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„Man darf nicht verallgemeinern“Sonia Mikich über ihre Russlanderfahrungen

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phil.Cologne in der Comedia mit Sonia Mikich und Plasberg.

Köln – Stimmt, da war doch mal was. Die nicht mehr ganz Jungen werden sich erinnern. Angesichts der aktuellen Weltlage klingt es geradezu absurd, aber zu Beginn der 90er Jahre, also vor etwa drei Jahrzehnten, verband man mit Russland Gedanken wie Freiheit und Neubeginn. Während der gerade zu Ende gegangenen Ära Gorbatschow hatte politisches Tauwetter eingesetzt, der Eiserne Vorhang war gefallen.

In dieser Situation kam die WDR-Journalistin Sonia Mikich nach Moskau, zunächst für gelegentliche Einsätze als Auslandsreporterin und ab 1992 dauerhaft als Russland-Korrespondentin. In ihrer soeben erschienenen Autobiografie „Aufs Ganze: Die Geschichte einer Tochter aus scheckigem Haus“ schildert sie, wie sie sich umgehend in der Stadt heimisch fühlte und in den Roten Platz regelrecht verliebte: „Für mich war es der betörendste Ort der Welt.“

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Sonia Mikichs Buch.

Wer also, wenn nicht Mikich, wäre prädestiniert, im Rahmen der diesjährigen phil.cologne über Russland zu sprechen? Dies tat sie in der Comedia im Zwiegespräch mit Frank Plasberg, der sie als „gewissermaßen meine ehemalige Vorgesetzte“ vorstellte. „Aber nur im weitesten Sinne“, relativierte Mikich, von 2014 bis zu ihrer Pensionierung 2018 WDR-Chefredakteurin Fernsehen.

Der Buchtitel ist keineswegs übertrieben: Geboren in London und aufgewachsen im Ruhrgebiet, vereint die heute 70-jährige deutsche, französische, italienische und serbische Wurzeln in sich. Schon als Kind, erinnert sie sich, sei sie permanent mit neuen Situationen und unterschiedlichen Kulturen konfrontiert gewesen. Sie sei auch kein für die damalige Zeit „typisches Mädchen“ gewesen: „Ich hatte es nicht mit Puppen, spielte nicht gerne Vater-Mutter-Kind und wollte nicht Lehrerin werden.“

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Auch wenn ihre Zeit in Russland – 1998 wechselte sie ins ARD-Studio Paris – mittlerweile ein Vierteljahrhundert zurückliegt, hat sie dort bis heute Kontakte und erhält Einsichten, wie sie selbst die bestrecherchierte Berichterstattung in den Medien nicht liefern kann. Man dürfe nicht verallgemeinern, appellierte sie an das Publikum: „Selbst die ,Klischeerussen’, wie sie uns in den teuren Hotels begegnen, müssen nicht zwangsläufig Putin-Anhänger sein“. Die junge Demokratie, die in den 90er Jahren „ihrem vermeintlichen Glück entgegentaumelte“, habe nicht die Zeit gehabt, sich zu festigen, um den jüngsten Ereignissen zu trotzen.

Viele ihrer Freunde, versicherte sie, fühlten sich von Putin und seinen Ideen abgestoßen. Dies öffentlich kundzutun, erfordere aber weitaus mehr Mut, als man sich hierzulande vorstellen könne. So habe sie kürzlich mit einem Bekannten in Moskau telefoniert, der im Laufe des Gespräches seinem Ärger Luft machte. „Und dann hörte ich im Hintergrund plötzlich seine Frau, die ihm ängstlich zuflüsterte: Sag doch so etwas nicht am Telefon! Was ist denn, wenn wir abgehört werden?“

Aufs Ganze: Die Geschichte einer Tochter aus scheckigem Haus, Autobiografie, Kiepenheuer & Witsch, 304 Seiten, 22 Euro.