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Herfried Münkler zum Ukraine-Krieg„Einem Zyniker wie Putin mit Moral kommen zu wollen, ist schon vermessen“

Lesezeit 10 Minuten
ARCHIV - 02.05.2018, Berlin: Herfried Münkler, Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. (zu dpa «Politikwissenschaftler Münkler: Fremdenfeinde suchen WM-Sündenböcke» vom 08.07.2018) Foto: Soeren Stache/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Fachmann für Fragen von Krieg und Frieden: Der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler.

Was wäre eigentlich passiert, wenn Alice Schwarzer 1939 die Polen beraten hätte? Der Politologe Herfried Münkler mit provozierenden Aussagen zum russisch-ukrainischen Krieg, zur Chance von Verhandlungen und zum Unterwerfungspazifismus.

Herr Professor Münkler, der Überfall Russlands auf die Ukraine liegt jetzt ein Jahr zurück. Wie lange wird dieser Krieg Ihrer Einschätzung nach noch dauern?

Ich gehe davon aus, dass dieser Krieg inzwischen von Russland als ein Ermattungskrieg geführt wird. Das bedeutet, dass die russische Seite darauf setzt, den Gegner an der Front zu ermatten, sowie dadurch, dass es seine Infrastruktur angreift. Dabei geht es vor allem darum, die Bevölkerung physisch und psychisch zu erschöpfen. Das ist die zweite Ebene. Auf der dritten Ebene geht es darum, dass der Westen versucht, Russland durch die Entkopplung der Wirtschaftskreisläufe wirtschaftlich zu ermatten. Das alles dauert. Wenn nicht Überraschendes passiert, können wir davon ausgehen, dass der Krieg bis weit in dieses Jahr hinein und möglicherweise noch darüber hinaus andauern wird.

Wer wird in diesem Ermattungskrieg den längeren Atem haben?

Zunächst natürlich Russland. Es hat unmittelbare Interessen und Ziele. Die im Rückraum die Ukraine unterstützenden Europäer und die USA sind in dieser Frage immer labil. Es kann immer sein, dass die Meinung aufkommt, nun sei aber genug Unterstützung geleistet worden. Die Ukraine braucht jetzt in größerem Umfang schwere Waffen, um die zu erwartende russische Offensive aufzuhalten. Sie braucht vor allem Munition. Da zeigt sich, dass die westlichen Länder nicht genügend Waffen haben. In den letzten Wochen hat man ja mit Staunen beobachten können, dass es an Panzern fehlt, auch an Munition für Leopard 1-Panzer.

Sind da längerfristig Fehler gemacht worden?

Die westliche Seite war und ist nicht darauf vorbereitet, einen Erschöpfungs- und Ermattungskrieg führen zu können. Sie hat das erstaunlicherweise auch im Frühjahr 2022 nicht antizipiert, als es eigentlich schon in diese Richtung ging. Man hätte die Produktion von Waffen und Munition hochfahren müssen, um die Ukraine kontinuierlich versorgen zu können.

Was spielt noch eine Rolle?

Der Ukraine könnten umgekehrt irgendwann die militärisch ausgebildeten jungen Männer ausgehen. Das ist ihr Nachteil gegenüber den Russen. Zudem greift Russland die Infrastruktur der Ukraine an. Umgekehrt greift die Ukraine nicht die Infrastruktur Russlands bis 400 Kilometer von der Grenze entfernt an. Insofern hat dieser Krieg eine Asymmetrie. Auch die gewichtet zugunsten der Russen.

Mit diesem Konflikt ist konventioneller Krieg zu einer neuen Realität in Europa geworden. Fangen wir an, uns an Krieg zu gewöhnen?

Die Gewöhnungseffekte sind überschaubar, weil die Vorstellung, dass es in Europa keine Kriege mehr gibt, doch sehr tief sitzt. In den neunziger Jahren haben wir die Zerfallskriege des ehemaligen Jugoslawien erlebt. Aber das waren Bürgerkriege. Daneben gab es kaum wirkliche Staatenkriege. Dazu zähle ich die Operation Sturm der Kroaten, als sie sich Teile ihres Landes zurückgeholt haben. Insgesamt wurde das aber als Bürgerkrieg behandelt.

„Die Erwartung, dass dieser Krieg nur eine Unterbrechung und Ausnahme der allgemeinen Entwicklung ist, könnte am Ende eine Selbsttäuschung sein.“

Was hat die Lage verändert?

Dass eine Großmacht, einstige Supermacht und nuklear bewaffneter Akteur, einen solchen Krieg in Europa beginnt, hat man nicht geglaubt. Man hat das auch deshalb nicht geglaubt, weil wir darauf gesetzt haben, dass wirtschaftliche Macht als Medium der politischen Verhaltenssteuerung hinreichend ist und dazu militärische Macht nicht gebraucht wird. Das ist eine tief sitzende Überzeugung. Auch diejenigen, die der Meinung sind, dass dieser Krieg auch die Deutschen betrifft, fragen ja immer wieder, wann dieser Krieg denn nun endlich zu Ende sei. Die Erwartung, dass dieser Krieg nur eine Unterbrechung und Ausnahme der allgemeinen Entwicklung ist, könnte am Ende eine Selbsttäuschung sein.

Mit dem Krieg wird die Gewalt von einer Ausnahme zu einer Alltäglichkeit. Welche Folgen hat das? Wie verändert die Erfahrung oder zumindest die Anwesenheit von Gewalt Gesellschaften?

Es gib nur wenige junge Männer aus unserer Gesellschaft, die jetzt in die Ukraine reisen und dort Erfahrungen mit Gewalt machen. Gewalterfahrung bringen eher diejenigen mit, die zu uns als Migranten kommen. Es ist schwer zu sagen, inwieweit sie durch Gewalt geprägt sind oder Traumata latent gehalten werden. Dazu gibt es keine Untersuchungen. Wenn wir uns den gesamten Raum anschauen, dann haben wir es mit einem Keil der Kriegsgewalt und Kriegserfahrung vom Kaukasus über die Türkei bis nach Bosnien-Herzegowina zu tun, der die Europäer in den nächsten Jahrzehnten mit Kriegen unterschiedlichen Typs in Atem halten wird.

Es ist unwahrscheinlich, dass – selbst wenn der Krieg in der Ukraine mit einem Waffenstillstand beendet wird – da nicht mehr passiert. Serbien ist eine revisionistische Macht im Hinblick auf Bosnien, die Türkei hat ihre Rempeleien mit Griechenland und interveniert mit Militär in den Norden des Irak und Syriens hinein. Die Konflikte zwischen Aserbaidschan und Armenien führen immer wieder zu kriegsähnlichen Szenarien. Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir vor unserer Haustür einen Konfliktraum haben, der auf lange Sicht neue Kriege hervorbringen kann. Was macht das mit unserer Gesellschaft? – Neuen Reputationsgewinn für Soldaten und Bundeswehr.

Gewalt lässt Individuen abstumpfen. Gilt das auch für ganze Gesellschaften? Wird das Fenster der Handlungsoptionen kleiner?

Das glaube ich nicht. Unsere Gewalterfahrung in Deutschland ist medial neutralisiert. Es ist nicht unser Leid, unser Schmerz, der bei uns unter die Haut geht. Im Augenblick geht es noch um ein Erschrecken und Entsetzen darüber, dass das, was wir 30 Jahre lang für eine unumkehrbare Entwicklung gehalten haben, nun plötzlich zurückgedreht wird. Mit einem Mal erscheint die Zeit des Kalten Krieges als eine Periode der relativen Ruhe und Stabilität mit einer saturierten Sowjetunion. Jetzt haben wir es mit einem aggressiven Russland zu tun.

Wird dieses aggressive Russland auf lange Sicht für eine unruhige Weltlage sorgen?

Ja, wenn Russland diesen Krieg nicht so verliert, dass das Scheitern zu inneren Veränderungen führt, also nicht nur zur Ablösung Wladimir Putins, sondern einem wirklichen Regimewechsel. Dafür gibt es derzeit aber nicht die geringsten Anhaltspunkte. Man wird davon ausgehen müssen, dass sich Russland als revisionistische Macht nur dort im Zaum halten lässt, wo militärische Abschreckung funktioniert. Es wird womöglich zu Verhandlungen kommen. Diplomatie könnte zu einer Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln werden. Der Krieg läuft nämlich parallel weiter. Das Beste, was zu erwarten sein wird, ist ein Waffenstillstand. Auf den wird sich die Ukraine aber nur einlassen können, wenn sie dafür Sicherheitsgarantien bekommt, damit die Russen den Waffenstillstand nicht dafür nutzen, ihre Kräfte neu zu gruppieren und wieder anzugreifen.

Wäre jetzt nicht die Stunde der Diplomatie?

Jene, die jetzt wie Alice Schwarzer oder Sahra Wagenknecht laut nach Diplomatie rufen, haben nicht begriffen, was die Voraussetzungen dafür sind, dass die Diplomatie ins Spiel kommt. Dafür müssen die Russen einsehen, dass sie ihre Kriegsziele nicht erreichen können, weil die Ukraine nachhaltigen Widerstand leistet. Dazu gehört danach dann aber auch, die Ukraine dazu zu bringen, dass sie ihr Kriegsziel der Rückeroberung der Krim zurückstellt. Dafür muss man ihr etwas geben und das kann nur nachhaltige Sicherheit sein.

Wie sähe es dafür denn auf der Seite Russlands aus?

Wenn die Ukraine unterhalb ihrer Kriegsziele der Rückgewinnung des Territoriums von 1992 bleiben sollte, heißt das, dass man den Russen nicht alles abnimmt, was sie erobert haben. Das sehe ich im Augenblick auch nicht. Ich denke, dass es ohnehin kein Frieden, sondern nur ein Waffenstillstand sein wird. Auf beiden Seiten sind so große Opfer gebracht worden, dass es einen Zwang gibt: Das alles muss einen Sinn gehabt haben. Wir kennen das aus der deutschen Geschichte des Ersten Weltkriegs. Damals war von einem Vermächtnis unserer Gefallenen die Rede. Es gibt keinen Weg zurück zum 23. Februar 2022. Wenn Putin das versuchen würde, was er nicht tun wird, wäre er morgen seiner Macht verlustig. Das gilt umgekehrt auch für Selenskyj, wenn er deutlich unterhalb der Kriegsziele bleibt.

Hilft der Blick auf die Geschichte der Weltkriege des 20. Jahrhunderts oder gar derjenigen des Dreißigjährigen Krieges weiter, um die gegenwärtige Kriegslage zu analysieren?

Ich glaube schon. Das Problem in Deutschland ist allerdings, dass es keine vergleichende Kriegsforschung gegeben hat und gibt. Friedens- und Konfliktforschung gibt es, aber über den Verlauf von Kriegen und deren Ende hat man sich wenig Gedanken gemacht. Interessant ist die Analogie der Ermattungsstrategien. Was wir im Donbass sehen, erinnert an die Westfront des Ersten Weltkrieges von den Vogesen bis zum Ärmelkanal. Artillerieduelle und kleinere Offensiven haben das Geschehen bestimmt. Es gab keine großen Geländeveränderungen, aber ungeheuer viele gefallene Soldaten.

Und der Dreißigjährige Krieg?

Was den Dreißigjährigen Krieg angeht, kann man sich an die Jahre 1644 bis 1648 erinnert fühlen, als in Münster und Osnabrück Friedensverhandlungen geführt wurden. Der Krieg ging aber weiter. Die Verhandlungspartner haben immer auf das Geschehen auf den Schlachtfeldern geschaut. Die Fülle der Niederlagen für die spanisch-kaiserlichen Truppen hat dazu geführt, dass diese Seite irgendwann bereit war, den Friedensschluss zu unterschreiben. Am Dreißigjährigen Krieg lässt sich die Gleichzeitigkeit von Diplomatie und Waffengebrauch beobachten. Es spricht vieles dafür, dass sich das jetzt wiederholt.

Sie plädieren für einen realistischen Blick auf den Krieg. Hilft Moral, um nicht zu sagen, bloße Moral in diesem Fall einfach nicht weiter?

Das würde ich sagen. Einem so ausgewiesenen Zyniker wie Putin mit Moral kommen zu wollen, ist schon vermessen. Für mich ist das Selbstsuggestion von deprimierten Intellektuellen. Sie sind deshalb deprimiert, weil sie eigentlich wissen, dass man in diesem Fall mit moralischen Appellen gar nicht weiterkommt. Wir haben es mit Leuten zu tun, mit Putin und anderen, die bereit sind, den Konflikt zu eskalieren, um das Geschehen zu dominieren. Sie haben auch ins Spiel gebracht, was man sich gar nicht hat vorstellen können, nämlich die nukleare Eskalationsdrohung.

Nach Ihren Aussagen muss in westlichen Gesellschaften Rüstung deutlich nach oben gefahren werden. Wie wird das unsere Gesellschaften verändern?

Dazu gibt es keine Alternative. Man hat versucht, die Russen durch Transfer von Wohlstand ruhig zu stellen. Das hat nicht funktioniert. Emmanuel Macron und Annalena Baerbock haben vor dem Kriegsausbruch Putin wohl genau das vorgetragen. Die andere Möglichkeit wäre eine Politik des Appeasements. Das Minsker Abkommen ging in diese Richtung. Das hat Wladimir Putin aber auch nicht besänftigen können. Es gibt es eine Form von Appeasement-Politik, die den Hunger nur noch größer macht. Das kennen wir vom Münchener Abkommen von 1938. Die einzige Möglichkeit besteht nun in der Abschreckung. Die ist allerdings teuer. Die Rückkehr zu Landes- und Bündnisverteidigung wird sehr viel Geld kosten. In der Konsequenz bedeutet das, dass wir auf längere Sicht den Höhepunkt unseres Wohlstandes wohl überschritten haben.

Nie wieder Krieg: Dieser pathetische Appell gehört in Europa zum Rückblick auf die Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Heute ist wieder Krieg. Wird aus der Geschichte nichts gelernt?

Ja, jedenfalls wenn es um ein naives Lernen geht. Die Großmäuligkeit, die zum Ersten Weltkrieg geführt hat, hätte man vielleicht mit einem „Nie wieder“ vermeiden können. Aber im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg gilt eine Einsicht von Clausewitz: Der Krieg beginnt mit der Verteidigung, nicht mit dem Angriff. Der Angriff hat den absoluten Zweck des Besitzens, die Verteidigung den Zweck des Kämpfens. Hätte Alice Schwarzer die Polen 1939 beraten, dann hätten die keinen Widerstand geleistet, dann hätte auch der Zweite Weltkrieg nicht am 1. September 1939 begonnen, weil Adolf Hitler seine Ziele ja kampflos erreicht hätte. Was heißt dann: Nie wieder Krieg? Bedeutet das ein Votum für den Unterwerfungspazifismus? Sollen alle demjenigen gehorchen, der das größte Schwert hat? Oder gibt es Werte, die einen dazu bringen, sich nicht unterwerfen zu wollen?