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Berliner Museum KarlshorstStaatliche Zusammenarbeit bei der Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges

Lesezeit 7 Minuten
Seit dem russischen Angriff wehen vor dem Museum Karlshorst in Berlin nur noch die ukrainischen Farben.

Seit dem russischen Angriff wehen vor dem Museum Karlshorst in Berlin nur noch die ukrainischen Farben.

Gemeinsames Gedenken nach 80 Jahren: Im Berliner Museum Karlshorst, Ort der deutschen Kapitulation 1945, arbeiten Deutschland, Russland, die Ukraine und Belarus zusammen an der historischen Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs. Wie klappt das angesichts der aktuellen Geschehnisse?

Spurlos ist der Ukraine-Krieg nicht vorbeigegangen an jenem Ort, an dem buchstäblich Weltgeschichte geschrieben wurde. Vor dem Museum Karlshorst im Osten Berlins, dem Gebäude, in dem 1945 die Wehrmachtsführung die Kapitulation Deutschlands unterzeichnete, hängt nur an einem der vier Masten eine Fahne schlaff im Wind – es ist die ukrainische. An den anderen wehten früher noch die deutschen, russischen und belarussischen Farben, die Fahnen jener Länder, die gemeinsam an der Museumsarbeit beteiligt sind.

Dann kam der 24. Februar 2022, der Tag, an dem Russland sein Nachbarland überfiel. Und das Museum mit dem Einholen der Fahnen ein Zeichen setzen wollte, bis heute. Auch der Schriftzug „Deutsch-russisches Museum“ an der Außenmauer wurde erst überklebt, dann entfernt. Heute steht dort „Ort der Kapitulation 1945“. Was eigentlich auch korrekter ist.

Feldmarschall Wilhelm Keitel, Oberkommandierender der Wehrmacht (1938-45), unterschreibt in Berlin-Karlshorst die Kapitulations-Urkunde der deutschen Wehrmacht (Archivbild vom 09.05.1945).

Feldmarschall Wilhelm Keitel, Oberkommandierender der Wehrmacht (1938-45), unterschreibt in Berlin-Karlshorst die Kapitulations-Urkunde der deutschen Wehrmacht (Archivbild vom 09.05.1945).

Für das Signal habe es viel Zustimmung gegeben, aber auch Kritik, sagt Museumsleiter Jörg Morré. Man sah sich allerdings regelrecht zu dem Schritt gezwungen, da Moskau „den ersten Stein geworfen“ habe. Sprich: Die russische Regierung habe die historische Betrachtung des Zweiten Weltkriegs für den Krieg in der Ukraine politisch instrumentalisiert und damit „delegitimiert und entwertet“.

Der Vorwurf, das Museum habe mit der Aktion „die Rolle der Roten Armee bei der Befreiung Deutschlands vom Faschismus nivellieren wollen“, sei aber ungerechtfertigt, sagt Morré. „Hinter diesem Vorwurf steckt nach meiner Interpretation eine Gleichsetzung zwischen sowjetischer und russischer Armee: Sowjetunion ist gleich Russland, Moskau ist Sowjetunion.“ Und diese Gleichsetzung habe „viel mit eingeübten Sichtweisen in Ost- und Westdeutschland zu tun“.

Nicht nur Russen starben im Kampf gegen die Deutschen

Letztlich war das Wort „russisch“ im Museumsnamen mindestens ungenau: Schließlich ist die Sowjetunion bei ihrem Zusammenbruch in 15 Nationalstaaten zerfallen, und im Krieg gegen NS-Deutschland kämpften und starben neben Russen eben auch Kasachen, Usbeken, Balten – und Millionen Ukrainer. Weshalb 2021 etwa der damalige ukrainische Botschafter Andrej Melnyk eine Gedenkveranstaltung zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion in dem „deutsch-russischen“ Museum boykottiert hatte.

Hinter diesem Vorwurf steckt eine Gleichsetzung zwischen sowjetischer und russischer Armee.
Jörg Morré, Museumsleiter

Der historische Moment vor 80 Jahren war schon immer stark politisiert: Vor dem Museum sind schon Neonazis aufmarschiert, auch der nationalistische russische Motorradclub „Nachtwölfe“ nutzte den Gedenkort für symbolkräftige Bilder. Selbst das Datum ist ein heikles und heute wieder „politisch extrem umkämpftes“ Thema, sagt Morré. Im Westen wird der 8. Mai als der Tag der Kapitulation und mithin der Befreiung begangen; in Russland ist es der 9., so hielten es auch die früheren Ostblock- und Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Dass die Ukraine den „Tag des Sieges“ 2015, nach der russischen Annexion der Krim und während der Kämpfe mit russischen Separatisten im Donbass, offiziell auf den 8. Mai verlegte und dafür den 9. Mai zum „Europatag“ erklärte, hatte durchaus einige Brisanz.

Aber warum eigentlich zwei Daten, bei einem so bedeutenden historischen Moment, der ja zudem schriftlich fixiert ist? Dazu muss man etwas weiter ausholen.

Blick auf den Saal des früheren Offizierscasinos in Berlin.

Blick auf den Saal des früheren Offizierscasinos in Berlin.

Als sich am späten Abend des 8. Mai 1945 die Führungsspitzen der deutschen Wehrmacht an einen Tisch im Saal des früheren Offizierscasinos setzen, um in Anwesenheit der sowjetischen Militärbefehlshaber die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches zu unterzeichnen, war es gewissermaßen bereits das dritte Mal, dass sich das Naziregime ergab. Vier Tage zuvor kapitulierten bei Lüneburg die Truppen in Nordwestdeutschland vor den Briten, am 7. Mai dann die komplette Wehrmacht im Hauptquartier der westlichen Alliierten in Reims. Allerdings sei das dort unterschriebene Papier recht hastig aufgesetzt gewesen, erklärt Morré. Das in Karlshorst von Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, unterzeichnete und als Faksimile ausgestellte Dokument sei das „durchkomponiertere“.

Oft wird behauptet, die Zeremonie in Karlshorst sei vor allem der gekränkten Eitelkeit des Sowjetdiktators Josef Stalin geschuldet gewesen, der auf einer Wiederholung der Unterzeichnung vor seinen Truppen bestanden habe. Das stimme so nicht, sagt Morré: Es war nicht zuletzt der Oberbefehlshaber der Alliierten, Dwight D. Eisenhower, der darauf gepocht hat, dass die Wehrmacht auch vor der Roten Armee offiziell kapitulieren müsse. Zwar war ein sowjetischer Abgesandter in Reims zugegen, aber dessen Unterschrift erfolgte ohne grünes Licht aus Moskau – dort hatte niemand gewagt, Stalin mitten in der Nacht zu wecken.

In beiden Erklärungen sollten die Waffen am 8. Mai um 23:01 Uhr mitteleuropäischer Zeit schweigen; in deutscher Sommerzeit war das 0:01 Uhr am 9. Mai, nach Moskauer Zeit 1:01 Uhr. Rückwirkend, heißt das im Falle Karlshorsts, denn dort wurde die Unterschrift erst nach Mitternacht geleistet – die Delegierten der Westalliierten mussten ja erst nach Berlin kommen. Bis dahin hatten die Truppen im Osten weitergekämpft, bis zur letzten Minute wurde auf Rotarmisten geschossen – während im Westen die Menschen bereits auf den Straßen feierten. Weil ein US-Reporter die Sperrfrist ignoriert und die Nachricht von der Unterzeichnung in Reims in die USA gekabelt hatte, verkündeten westliche Zeitungen in ihren Ausgaben vom 8. Mai das Kriegsende. An der Front wurde noch stundenlang weiter getötet.

Weshalb das Museum Karlshorst seine Besucher im Eingangsbereich eben mit beiden Daten begrüßt, zweisprachig. Überhaupt sucht das Haus nach Ausgleich – auch in seiner Verwaltung. Der ursprüngliche Schriftzug „Deutsch-russisches Museum“ kam ja nicht von ungefähr: 1991, nach der Wende, begannen die Gespräche zwischen der deutschen und der damals noch sowjetischen Regierung über die Zukunft des Museums, das seit 1967 besteht – damals mehr ein militärisches Siegesmuseum, die Panzer und Geschütze in der Außenanlage zeugen heute noch davon.

Deutschlands Botschaft an die Welt: Wir können auch friedlich

Die „Neugründung“ 1994 – die Sowjetunion war da bereits Geschichte – geschah dann mit starker politischer und diplomatischer Rückendeckung Berlins und Moskaus, berichtet Morré: „Für das wiedervereinte Deutschland war es wichtig, die durch seine Größe und seine anzunehmende Stärke ausgelösten Befürchtungen im Ausland zu zerstreuen.“ Schließlich waren nicht alle Nachbarn begeistert von der Wiedervereinigung. Die Botschaft der Bundesregierung ans Ausland war: Das Museum ist der Beweis, dass Deutschland „mit einem ehemaligen Feindstaat im Guten zusammenarbeiten“ könne.

Die postsowjetischen Vertreter in der Expertenkommission, die das Museumskonzept entwickelte, kamen allerdings zunächst allesamt aus Moskau. Der deutschen Seite reichte das auch, sagt Morré; und es dauerte ohnehin bis 1997/98, als sich mit der Ukraine und Belarus zwei weitere frühere Sowjetrepubliken beteiligten. Mit je einem Sitz im Museumsverein – gegenüber sechs russischen, drei davon von Ministerien besetzt. Lange habe dieser Expertenrat in rein deutsch-russischer Besetzung getagt, sagt der Museumsleiter, und darin habe durchaus „eine gewisse Unwucht“ gelegen.

Für das wiedervereinte Deutschland war es wichtig, die Befürchtungen im Ausland zu zerstreuen.
Jörg Morré, Museumsleiter

Im Trägerverein sind die russischen Ministerien auch weiterhin vertreten; auf wissenschaftlicher Seite brechen aber andere Zeiten an: Im gerade erst im Februar neu formierten Beirat hat Deutschland, das das Haus immerhin finanziert, fünf Sitze; weitere sechs werden von je einem Vertreter Russlands, der Ukraine, Belarus, Litauens, Lettlands und Moldaus besetzt.

Das beseitigt nicht nur die „Unwucht“, sondern macht das Museum auch wieder handlungsfähiger. Denn der russische Angriff auf die Ukraine hatte 2022 auch den Beirat gesprengt: „Die von russischer Seite nominierten Vertreter waren dermaßen auf staatlicher Linie, dass die deutschen Beiräte es ablehnten, sich mit ihnen zu konstituieren.“ Und das, nachdem bereits die Corona-Pandemie für weitgehenden Stillstand gesorgt hatte. Mittlerweile sei diese Krise aber überwunden, sagt Morré: Man sei sich nun einig, „dass in der aktuellen Besetzung der Austausch und die wissenschaftliche Beratung möglich sind“. Dass es wieder vorangeht, zeigt das aktuelle Projekt: Die gerade beendete Sonderausstellung „Riss durch Europa“ über den Hitler-Stalin-Pakt ist auf dem Weg in die Ukraine, später geht sie nach Moldau.

Zwei Daten, zwei Sprachen: Zwei unterschiedliche Tage des Kriegsendes 1945 - zwischen Deutschland und den ehemaligen Staaten der Sowjetunion bis heute ein Politikum.

Zwei Daten, zwei Sprachen: Zwei unterschiedliche Tage des Kriegsendes 1945 - zwischen Deutschland und den ehemaligen Staaten der Sowjetunion bis heute ein Politikum.

In der Dauerausstellung zur Geschichte Deutschlands und der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg ist seit dem russischen Angriff und auch seit Beginn des Konflikts im Donbass nichts geändert worden, warum auch – sie sei wissenschaftlich auf der Höhe der Zeit, sagt Morré. Und das Herzstück des Museums, der im Originalzustand belassene Kapitulationssaal, wird ohnehin nicht angetastet. Außer, dass die Stühle und Tische etwas jüngeren Datums sind und zudem enger zusammengerückt wurden – für Veranstaltungen gebe es sonst keinen Platz im Haus, so der Museumsleiter.

Vom Sowjetabzeichen zum Propagandasymbol Moskaus

Gleichwohl: Den aktuellen Krieg vor diesem Hintergrund vollkommen unerwähnt zu lassen, wäre wohl kaum zu vermitteln. Das Museum widmet ihm daher eine kleine Zusatzschau darüber, wie die Erinnerungssymbolik in Russland, der Ukraine und Belarus auseinanderdriftet – am Beispiel des schwarz-orange gestreiften Georgsbands. Das militärische Abzeichen aus zaristischen und Sowjetzeiten wurde in den 2000ern zu einem verbreiteten Weltkriegs-Gedenksymbol; mittlerweile ist es zu einem zentralen Propagandaelement der russischen Regierung mutiert, man sieht es bei Aufmärschen, an Gedenkstätten oder auf Panzern.

Russlands Nachbarn haben sich vom Georgsband weitgehend verabschiedet, einige haben es verboten. An ihre Weltkriegsopfer erinnern die Ukrainer nun lieber, wie die Briten, mit Mohnblumen.