Heute hü, morgen hott – in diesen so besonderen Zeiten ändert sich manches vielleicht nicht über Nacht, aber doch von einer auf die nächste Woche. Was ein paar Tage zuvor noch Stand der Dinge war, ist bald schon von der Wissenschaft oder – im Angesicht der Corona-Fallzahlen – von der Realität überholt. Die Politik revidiert oft genug ihre Entscheidungen. Was dazu führt, dass manch ein Bürger Orientierung vermisst.
Nicolaja Kautzmann-Raabe zum Beispiel. Die Bonner Medienpsychologin findet, dass die Politiker „oft hinterherhinken und zu wenig vorausschauend arbeiten“. Sie erinnert sich an den Frühsommer, als schon die Sorge vor einer zweiten Corona-Welle laut wurde. Doch statt für die Schulen Konzepte zu entwickeln und umzusetzen, damit das Infektionsrisiko geringer wird, sei nichts geschehen. „Nach den Ferien sind die Kinder und Jugendlichen in den gleichen Klassenstärken wie vorher unterrichtet worden.“
Museen und Theater kommen zu kurz
Enttäuscht sei sie auch, dass im „Lockdown light“ gerade die Museen geschlossen sind. „Die haben doch ausreichend Platz, können Abstände gewährleisten und haben ein diszipliniertes Publikum“, meint Kautzmann-Raabe. Auch die Theater hätten große Mühen auf sich genommen, um das Ansteckungsrisiko zu minimieren – und hätten trotzdem dichtmachen müssen. Ihr Fazit: „Es trifft die Falschen.“
Man dürfe Politik „nicht überfordern“, sagt der Bonner Politikwissenschaftler Volker Kronenberg. Diese umfassende Krise sei sehr überraschend gekommen. Deshalb könne man auch nicht erwarten, dass die Politik darauf hätte vorbereitet sein müssen, zumal Politik auch komplexer sei als das schlichte Ableiten medizinisch er Befunde oder Handlungsempfehlungen.
Viele sind enttäuscht und frustriert
Sicher, Aufgabe von Politik sei es, Orientierung zu bieten, Perspektiven aufzuzeigen und Sicherheit zu vermitteln. Doch gerade in dieser Krise sei es wichtig gewesen, auf die Entwicklungen und die Dynamik zu reagieren. „Politik ist hier Krisenmanagement in einem hohen Maße von Unsicherheit.“ Keine Zeit für langfristige Konzepte. „Politik kann da nur kleinteilig und kurzfristig agieren“, sagt Kronenberg – mit dem Ziel, die Bürger nicht zu enttäuschen und zu frustrieren. Viele von ihnen sind aber genau das: enttäuscht und frustriert – und gehen auf die Straße. Als der Bundestag Mitte November das Infektionsschutzgesetz beschließt, eskaliert die Lage, Wasserwerfer fahren auf, es kommt zu Rangeleien. Das Gesetz wird zum Symbol dafür, dass die Regierenden – wenn auch nur für Wochen – den Bürgern massive Einschränkungen zumuten dürfen. Die „Querdenken-Bewegung“ erhält Zulauf, demonstriert nun überall im Land. Doch es sind nicht nur besorgte Bürger, die da mitmachen, sondern auch zunehmend Rechtsextreme, die solche Aufzüge für ihre Politik nutzen wollen.Nicolaja Kautzmann-Raabe will sich diesen Protestzügen deshalb nicht anschließen. Ihr Weg sei es, Politiker höflich anzuschreiben und ihnen Argumente vorzulegen. Deshalb hat sie das neue Infektionsschutzgesetz zum Anlass für eine Petition an den Bundestag genommen. Ihre Sorge: Dass das Gesundheitsministerium die Krise nutzt, um die Reichweite für die elektronische Patientenakte zu vergrößern und den Datenschutz auszuhöhlen.
Potenziale der Digitalisierung ausschöpfen
Wissenschaftler Kronenberg sieht das nicht so kritisch: „Datenschutz ist notwendig und richtig“, aber diese Krise zeige, dass die Potenziale der Digitalisierung viel stärker ins Gesichtsfeld gerückt sind. Schließlich gehe es vor allem um den Gesundheitsschutz.Auch Kautzmann-Raabe hat sich Gedanken gemacht, wie die Corona-Fallzahlen zurückgehen könnten. Ihre Empfehlung an die Politik: Ein Appell an die Vernunft der Menschen, sich im Privatleben zurückzuhalten, und auch keine Lockerungen an Weihnachten. „Es werden sonst zu viele Menschen über die Stränge schlagen.“ Und sie wünscht sich, dass mehr miteinander statt übereinander geredet wird. Einen „Gesprächskreis mit Querdenkenden“ könne sie sich vorstellen. Doch kann das Orientierung in dieser Zeit bieten?
Annette Hoss hat andere Befürchtungen. Die 54-Jährige aus dem Kreis Ahrweiler sieht Parallelen zum Ende der Weimarer Republik. „Damals hat man den Nazis den Weg bereitet, indem man nur noch mit Notverordnungen regiert hat.“ Wenn sie die Maßnahmen der Regierungen in Bund und Ländern sehe, habe sie den Eindruck, dass auch jetzt der Notstand heraufbeschworen wird. „Mir wird dabei nur noch angst und bange.“
Kronenberg will beruhigen: „Die Grundrechte gelten nach wie vor, die Meinungsfreiheit, die Demonstrationsfreiheit.“ Die Einschränkungen dienten der Unversehrtheit der Menschen und ihrer Freiheit. „Ich sehe keine Bestrebungen, die freiheitliche Demokratie zu beschränken oder überwinden zu wollen.“
Gezwungen, im Internet zu kaufen
Zurück zu Annette Hoss: Einmal richtig in Rage legt die Restauratorin nach: „Es ist doch ein Skandal, dass jedes kleine Gesetz über Monate in den Parlamentsausschüssen beraten, doch das Infektionsschutzgesetz in kürzester Zeit durchgepeitscht wird.“ Viele kleine Geschäfte müssten schließen, übrig blieben die Großen. „Die Regierung zwingt die Deutschen quasi, im Internet einzukaufen. Das kann doch nicht sein.“ Sie verstehe die Maßnahmen des neuen Lockdowns einfach nicht.
„Ich möchte überzeugt werden, warum wir das alles machen.“ Sie will unbequem sein und sagt, dass ihr die bisherigen Erklärungen der Politik nicht ausreichen. Natürlich wolle sie kein Corona haben, aber an einer Krankheit zu sterben, gehöre nun mal zum Lebensrisiko. „Der schwedische Weg wäre eher meiner gewesen.“ Also hohe Fallzahlen in Kauf zu nehmen, aber auch zu lernen, mit dem Virus zu leben. Unvorstellbar für die Politiker hierzulande, meint Kronenberg. Sie seien im Frühjahr aufgeschreckt worden durch die Bilder aus Italien, Frankreich und den USA. „Solche Schreckensszenarien wollte man in Deutschland unbedingt vermeiden.“ Daher habe man zunächst schnell vieles dichtgemacht.
Zwischen Angst und Angstmacherei
Und jetzt? Auch Hoss fehlen „Diskussionen über den richtigen Weg“. Zumal sie glaubt, dass die Politiker die Ängste der Bürger nicht mehr wahrnehmen, „ja sogar versuchen, ihnen Angst zu machen, um sie dazu zu bringen, die Regeln einzuhalten“. Allein schon deshalb sei ihre Skepsis gegenüber den Maßnahmen der Politik zuletzt eher gewachsen.
Der Wissenschaftler kann das nachvollziehen. Weil neben dem Bund 16 Länderregierungen mitreden, entst ehe oft der Eindruck von Widersprüchlichkeiten, sagt Kronenberg. Das sei in einer Zeit, in der die Bürger Halt suchen, nachteilig. „Die Menschen wollen eine Ahnung davon haben, warum die Maßnahmen jetzt notwendig sind.“ Da gehe es um eine in sich schlüssige und geschlossen vorgetragene Interpretation. „Das hat sich über die Monate hinweg gewandelt und ist nicht mehr so der Fall wie im Frühjahr.“
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Was Annette Hoss zunehmend auf die Palme bringt, also fehlende Erklärungen zu den Beschlüssen, sieht der Bonner Rudolf Rupperath nicht als Mangel an. „Ich denke anders als Anfang November.“ Damals hatte er in einem Leserbrief seinen Eindruck geschildert, „dass Politiker sich gegenseitig darin zu überbieten suchen, wer die härtesten Einschränkungen verfügt“. Das Fazit des 74-Jährigen seinerzeit: „Zielführend ist das nicht und ein Lockdown light erst recht nicht.“
Respekt vor Angela Merkel sogar gewachsen
Nun sagt Rupperath, angesichts der nach oben geschnellten Corona-Fallzahlen sei es richtig gewesen, in den vergangenen Wochen wieder mehr Einschränkungen vorzunehmen. Und auch der absehbar neue strenge Lockdown findet seinen Beifall. Zudem sei sein Respekt vor Politikern wie Bundeskanzlerin Angela Merkel oder dem Berliner Regierenden Bürgermeister Michael Müller sei gewachsen. „Die tun, was sie können, und machen das, was sie tun müssen.“ Für ihn ist es der richtige Weg in der Krise.
Sicher, auch er finde es bedauerlich, dass Gaststätten wieder schließen mussten und in Kultureinrichtungen wie dem Pantheon – „phänomenal, wie dort die Hygieneregeln beachtet wurden“ – nicht gespielt werden dürfe. Aber er stütze diese Maßnahmen, um die Pandemie in den Griff zu bekommen. Ja, er hätte sogar „ein komplettes Feuerwerk-Verbot an Silvester für richtig gehalten“.
Denn man müsse alles tun, um die Fallzahlen zu senken. Dabei seien all jene eine große Hilfe, die sich an die Regeln halten. „Die finden in den Medien aber zu wenig Berücksichtigung.“ Querdenker seien für ihn „in Wahrheit Nichtdenker“. Verstörend sei es, wenn Verbindungen zwischen Corona und dem Holocaust gezogen würden“, sagt der ehemalige Geschichtslehrer.Und was wird bleiben von der Pandemie? Auf jeden Fall hohe Staatsschulden. Er sei sicher, dass es eine Debatte geben werde, „ob die Maßnahmen gerecht waren und wer die Folgen der Krise vor allem zu tragen hat“, vermutet Kronenberg. Sind es die starken Schultern? Oder die gesamte Gesellschaft? Gibt es Steuererhöhungen und wenn ja, in welchen Bereichen? „Diese Debatte um die soziale Gerechtigkeit wird an Dynamik und Schärfe zunehmen.“ Langfristig seien genau das die Fragen nach Orientierung, „denn die Menschen wollen wissen, wie wir als Gesellschaft gestärkt aus dieser Krise hervorgehen können“.