagen sind zu unterschiedlich, die Einsatzregeln sind zu ineffektiv. Unter welchen Bedingungen sollen wann und von wem welche Schiffe durchsucht werden?
Wie soll das etwa gegen den Willen unseres NATO-Partners Türkei gehen, der Transporte nach Libyen geleitet? Dass so etwas eskalieren kann, mussten zuletzt die Franzosen erfahren. Jetzt soll möglicherweise ein deutsches Schiff in die Region, zuletzt ist unser - übrigens auch dringend ersatzbedürftiger – Seefernaufklärer mit einer Mehrfachbesatzung stundenlang von Nordholz aus ins Einsatzgebiet geflogen, um dann ganze drei Stunden über dem Mittelmeer aufzuklären. Ich zolle den Besatzungen meinen Respekt, aber die Sinnhaftigkeit wird hier wie in Brüssel in Fragen gestellt. Ich hoffe, dass darüber auch am Rande der Treffen zur EU-Ratspräsidentschaft gesprochen wird. So kann es auf Dauer jedenfalls nicht weiter gehen.
Wie sehen Sie die Ministerin nach einem Jahr im Amt?
Wüstner Die ersten Monate waren etwas holprig. Das lag natürlich auch an der brutalen Doppelbelastung als Parteivorsitzende und Ministerin. Mein Eindruck ist, dass sie nach dem Verzicht auf die Kanzlerkandidatur mehr Möglichkeiten hat und viel freier agiert. Ihre Ziele stimmen - von der materiellen Einsatzbereitschaft über den Ausbau der Infrastruktur bis hin zu mehr Entscheidungsfreiheit für Führungskräfte aller Ebenen. Im zweiten Jahr als Inhaberin der Befehls- und Kommandogewalt agiert sie sicherlich mit einer gewissen Sicherheit, allerdings wird sie sich auch an ihren eigenen Zielen messen lassen müssen.