Mit dem Einmarsch will der Kremlchef die Regierung in Kiew stürzen und die Nato verdrängen. Wir analysieren ein Jahr nach Kriegsbeginn die Lage.
Ein Jahr Ukraine-KriegPutins Krieg – Chronik eines Scheiterns
Ausgerechnet am „Tag des Sieges“ sieht Wladimir Putin wie ein Verlierer aus. Der Wind zurrt am dünnen Haar und am Redemanuskript. Der Präsident verblättert und verhaspelt sich. Russland habe keine Wahl gehabt, sagt er, als sich in der Ukraine zu verteidigen. Man sei der Nato und dem „Nazi-Regime“ in Kiew nur zuvorgekommen. Kein Wort vom Sieg, der im Februar noch Formsache zu sein schien. An diesem 9. Mai jedoch, an dem sich Russland an die eigenen Heldentaten im Weltkrieg erinnert, spricht Putin von Tod und Verlust. Das „Hurra“ am Ende seiner Rede klingt erschöpft. Die Soldaten, die über den Roten Platz marschieren, antworten kraftlos.
Von Siegeszuversicht kann nicht die Rede sein
Natürlich ist der müde Auftritt des Kremlchefs am 9. Mai nur eine Momentaufnahme. Aber echte Siegeszuversicht strahlt Putin im ersten Kriegsjahr nie aus. Dabei ist auf den blutgetränkten Schlachtfeldern im Donbass noch längst nichts entschieden. Allerdings muss sich Putin an den eigenen Zielen messen lassen. Und die gehen weit über die Ostukraine hinaus. Was der russische Präsident im Sinn hat, als er in den Morgenstunden des 24. Februar den Beginn einer „Spezialoperation“ verkündet, ist nichts Geringeres als eine neue Weltordnung. Dabei folgt er einem mehrstufigen Masterplan. Erstes Ziel ist ein Regimewechsel in Kiew.
Die Einsetzung einer Marionettenregierung soll die Abwendung der Ukraine vom Westen garantieren. Doch diese „Heimholung“ ist nur der Anfang. Sie soll ein Rollback der Nato aus Osteuropa einleiten. Die US-geführte Allianz müsse sich auf die Positionen von 1997 zurückziehen, verlangt Putin im Dezember. Als Brüssel und Washington ablehnen, reist der Kremlchef Anfang Februar nach China. Mit Staatschef Xi Jinping gibt er eine Erklärung heraus, die das Ende des amerikanischen Zeitalters einläutet. Und beginnen soll alles in Kiew.
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Schon das erste Ziel verfehlt
Dort landen am 24. Februar russische Fallschirmjäger, um Präsident Wolodymyr Selenskyj festzunehmen oder zu töten. Zugleich dringen Invasionstruppen im Donbass vor und im Süden. Den entscheidenden Schlag führen sie aber von Norden gegen die Hauptstadt. Die Paradeuniformen liegen im Marschgepäck. Putin ist sich sicher, dass die Menschen im Nachbarland seine Soldaten freudig begrüßen werden. Doch niemand in der Ukraine jubelt. Stattdessen schalten Selenskyjs Spezialeinheiten das russische „Killerkommando“ aus.
Putin scheitert also schon mit seinem ersten und wichtigsten Ziel. Denn ohne den Sturz der Regierung kann es keinen schnellen Sieg in der Ukraine geben und kein Rollback des Westens. Stattdessen wird aus der „Spezialoperation“ ein echter Krieg. Doch dafür ist die Invasionsarmee nicht gerüstet. Russische Soldaten berichten von der Front, dass in der Truppe „heilloses Chaos herrscht“. Die Offensive kommt schnell zum Stillstand. In Moskau verschwindet in diesen Tagen Verteidigungsminister Sergei Schoigu von der Bildfläche. Ist er in Ungnade gefallen?
Es gibt keinen Plan B.
Die Panik im Kreml ist mit Händen zu greifen. Niemand hat einen Plan B. Als Schoigu wieder auftaucht, brechen seine Truppen die Belagerung Kiews ab. Was sie zurücklassen, löst weltweit Entsetzen aus. In Butscha, einem unbedeutenden Vorort, sind die Straßen mit Leichen von Zivilisten übersät. Gefesselt, gefoltert, erschossen. Und es ist nur der Auftakt. Je länger die Kämpfe dauern, desto klarer wird, dass Putin aus der Not des Scheiterns heraus auf Terror setzt.
Das deutet sich schon im März an, als die russische Luftwaffe die Hafenstadt Mariupol in Schutt und Asche legt. Hunderte Menschen sterben, als eine lasergelenkte Bombe ein Theater trifft, in dem Zivilisten Schutz suchen. Im April schlagen mehrere Raketen im Bahnhof des ostukrainischen Kramatorsk ein, wo Frauen und Kinder auf ihre Evakuierung warten. 57 Menschen sterben. Dass es sich um eine gezielte Strategie handelt, wird spätestens im Herbst klar. Mit iranischen Drohnen zerstören die Angreifer Trafostationen und Heizkraftwerke. Die Menschen sollen frieren und hungern. Damit sie ihren Widerstandsgeist verlieren. Doch daraus wird nichts.
Es ist wohl Putins größtes strategisches Versagen, dass er seine Gegner fundamental falsch einschätzt. Der Terror von außen schweißt die Ukraine im Innern nur noch mehr zusammen. Zugleich verliert Putin den Kampf um die Weltöffentlichkeit. In der UN-Vollversammlung verurteilt eine selten große Mehrheit von 141 Staaten die Aggression. Die Bilder von Gefolterten und Massakrierten scheinen Joe Biden recht zu geben. „Putin ist ein Schlächter“, sagt der US-Präsident. Er schwört den Westen auf einen langen Kampf ein. Und alle ziehen mit.
Berlin wird Schauplatz der schwersten Niederlage
Auf der US-Air-Base Ramstein in Rheinland-Pfalz treffen sich im April zum ersten Mal Abgesandte aus rund 50 Staaten und vereinbaren eine dauerhafte Militärhilfe für die Ukraine. Doch mehr noch: Die neutralen Nordstaaten Schweden und Finnland beantragen die Aufnahme in die Nato. Statt eines Rollbacks bekommt Putin eine erneute Erweiterung der Allianz – auch wenn die Türkei den Vollzug zunächst blockiert. Zum Schauplatz von Putins schwerster Niederlage wird aber Berlin. „Wir erleben eine Zeitenwende“, erklärt Kanzler Olaf Scholz nur drei Tage nach Kriegsbeginn im Bundestag. Scholz kündigt 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr und Waffenhilfe für die Ukraine an.
Entscheidend ist aber, dass er die strategische Partnerschaft mit Moskau aufkündigt. Seit dem Kalten Krieg haben alle Bundesregierungen auf „Wandel durch Handel“ gesetzt. Mit fatalen Folgen. Als Putin seine Armee aufmarschieren lässt, hängt die deutsche Wirtschaft wie ein „Junkie“ am Gas aus Russland. „Im Kreml haben sie geglaubt, Deutschland in der Tasche zu haben“, erklärt die Historikerin Anne Applebaum. Ein Irrglaube. Scholz stoppt die Pipeline Nord Stream II noch vor Kriegsbeginn. Innerhalb weniger Monate gelingt es, russisches Gas zu ersetzen. Das ist teuer. Aber Putins Versuch, die Bundesregierung durch einen Lieferstopp zu erpressen, scheitert. Berlin zieht auch bei Sanktionen mit, die auf Deutschland zurückschlagen.
Zum Fanal der neuen Zeit wird die Explosion der Nord-Stream-Pipelines im September. Ein Sabotageakt, für den nur ein Staat die Mittel hat. Darin sind sich Fachleute einig. Beweise für eine Täterschaft liegen bis heute nicht vor. Klar ist aber, dass der Kreml in jenen Tagen die letzten Brücken abbricht, die nach Westen führen. Der Putin-Vertraute Dmitri Medwedew erklärt kurz vor der Pipeline-Sprengung: „Russland hat seinen Weg gewählt. Es gibt kein Zurück.“ Putin verkündet die Annexion von vier ukrainischen Regionen und ordnet eine Teilmobilmachung in Russland an.
Widerstand wurde im Keim erstickt
„Alles auf Sieg“, lautet die Botschaft, die demütigende Niederlagen vergessen machen soll. So versenken die Ukrainer die „Moskwa“, das Flaggschiff der Schwarzmeerflotte, und zerstören Teile der Krim-Brücke. Im Sommer fliehen die Kremltruppen aus der Region Charkiw. Im Herbst ziehen sie geschlagen aus Cherson ab. Mit der Mobilmachung erhöht sich allerdings das innenpolitische Risiko für Putin. In den ersten Kriegsmonaten ist es ihm problemlos gelungen, jeden Widerstand im Keim zu ersticken. Der Machtapparat arbeitet so reibungslos wie die Propagandamaschine.
Die Staatsmedien hämmern den Menschen die Lügengeschichte von der „Spezialoperation gegen Nazis“ ein. Sie erzählen von der aggressiven Nato und der atomaren Gefahr, die angeblich vom Westen ausgeht. Da erscheint es nur logisch, dass Putin seinerseits mit einem nuklearen Schlag droht. Das verbale „Spiel mit der Apokalypse“ soll die Angst steigern: in der Ukraine, im Westen, aber auch in Russland selbst. Furcht soll das Land lähmen. Das gelingt. Kritik üben nur Hardliner, die mehr Brutalität in der Ukraine fordern.
Weltpolitisch tief in der Defensive
Am Ende des ersten Kriegsjahres ist Putin so unangefochten wie zu Beginn. Das ist wohl sein größter Erfolg. Weltpolitisch jedoch steckt er tief in der Defensive. Beim Eurasien-Gipfel im September lassen ihn die anderen Staatschefs reihenweise warten. Xi Jinping ist zunehmend genervt von den ewigen Atomdrohungen. Er distanziert sich noch vor dem G-20-Gipfel im November, bei dem Russland isoliert ist. Putin reist erst gar nicht an. Den Bruch mit dem Westen hat er ohnehin längst vollzogen.
Ein Jahr nach Kriegsbeginn ist klar: Der russische Präsident hat nicht nur den Westen, den er für dekadent und schwach hält, falsch eingeschätzt, sondern vor allem die Ukraine. Mit seinem Plan, mit Waffen eine neue Weltordnung zu erzwingen, ist Putin auf ganzer Linie gescheitert. Und dennoch: Die Bilanz ist nicht mehr als eine Zwischenbilanz. Putin hat seine Ziele nicht aufgegeben. Die ukrainische Führung rechnet mit einer russischen Offensive in den kommenden Wochen.