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Interview mit TikTok-Anwalt„Ich bin mir für nichts zu schade“

Lesezeit 9 Minuten
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Bei TikTok benatwortet Tim Hendrik Walters als „Herr Anwalt“ juristische Fragen von Schülern.

  1. Mit 4,5 Millionen Followern zählt Tim Hendrik Walter zu den erfolgreichsten Tiktok-Stars Deutschlands.
  2. Ankea Janßen sprach mit ihm über seinen Erfolg.

Ab wann darf man die Schule verlassen, wenn der Lehrer nicht kommt? Darf man sich vom Taschengeld kaufen, was man will? Mit Fragen wie diesen beschäftigt sich der 37-jährige Jurist aus Unna – besser bekannt als Herr Anwalt.

Welche Alltagsfrage von Jugendlichen beantworten Sie gerade?

Tim Hendrik Walter: Ich kläre die Frage, ob man im Supermarkt nur eine Weintraube kaufen darf. Auf Tiktok machen sich die Leute daraus häufig einen Spaß.

Und darf man?

Ja, theoretisch schon. Es hängt vom jeweiligen Supermarktbetreiber ab. Der dürfte das unterbinden, wenn er sich veräppelt fühlt.

Einer Ihrer Standard-Sätze lautet: „Ich wurde markiert, Herr Anwalt reagiert, was ist passiert?“ Liefert Ihre Community Ihnen die meisten Themen?

Ja, meistens. Natürlich setze ich auch immer mal Reize, wenn ich merke, dass ein Thema gesellschaftlich total relevant ist und wir darüber sprechen sollten. Der Großteil meines Contents ergibt sich aber aus der Beobachtung der Plattform und meiner Community. Ich gucke, was dort gerade passiert. Was sind die Trends? Was interessiert die Leute? Wie ist der Vibe? Die Plattform ist wie ein Ökosystem. Wenn man darin lebt, spürt man das.

Wie sind Sie als Anwalt auf Tiktok gelandet?

Ich bin 1984 geboren und mit dem Internet groß geworden. Irgendwann gab es die sozialen Netzwerke, und ich habe mich überall angemeldet. Durch Instagram habe ich mich mit den visuellen Medien beschäftigt und schließlich einen Youtube-Kanal für Jura-Studenten eröffnet. Dort habe ich erklärt, wie man eine Hausarbeit schreibt und worauf es in Klausuren ankommt. Ein Kumpel hat mir dann immer Tiktoks geschickt, und die Energie auf der Plattform hat mir gut gefallen. Also habe ich im November 2019 ein Mainstream-Format entwickelt und hatte gleich 20000 Aufrufe. Es war also reine Neugierde. Ich wollte gucken, was da abgeht.

Mittlerweile haben Sie 4,5 Millionen Follower. Wie erklären Sie sich den Erfolg?

Ich glaube, es ist eine Mischung aus mehreren Dingen. Es liegt einerseits an meiner Beharrlichkeit, mit der ich Tiktok betreibe, denn ich poste jeden Tag, egal was los ist. Das ist mein „Habit“ (Anm. der Redaktion: Gewohnheit) geworden. Und natürlich greife ich die Interessen der jungen Menschen auf und spreche deren Sprache. Ich bewege mich auf Augenhöhe und halte keine langatmigen Vorträge. Hinzu kommt, dass ich sehr interessiert an der Popkultur bin: Ich gucke gerne Youtube und Netflix, liebe Star Wars und bin ein großer Marvel-Fan und Gamer. In meinen Videos baue ich immer wieder entsprechende Anekdoten ein und die Leute merken: „Jo, der guckt denselben Kram wie ich.“ Das verbindet. Außerdem bin mir für nichts zu schade, und damit tun wir Juristen uns ja bekanntlich schwer.

Darf ein Anwalt lustig sein?

Na klar! Selbstironie ist ein wichtiger Schlüssel, um sympathischer rüberzukommen. Der ein oder andere mag das anders sehen, denn häufig wird ja mit dem Begriff Seriosität hantiert. Seriosität ist für mich, wenn meine Handlungen und Worte im Einklang sind. Ein guter Jurist hat die Fähigkeit, sich in die Situation seines Gegenübers hineinzuversetzen. Als Anwalt habe ich mit den unterschiedlichsten Menschen zu tun, das trainiert die Empathiefähigkeit. Ich bewege mich in einem Feld, in dem viele Jugendliche unterwegs sind, also muss ich wissen, wie die ticken.

Wie sehen Kollegen Ihres Berufsstandes Ihre Social-Media-Aktivitäten?

Überraschend positiv. Ich bekomme fast täglich Nachrichten, in denen mir Kollegen schreiben: „Hey super, endlich wird das Bild vom verstaubten Anwalt mal aufgelöst.“ Und es kommt ja auch einiges dabei rum: Ich lerne interessante Menschen kennen, habe mein Buch „5MinutenJura“ geschrieben. Das sind alles Möglichkeiten, die sich sonst nicht mal eben so ergeben hätten.

Gewinnen Sie über Tiktok neue Mandanten?

Ich mache nirgendwo Werbung für die Webseite der Kanzlei. Das möchte und brauche ich nicht, denn ich bin gut beschäftigt. Manchmal auch zu meinem Leidwesen, da ich neben meinen Social-Media-Aktivitäten nur sehr wenig Freizeit habe. Die letzten zwei Jahre habe ich keinen Urlaub gemacht. Die meisten Anfragen, die ich bekomme, sind keine vernünftigen Mandate, sondern häufig ist die Verbraucherzentrale der richtige Ansprechpartner.

Oft bringen Sie ja auch eine Botschaft rüber...

Ja, das Recht stattet uns mit Rechten, aber auch Pflichten aus. Daneben gibt es noch Moral und Ethik. Meine Videos sind keine Anleitung, um Straftaten zu begehen. Deswegen ist es wichtig, eine Message mitzugeben, auf Gefahren hinzuweisen und zu sagen: „Überlegt Euch gut, was Ihr da macht.“

Wie würden Sie die Generation Z, die Sie ansprechen, beschreiben?

Extrem divers und viel politischer als meine Generation. LGBTQ ist ein Riesenthema und natürlich der Klimawandel. Dann wiederum gibt es aber auch diejenigen, denen alles egal ist. Ich glaube, dadurch, dass es heutzutage so viel Auswahl gibt, kann jeder differenzierter auswählen, und somit kommt die Diversität zustande.

Sie haben großen Einfluss auf Ihre Follower. Wie penibel müssen Sie darauf achten, was Sie sagen und tun?

Ich muss extrem aufpassen, was ich sage. Ich will niemanden beeinflussen, das ist nicht die Idee meines Kanals. Ich will informieren und auf spielerische Art für eine höhere juristische Kompetenz sorgen. Als Sender bin ich dafür verantwortlich, wie es bei dem Empfänger ankommt, und jede Aussage kann, aus dem Kontext gerissen, einen völlig anderen Sinn ergeben. Auf Social Media beobachte ich bei vielen Menschen den Drang, einen absichtlich missverstehen zu wollen.

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Nennen Sie uns doch bitte ein Beispiel.

Ich habe einmal ein Projekt gestartet, das ich im Nachhinein sehr bereue: Ich habe mit Politikern gesprochen und ihnen ganz einfache Fragen gestellt wie „Wenn Sie noch mal Schüler sein könnten, was würden Sie anders machen?“ Dazu habe ich mich mit der Fraktionsvorsitzenden der Linken, Amira Mohamed Ali, getroffen, aber auch mit Friedrich Merz (CDU). Letzteres wurde mir sehr übel ausgelegt. Ich war fortan für einen kleinen Kreis homophob und frauenfeindlich und habe so viel Druck bekommen, dass ich das Projekt abbrechen musste. Ich beobachte auf Social Media eine extreme Spaltung in zwei Lager.

Wie problematisch sehen Sie das?

Die Mechanismen auf Social Media sind teilweise fürchterlich. Es gibt eine große Empörungskultur, und je nach Kontext wird man schnell in eine bestimmte Richtung geschoben. Unsere Gesellschaft bewegt sich da noch viel zu sehr am Mittelalter: Wir urteilen zu schnell. Das hat man auch im Fall von Gil Ofarim gesehen. Mittlerweile wurde festgestellt, dass sich alles auch ganz anders zugetragen haben könnte. Aber bevor überhaupt in Ruhe analysiert werden konnte, was geschehen war, haben ganze Behörden reagiert, inklusive unseres Außenministers Heiko Maas (SPD). Wir leben in einer „You Need To Be First“-Welt, und manchmal macht mir der öffentliche Druck Angst.

Ist das der Grund, warum Sie aus Ihrem Privatleben sehr wenig preisgeben?

Als Creator auf Tiktok bin ich in dem Bereich auf jeden Fall unterdurchschnittlich unterwegs. Die meisten sind sehr heliozentrisch, es geht darum, was sie machen, wo sie sind und wie sie Dinge finden. Mein Ansatz ist aber ein völlig anderer. Ich gebe Informationen, rege vielleicht zum Nachdenken an – das ist klassisches Infotainment. Aber der Voyeurismus ist bei den Leuten extrem ausgeprägt. Ich sehe ja, was zahlenmäßig los ist, wenn eine Influencerin schwanger ist.

Für Sie käme ein so privater Einblick aber nicht in Frage?

Nein, ich möchte keine Schwangerschaft dokumentieren oder einen Skandal entwickeln, um relevant zu bleiben. Ich zeige auch nicht, wie ich wohne. Ich drehe im Büro oder zu Hause vor einer weißen Wand. Ich habe das große Glück, dass ich sehr spät in diesen Bereich gekommen bin, das erdet mich.

Welchen TikTok-Accounts folgen Sie denn eigentlich?

Um die Plattform zu beobachten, allen, die in Deutschland eine Rolle spielen. Als Profi fällt es mir schwer, die Plattform mit den Augen eines Konsumenten zu betrachten. Wenn ich aber sehe, dass in den Videos viel Arbeit, Fleiß und Kreativität steckt, schätze ich das sehr.

Wie lange dauert es, bis Sie ein Video fertig produziert haben?

Das ist völlig unterschiedlich. Am Anfang habe ich weniger Zeit gebraucht, aber mittlerweile sind die Qualität und inhaltlichen Anforderungen an die Videos enorm gestiegen. Die Plattform hat sich professionalisiert. Zudem ist mein eigener Anspruch gewachsen. Trotzdem gilt: Perfektion ist der Tod. Inhaltlich muss natürlich alles stimmen, aber Perfektion ist absolut schädlich. Je nach Video brauche ich zwischen 20 Minuten und drei Stunden.

In Ihren TikToks tauchen verschiedene Charaktere auf. Welche spielen Sie besonders gerne?

Ich mag den hochintelligenten Bruder, der immer geile Sätze raushaut aber auch den nahezu grenzdebilen Straftäter. Je ernster und brisanter das Thema ist, desto weniger schauspielere ich - da ist Fingerspitzengefühl gefragt. Wenn es darum geht, ob der Lehrer mir über die Ferien Hausaufgaben aufgeben darf, kann ich witzige Anekdoten hineinbasteln. Geht es aber um Vergewaltigung, Mord, Totschlag oder Corona-Maßnahmen, mache ich keinen Klamauk.

Für Ihren Account haben Sie in diesem Jahr den Verticle Video Award in der Kategorie „Bildung“ bekommen und Sie sind aktuell in einer Ausbildungskampagne von Kaufland zu sehen. Nach welchen Kriterien wählen Sie Ihne Kooperationspartner aus?

Ich würde nie einen Tee in die Kamera halten oder eine Massagepistole bewerben. Ich gucke ganz genau, was ich mit meinem Beruf vereinbaren kann. Da wir in Deutschland viel zu wenig Azubis haben, habe ich einer Kampagne sofort zugestimmt. Ich kriege jeden Tag unzählige Angebote, könnte mich als Creator komplett vermarkten, lehne aber fast alles ab.

Glauben Sie, viele Jugendliche wollen Ihretwegen Jura studieren?

Ja, definitiv. Ich würde gerne mal eine Statistik sehen, wie viele sich für das Jura-Studium anmelden, weil sie mich kennen. Ich sorge damit sozusagen für meine Rente (lacht).

Und Sie selbst: Für immer Anwalt oder irgendwann nur noch Tiktok-Star?

Ich sage mir jeden Tag, dass Social Media ein Ablaufdatum hat. Daher bin ich froh, dass ich Anwalt bin und das meine Haupttätigkeit ist. Wenn ich eine Entscheidung treffen müsste, würde ich mich immer fürs Anwalt-Dasein entscheiden. Obwohl ich immer sage, dass ich körperliche Schmerzen habe, wenn ich mal nichts poste. Würde ich mein Leben aber auf Tiktok stützen, würden mich die Follower-Zahlen, Likes und Views verrückt machen.