Altenahr/Euskirchen – Am ersten Jahrestag der Ahr-Flut erinnert Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an die mindestens 134 Todesopfer in dem Flusstal. Als „eine Erfahrung, die sich tief eingeprägt hat”, bezeichnet er bei einem Besuch das Schicksal des Vaters von Wilfried Laufer, der Chef eines Weinlokals in Altenahr ist. Der 83-jährige Vater war in der Flut ertrunken - und erst Tage später gefunden worden. Steinmeier nimmt sich am Donnerstag auf der Terrasse der gerade erst wiederaufgebauten Weinstube im Beisein der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) viel Zeit, um mit Betroffenen, Helfern und Kommunalpolitikern zu sprechen.
Rasch wird unter Sonnenschirmen bei harmlosem hochsommerlichen Wetter klar: Der Wiederaufbau im Ahrtal mit rund 9000 verwüsteten Häusern und zahlreichen zerstörten Verkehrswegen zieht sich noch lange hin. Das Staatsoberhaupt im dunklen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte spricht neben immer noch unbewohnten und beschädigten Häusern mit dunklen Fensterhöhlen ohne Scheiben von den „nächsten Jahren”. Andre Bender vom Helferstab des einst so touristischen Rotweingebietes sagt: „Grob geschätzt haben wir hier noch einen Dauerlauf von fünf bis zehn Jahren.”
Viele Gründe für Verzögerungen beim Wiederaufbau
Schleppende Zahlungen aus dem Wiederaufbaufonds mit komplexen Antragsformularen, Debatten mit Versicherungen, ausgebuchte Gutachter und Handwerker, fehlende Baumaterialien, Inflation und steigende Zinsen - für Verzögerungen gibt es viele Gründe. Die parteilose Landrätin des Kreises Ahrweiler, Cornelia Weigand, sagt, viele Anwohner hätten angesichts anfänglicher Versprechungen von rascher und unbürokratischer Hilfe erst gedacht, der Aufbau gehe schneller. Nun zerrten die Verzögerungen an den Nerven. „Das polarisiert”, warnt Weigand. Die Gesellschaft im Ahrtal dürfe nicht „auseinanderbrechen”.
Auch der Bürgermeister des ebenfalls teilzerstörten Winzerdorfs Dernau, Alfred Sebastian, hat den Eindruck, „dass die Stimmung langsam kippt”. Der Wiederaufbau sei auch eine Frage des Alters: Junge Anwohner schauten eher nach vorne und bauten wieder auf, ältere Bürger zögerten. Sebastian spricht auch die Verseuchung vieler Häuser mit Heizöl in der Flut an: Erst vergangene Woche habe in Dernau ein Ehepaar im Alter von Mitte 80 erfahren müssen, dass sein Haus nach fehlgeschlagenen Rettungsversuchen nur noch abgerissen werden könne.
Am Donnerstagnachmittag reist Steinmeier dann weiter nach Euskirchen in Nordrhein-Westfalen und nimmt dort an einem Gedenkgottesdienst teil. In einer Rede fordert er im Anschluss Konsequenzen aus der Jahrhundertflut: „Wir müssen jede, aber auch wirklich jede Anstrengung unternehmen, um die Folgen des Klimawandels zu bekämpfen, und wir müssen viel umfassender Vorsorge treffen, um unseren Kindern und Enkeln einen lebenswerten Planeten zu hinterlassen.”
Einwohnerin schildert Erlebnisse
In dem Gottesdienst wird der Toten mit Glockenschlägen gedacht. Eine Einwohnerin von Bad Münstereifel schildert, wie sie mit ihrem Mann verzweifelt Barrieren vor ihrem Haus aufwarf, aber feststellen musste, dass das Wasser schneller stieg. „Plötzlich sah ich unsere Autos draußen vorbeischwimmen. Da wusste ich: Wir sind in Lebensgefahr.” Ihr Haus wurde in Sekundenschnelle geflutet. „Die berstenden Geräusche, wie das Wasser alles zerstörte, werde ich nie vergessen.”
An der zentralen Gedenkveranstaltung des Ahrtals in Bad Neuenahr-Ahrweiler nimmt am Abend auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) teil - ohne Redebeitrag. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) hat für die Anwesenden dieselbe Botschaft wie ihr nordrhein-westfälischer Amtskollege Hendrik Wüst (CDU), der zur selben Zeit in Euskirchen spricht: Die Opfer werden nicht vergessen. Und die Angehörigen sind nicht allein.
Bei der Gedenkfeier in Bad Neuenahr-Ahrweiler werden auf einen großen Bildschirm nacheinander die Vornamen der Todesopfer projiziert. Jedesmal taucht vor einem Nachthimmel in der Mitte ein neuer heller Stern auf und gesellt sich zu seinesgleichen weiter hinten. Bei einer Schweigeminute fassen sich Dreyer, Weigand und der Bürgermeister von Bad Neuenahr-Ahrweiler, Guido Orthen (CDU), an der Hand - das soll den Beginn von Menschenketten symbolisieren, die an diesem Freitag als Zeichen des Zusammenhalts im ganzen Ahrtal geplant sind.
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