Das Buch „Objekte, die die Welt bedeuten“ liefert eine umfassende Analyse von Carl Niessens Haltung zur NS-Zeit und seinem Antisemitismus.
Neues Werk beleuchtet sein SchaffenDer Kölner Theaterwissenschaftler Carl Niessen im Fokus
Theatermasken und Schattenspielfiguren aus aller Welt, Bühnenmodelle, Fotos und Filme, Theaterzettel und vieles mehr: Die Theaterwissenschaftliche Sammlung auf Schloss Wahn beherbergt einen einzigartigen Schatz. Die Sammlung ist nicht bloßes Archiv oder Museum, sondern steht im Dienst der Forschung über Theater und Medien – und das seit 100 Jahren.
Gegründet und aufgebaut wurde die Sammlung von dem Kölner Theaterwissenschaftler Carl Niessen (1890 bis 1969). Mit dem Buch „Objekte, die die Welt bedeuten“ liegt erstmals eine umfassende Untersuchung über Carl Niessen und seine Arbeit vor, verfasst von der Kölner Medienwissenschaftlerin Nora Probst.
70 Kisten voll Archivmaterial
Carl Niessen gehört zu jenen Hochschullehrern, die in den 1920er und 30er Jahren das damals neue Fach Theaterwissenschaften aufgebaut und geprägt haben. Dass das Kölner Institut sich mit der Aufarbeitung der eigenen Fachgeschichte lange Zeit schwertat, hat zwei Ursachen. Niessen umfangreicher Nachlass – rund 70 Archivkisten – gelangte erst 2009, nach dem Tod seiner Witwe, an das Institut. Zudem galt Niessen aufgrund seiner Nähe zu Nationalsozialismus und zur rassistischen NS-Ideologie als problematischer Zeitgenosse, um den man lieber einen Bogen machte.
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Nora Probst hat für ihre Untersuchung einen ebenso originellen wie überzeugenden Weg eingeschlagen. Sie nimmt die Leser mit auf eine Führung durch das Institut für Theaterwissenschaft am Salierring 45, wo es von 1932 bis zur Bombardierung 1942 residierte. Die Räume, vom Foyer über die Probebühne, die umfangreichen Sammlungs- und Ausstellungsräume bis zum Direktorenzimmer, werden als Orte der Wissensvermittlung abgeschritten und analysiert. Im Kern geht es dabei immer um die Beziehung zwischen den Objekten der Sammlung und ihrer Rolle als Studienobjekte, die sich nicht nur rational, sondern auch visuell-intuitiv erfassen lassen.
Niessen war ein origineller Denker mit einem breiten Verständnis von Theater. Das mittelalterliche Fastnachtsspiel interessiert ihn ebenso wie das Hänneschen-Puppentheater und die Experimente der Theateravantgarde. Vor allem aber blickt Niessen auf magische Rituale der Naturvölker in aller Welt, von der Hopi-Indianern bis zu sibirischen Schamanen. Problematisch daran aus heutiger Sicht ist sein Einstufung dieser Naturvölker als „Primitive“, doch darin war der Kölner Wissenschaftler ganz Kind seiner Zeit. Niessen war überzeugt, dass in allen Kulturen ein mimischer „Urtrieb“ existiert und das Rituale, vor allem im Umgang mit Toten, die Quelle des Theaters bilden.
Antisemit mit mangelnder „Linientreue“
Anhand von bislang nicht erschlossen Quellen weist Nora Probst nach, dass Niessens Verhältnis zum NS-Staat deutlich komplexer war als angenommen. Niessen war ohne Zweifel Antisemit und vertrat völkische Positionen. Auch der NS-Begriff „Thingspiel“ für eine spezifische, heroisierende Form des Freilichttheaters geht auf ihn zurück. Auf der anderen Seite passte sein überkulturelles Theaterverständnis so gar nicht in die NS-Linie. Darüber hinaus setzte sich der Professor mehrfach für Studierende ein, die Ärger mit dem Nazi-Regime bekamen. Beschwerden über Niessens mangelnde „Linientreue“ gingen bis zu Reichspropagandaminister Joseph Goebbels.
Das flüssig zu lesende Buch, illustriert mit über 90 Fotos und Zeichnungen, ist nicht nur für ein Fachpublikum geschrieben, sondern richtet sich an alle, die sich für Wissenschaft und Theater in Köln und darüber hinaus interessieren. Schmerzlich ist nur der hohe Preis von 99 Euro für die Hardcover-Ausgabe und 79 Euro für das E-Book.
Nora Probst: Objekte, die die Welt bedeuten. Carl Niessen und der Denkraum der Theaterwissenschaft. Stuttgart 2022, 99 Euro, auch als E-Book erhältlich.