- Vor fast sechs Jahren starb Kerstin Hartmann mit nur 29 Jahren, als sie im toten Winkel unter einen Lastwagen geriet und überrollt wurde
- Ihr Vater kommt seither mindestens einmal im Jahr aus Süddeutschland zur Unglücksstelle – dort erinnert ein Geisterfahrrad an die Verstorbene
- Werner Hartmann ist seit dem Tod seiner Tochter zum Kämpfer für mehr Sicherheit für Radfahrer geworden
Köln – Vom Tod seiner Tochter erfuhr Werner Hartmann aus dem Radio. „In Köln ist eine Radfahrerin bei einem Unfall mit einem Lastwagen getötet worden.“ Eine kurze nachrichtliche Meldung. Es hätte jede Radfahrerin sein können, aber Hartmann sagt, er wusste, dass es seine Tochter Kerstin ist. „Ich habe das Radio ausgemacht und gewartet“, sagt er. Der Anruf mit der Todesnachricht kam erst am Abend.
Fast sechs Jahre ist das her. Kerstin Hartmann starb am 9. April 2013 um 16.55 Uhr an der Oskar-Jäger-Straße in Ehrenfeld. Die 29 Jahre alte Unfallchirurgin hatte noch gegen den Lastwagen geklopft, der sie auf ihrem Rad beim Abbiegen auf ein Firmengelände zur Seite drängte. Eine Zeugin hatte das damals beobachtet. Doch der Fahrer hörte das Klopfen offenbar nicht. Kerstin Hartmann wurde unter den Reifen gezogen und überrollt.
Geisterräder erinnern an tödlich verunglückte Radfahrer
Der Lastwagenfahrer sagt später, er habe geglaubt, eine Mülltonne überfahren zu haben, als er das Scheppern des Fahrrades hörte. Ein Jahr nach dem Unfall wurde der 60-Jährige wegen fahrlässiger Tötung zu sechs Monaten Haft und 3000 Euro Geldbuße verurteilt. Im Prozess sprach er Werner Hartmann sein „tief empfundenes Beileid“ aus.
Hartmann lebt in Süddeutschland. Er kommt mindestens einmal im Jahr zu dem Ort, an dem seine Tochter gestorben ist. Ein Geisterrad ist dort an eine Ampel gekettet. In Köln stehen viele dieser weiß gestrichenen Räder, die an tödlich verunglückte Radfahrer erinnern sollen. Allein 2018 sind wieder drei Radfahrer in Köln durch rechts abbiegende Fahrzeugen getötet worden. Zu ihnen gehört ein sieben Jahre alter Junge, der im Mai auf dem Weg zur Schule von einem Müllwagen überrollt wurde. In der vergangenen Wochen wurde in Rodenkirchen ein Radfahrer von einem abbiegenden Bus der Kölner Verkehrs-Betriebe tödlich verletzt.
Kein System schließe lückenlos toten WInkel aus
Technische Hilfe umstritten
Nordrhein-Westfalen unterstützt eine Bundesratsinitiative, in Europa die Pflicht zum Abbiegeassistenten in Neufahrzeugen umzusetzen. Im Januar startete ein Förderprogramm des Bundesamts für Güterverkehr, Speditionen bekommen für die Umrüstung pro Fahrzeug 1500 Euro.
Nach dem tödlichen Unfall mit einem Müllwagen in Widdersdorf, bei dem ein siebenjähriger Junge starb, wollen die Abfallwirtschaftsbetriebe alle Fahrzeuge mit eine Kamersystem ausrüsten. Die KVB reagierte hingegen auf den Tote-Winkel-Unfall mit einem Bus in der vergangenen Woche zurückhaltend. Sie halten Assistenzsysteme für „nicht zielführend“. (EB)
Werner Hartmann ist seit dem Tod seiner Tochter zum ruhelosen Kämpfer geworden. Er schreibt an Politiker, Verbände und Kommunen, um zu erreichen, dass mehr zum Schutz von Fußgängern und Radfahrern getan wird. „Kerstin soll nicht umsonst gestorben sein“, sagt er. Hartmann fordert den verpflichtenden Einbau von elektronischen Assistenzsystemen.
Mit Kameras oder Ultraschallsensoren erfassen sie die Umgebung und warnen den Fahrer per Signal, wenn ein Rad oder ein Fußgänger neben dem Lkw im „toten Winkel“ ist. Der ist bei einem Sattelschlepper so groß, dass eine Schulklasse darin verschwinden kann – das präsentieren Polizei, Berufsgenossenschaften und Verbände immer wieder bei Verkehrsschulungen.
Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) ist der Ansicht, dass schon eine richtige Einstellung der bis zu sechs Spiegel an einem Lastwagen dafür sorgen könne, den toten Winkel deutlich zu minimieren. Rüdiger Ostrowski, Vorstandsmitglied beim Verband Spedition und Logistik NRW, sagt hingegen: „Es gibt kein System, das lückenlos den toten Winkel ausschließt. Spiegel, Kameras und elektronische Warnsysteme helfen mit, sind aber technisch teilweise nicht ausgereift und bieten nur eine Scheinsicherheit.“
Den Opfern keine Mitschuld geben
Die Bereitschaft, sinnvolle Systeme anzuschaffen, sei bei Speditionen groß, wie Ostrowski unterstreicht. Und trotzdem würden auch Kameras keine hundertprozentige Sicherheit gewährleisten: „Eine Sattelzugmaschine knickt beim Abbiegen hinten weg, dann sieht der Fahrer auch über die Kamera nur den Auflieger. Der tote Winkel verändert sich dann ja“, sagt er. Die Kamera müsste den Winkel dynamisch abbilden. An einer solchen Entwicklung werde aber gearbeitet. „Um die traurige Anzahl dieser Unfälle zu verhindern, müssen aber auch Kommunen, Schulen, Eltern, Fußgänger und Radfahrer mithelfen“, sagt Ostrowski.
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Die Städte müssten Beschilderungen und Durchfahrten eindeutig regeln, Fußgänger und Radfahrer sollten im Zweifel lieber den Lkw vorlassen und anhalten, wenn sie keinen Blickkontakt zum Fahrer haben. Ostrowski will damit Opfern keine Mitschuld geben, wie er betont. „Aber es gibt bisher noch kein vollständig helfendes technisches Hilfsmittel. Bei jedem Rechtsabbiegen bleibt ein Risiko.“