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„Das andere Gespräch“ mit Kulturdezernent Charles„Streaming hat mich fasziniert“

Lesezeit 7 Minuten
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Der gebürtige Schweizer Stefan Charles ist Kulturdezernent der Stadt Köln.

Köln – Der gebürtige Schweizer Stefan Charles ist Kulturdezernent der Stadt Köln. Sein Wunsch-Gesprächsthema war das Fernsehen, dabei hat er nie einen eigenen Fernseher besessen. Zum Abschluß der Serie sprach Moritz Rohlinger mit dem 55-Jährigen.

Sie wollten über das Fernsehen sprechen. Was verbindet Sie damit?

Das war der Ort, an dem ich gewirkt habe, nachdem ich Museumsarbeit gemacht habe. Ich war als Geschäftsführer beim Kunstmuseum Basel und wurde dann aufmerksam auf diese Stelle als Kulturchef beim Schweizer Radio und Fernsehen (SRF). Wir wollen heute nicht über die Kultur sprechen, aber man muss verstehen, dass die Kulturabteilung mit ihren Redaktionen auch Dinge gemacht hat wie Gottesdienste zu übertragen. Auch Fiktion und Dokumentarfilm gehörten zu den Sparten und wir waren nebenher noch der wichtigste Förderer für Literatur, Musik und Film in der Schweiz. Ein bunter Blumenstrauß an Aufgaben.

Das klingt nach einer großen Herausforderung.

Ja. Ich habe die Aufgabe übernommen, als in der Schweiz eine Volksabstimmung anstand, bei der darüber entschieden wurde, ob die Leute in Zukunft noch Gebühren zahlen, oder eben nicht. Wir hätten den öffentlichen Rundfunk in der Schweiz im Zweifel innerhalb eines Jahres abschaffen müssen. Das Problem war: Als Öffentlicher Rundfunk dürfen Sie keinen Wahlkampf machen. Wir mussten also sehr viel über die Frage nachdenken: Warum brauchen die Leute uns?

Es gibt SRF noch. Also warum brauchten die Schweizer Sie?

Die Antwort ist wie in jedem Land: Eine Demokratie funktioniert nicht ohne öffentlich-rechtliche Medien. Es braucht eine komplett unabhängige Berichterstattung zu allen wichtigen Themen und politischen Geschäften. Und die Menschen wollen sich informieren. Parteien informieren natürlich auch, aber aus ihrer eigenen Perspektive. Sind wir also in der Lage, uns eine andere Meinung anzuhören?

Zur Person

2017 übernahm der in Freiburg/Schweiz geborene Stefan Charles die Abteilungsleitung Kultur beim Schweizer Radio und Fernsehen. Zuvor war er seit 2011 kaufmännischer Direktor am Kunstmuseum in Basel und für die Neuausrichtung und den Museumsneubau verantwortlich.

Von 2014 bis 2016 hatte der frühere Musikproduzent und Geschäftsführer des Zürcher Rohstofflagers auch einen Lehrauftrag an der Universität Zürich.

Seit Oktober 2021 ist Charles Kölner Kulturdezernent. 2012 wurde er zudem als Mitbegründer der Internet-Plattform kulturkritik.ch mit dem „Greulich Kulturpreis für herausragendes Schaffen im Schweizer Kulturjournalismus“ ausgezeichnet. (rom)

Das müssen wir immer wieder lernen, weil wir durch Dinge wie den Alltag und Corona abgelenkt sind. Zudem gibt es in der Schweiz bei solchen Abstimmungen oft einen Stadt-Land-Graben. In Genf, Basel oder Zürich haben die Menschen eine ähnliche Meinung, die meist sehr unterschiedlich ist zur Landbevölkerung. Allerdings überwiegt die Landbevölkerung in der Schweiz, also können Sie ahnen, in welche Richtung es geht…

Sie sind in Freiburg in der Schweiz geboren, sind sie also Stadt oder Land-Fraktion?

Das ist eine lustige Geschichte. Ich bin da geboren, aber wir sind ein halbes Jahr später weggezogen, ich kenne die Stadt gar nicht wirklich.

Wo sind sie aufgewachsen?

Ich habe sechs Geschwister und meine Eltern waren Pädagogen. Wir sind alle anderthalb oder zwei Jahre umgezogen. Man könnte mich ein Stück weit als heimatlos bezeichnen, aber in der Zeit, in der ich berufstätig war, lebte ich entweder in Zürich oder in Basel. Ich hab mich immer mehr mit dem Stadtmenschen identifiziert. In den Schweizer Bergen bin ich genauso Tourist wie ein Deutscher oder ein Italiener.

Zurück zum Fernsehen. Sie sprechen von wirken, nicht von arbeiten. Wie sah das aus?

Mich hat das Medium sehr interessiert. Ich glaube, ich war der erste Nicht-Journalist in der Geschäftsführung von SRF. Das ist eine kühne Behauptung, die aber wahr sein könnte. Ich hab mich sehr schnell im Mediengeschäft wohlgefühlt. Also Kulturschaffender kannte ich die Inhalte sehr gut, aber bei den Mechanismen musste ich zunächst viel lernen. Mit „wirken“ meine ich die große Aufgabe, eine Transformation herbeizuführen. Wir waren gezwungen, unser TV- und Radio-Angebot um ein digitales zu erweitern. Dabei muss man alle Prozesse neu denken. Wir haben ein Art Newsroom für alle inhaltlichen Themen geschaffen und von da aus dann neue Formate entwickelt.

Was ist populär in der Schweiz?

Die Schweizer sind vielleicht nicht die besten Storyteller der Welt. Fiktionale Produktion in der Schweiz ist wahnsinnig teuer. Sie haben also wahnsinnig wenige Möglichkeiten. Die Doku-Sparte dagegen liegt den Schweizern sehr. Dokus kann man in kleinen Teams machen. Sie müssen Geduld haben, genau sein und gut beobachten können. Das sind viele Eigenschaften, die einem Schweizer zugeschrieben werden. Und im Doku-Bereich sind sie auch wirklich gut.

Also lag der Fokus auf der Doku-Sparte?

Wir haben viel Förderung betrieben für freie Dokumentationen, aber auch selbst viel für das lineare Programm produziert. Am Ende hatten wir ein tolles Programm. Wir haben viel mehr eine junge Szene in die Doku-Produktion miteinbezogen. Dadurch hatten wir eine viel bessere Wettbewerbssituation. Wir haben auch viele neue Impulse geliefert.

Wie sahen diese Impulse aus?

Wir haben zum Beispiel junge Leute mit Kameras losgeschickt, um zu berichten, warum die jüngere Generation auch heute noch die Interrail-Zugreisen durch Europa macht, was meine Generation früher auch getan hat. Da entstand eine tolle Doku-Serie draus. Außerdem haben wir viel experimentiert und wahnsinnig viel über das Publikumsverhalten gelernt, besonders des jungen und digitalen Publikums.

Wie schauen junge Leute denn Fernsehen?

Die Sendung „Sternstunde“ ist hierfür ein gutes Beispiel: Eine 60-minütige Interviewsendung, in der wir die große Philosophen und Prominenz wie den Dalai Lama zu Gast hatten. Die Sendung wurde am Sonntagvormittag ausgestrahlt. Da war das Publikum im Schnitt 73 Jahre alt. Da habe ich gedacht, das kann nicht sein. Also sind wir nach Zürich in den Club „Kaufleuten“ gegangen und haben das Ding am Samstagabend um 23 Uhr live ausgestrahlt – gleiche Protagonisten, gleiche Inhalte – und plötzlich hatten wir das Durchschnittsalter der Zuschauer halbiert. Wir haben aber auch mit Doku den erfolgreichsten Youtube-Kanal beim SRF produziert – nicht mal der Sport konnte da mithalten (lacht). Und wir hatten einen Newsletter, der hat unter der Woche gar nicht funktioniert, also haben wir ihn auf Sonntagvormittag gelegt und die Leserzahlen sind deutlich gestiegen!

Also wird sonntags mehr gelesen, als Fernsehen geschaut. Wie ist das bei Ihnen?

Ich muss gestehen, ich habe nie in meinem Leben einen Fernseher gehabt. Also bei SRF hatten wir natürlich welche, aber ich hab schon immer mehr am Laptop Dinge geschaut. Schon mit dem Start von Netflix habe ich angefangen, alles zu streamen. Das fand ich unheimlich faszinierend. Das lineare Fernsehen hat mir nie so entsprochen.

Trotzdem haben Sie für den Rundfunk gearbeitet?

Die Produktion in den einzelnen Redaktionen ist nicht so, dass alles linear produziert wurde. Wir haben die Sendung zu einem Gesamtprogramm zusammengesetzt, deswegen war das nie problematisch. Ich hab mir dann natürlich mehr angeschaut, auch von der Konkurrenz. Wir haben auch ein Vollprogramm für Radio gemacht, da können Sie nicht alles vollständig mitverfolgen. Also habe ich meist nur die wichtigsten Stellen gesehen und ich habe mehr mit dem Medium gearbeitet als konsumiert.

Aber arbeitstechnisch haben sie auch einen großen Wert auf Streaming gelegt?

Naja, im Grundsatz geht es dabei ja darum, dass mir diese Art widerspricht, zu einer bestimmten Zeit etwas vorgesetzt zu bekommen. Ich hab den Anspruch, die Dinge selbst zu gestalten. Deswegen habe ich gerne online und „on demand“ konsumiert. Und offenbar entspricht das auch der Mehrzahl der heutigen Konsumenten. Ich bin froh, dass die Zeiten vorbei sind, in denen man Dinge nur zum Zeitpunkt der Ausstrahlung sehen konnte.

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Was schauen sie denn selbst? Haben Sie einen Serien-Tipp?

Ich mochte „Killing Eve“, „Better call Saul“ und „In Treatment“. Außerhalb des Bereichs Fiction finde ich „The Andy Warhol diaries“ und „My Octopus teacher“ gut.

Zum Abschluss eine ganz andere Frage: Welche Rolle spielt die Tageszeitung noch in dieser digitalen Welt?

Ich glaube, dass für die Menschen das Regionale ganz wichtig ist. Ich lebe in der Stadt und begegne den Menschen, also ist das, was hier passiert, für mich wichtig. Die Menschen brauchen den Lokaljournalismus, um sich zurechtzufinden und ihr tägliches Lebensumfeld besser zu verstehen.