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Festnahme nach Raub in KölnWie Reemtsma-Entführer Thomas Drach sich verzockt hat

Lesezeit 6 Minuten

Überfall auf einen Geldtransporter bei Ikea in Köln-Godorf, bei dem Thomas Drach beteiligt gewesen sein soll.

  1. Überraschende Wendung nach drei Überfällen auf Geldtransporter in Köln und Frankfurt: Bei dem gefassten Verdächtigen handelt es sich um den Reemtsma-Entführer und Serien-Kriminellen Thomas Drach.

Köln – Was für eine Schmach. 400 Euro erbeutete Thomas Drach am Aschermittwoch des Jahres 2019 bei einem Überfall auf einen Geldtransporter am Flughafen Köln/Bonn. Bei der gewaltsamen Geldbeschaffung hatten es der Berufskriminelle und seine Komplizen auf das falsche Fahrzeug abgesehen. Der Wagen war an diesem 6. März zur Abholung von Kleingeld aus Automaten am Airport vorgefahren – zur Abholung der großen Summen steht der Geldtransporter am Terminal 2 eine Etage tiefer am Busbahnhof bereit. Man darf davon ausgehen, dass Drach das Versagen persönlich geschmerzt hat.

Thomas Drach war der Kopf der wohl spektakulärsten Entführung der deutschen Kriminalgeschichte. Mit drei Mittätern ist er verantwortlich für die Entführung des Hamburger Soziologen und Tabak-Erben Jan Philipp Reemtsma 1996. Die Geiselnahme endete nach 33 Tagen in einem Keller nahe Bremen. Die Täter strichen rund 30 Millionen in Mark und Schweizer Franken ein. Nach seiner Verurteilung zu insgesamt mehr als 15 Jahren Haft wurde Drach 2013 freigelassen. Was ihm fehlte: Geld.

Videoaufnahmen überführten den Täter

In der Öffentlichkeit sind der dreiste Coup am Flughafen Köln/Bonn, der Raubüberfall auf einen Ikea-Geldtransporter in Köln-Godorf im März 2018 und einen Ikea-Geldtransporter in Frankfurt im November 2019 fast in Vergessenheit geraten. Doch im Hintergrund wurde bei der Polizei über viele Monate im In- und Ausland akribisch ermittelt – besonders im verdeckten Bereich. Am Dienstagmorgen machten die Fahnder ihre Ermittlungsergebnisse öffentlich. An den Raubüberfällen in Köln und in Hessen soll der Reemtsma-Entführer Thomas Drach beteiligt gewesen sein. Mit dieser Wendung hat, außer die eingeweihten Ermittler, niemand gerechnet. Maßgeblich haben die Videoaufnahmen von den Taten bei Ikea in Köln und am Flughafen zur Aufklärung beigetragen. Ein Gutachter hatte sich die Videos immer wieder angeschaut und kam zu der Erkenntnis: Das ist Thomas Drach. Wie die Rundschau erfuhr, war es der Gang, der dem Ermittler bekannt vorkam.

Im heimischen Erftstadt die Kennzeichen abmontiert

An Aufnahmen mangelte es auch nicht beim spektakulären Überfall am Terminal 2 des Flughafens. Ein Taxifahrer erinnerte sich genau: „Ein Audi kam angerast. Er hielt neben dem Transporter. Zwei Männer stiegen aus und einer schrie: Auf den Boden. Auf den Boden“. Ein mit einer Kalaschnikow bewaffneter Mann packte sich einen Koffer und rannte schnell weg. Vorher wurde einem Wachmann im Getümmel ins Bein geschossen und lebensgefährlich verletzt. Einer der Täter muss Thomas Drach gewesen sein.

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Die Staatsanwaltschaft spricht von einem dringenden Tatverdacht. Die Beute wurde in den Audi gepackt. Dabei passierte eine zweite kleine Panne. Der Stauraum war zu klein für die erbeuteten zwei Koffer, die Männer mussten sekundenlang umpacken, bis das Diebesgut ins Auto passte. Wertvolle Sekunden auf der Flucht verstrichen – auch diese Szenen sind auf Videos festgehalten. Der Fluchtwagen wurde später an einem abgelegenen Feldweg, direkt neben der A 59, ausgebrannt aufgefunden. Dennoch konnten die Ermittler Spuren sicherstellen. Im Kofferraum lag eine Kalaschnikow.

Schon damals vermuteten die Fahnder, dass die Täter Ortskenntnis gehabt haben müssen. Und sie lagen richtig. Thomas Drach ist in Erftstadt geboren und aufgewachsen, es dürfte kein Zufall sein, dass das Kennzeichen für das Fluchtauto bei dem Kölner Ikea-Überfall in Erftstadt abmontiert wurde.

Aus gutbürgerlichen Verhältnissen in Erftstadt

Wie sein jüngerer Bruder Lutz stammt Thomas Drach aus gutbürgerlichen Verhältnissen. Der Vater war leitender Mitarbeiter bei den Miele-Werken, dennoch glitten die Brüder ins kriminelle Milieu ab. Nach kleineren Delikten rasten sie 1981 durch ein Schaufenster direkt in eine Kölner Sparkassen-Filiale und bedrohten die Angestellten mit Schrotgewehren. Die Brüder wurden zu siebeneinhalb und zehn Jahren Haft verurteilt. Traurige Berühmtheit erreichten sie durch die Entführung des Intellektuellen Jan Philipp Reemtsma auf dessen Grundstück in Hamburg-Blankenese. Die Lösegeldforderung über 20 Millionen Mark war mit einer Handgranate beschwert worden. Nach gescheiterten Übergaben des Geldes erhöhte Drach die Forderung auf 30 Millionen Mark. Nach 33 Tagen in Gefangenschaft wurde Reemtsma am 26. April freigelassen. Drachs zynischer Abschiedsgruß an sein Opfer: „Sie erleben die Luxus-Version einer Entführung.“

 Jan Philipp Reemtsma 1996 in Geiselhaft

Der Haupttäter mietete sich nach der Tat kurzzeitig in einer Kölner Pension ein und reiste über Paris nach Venezuela aus und von dort weiter nach Kuba und Uruguay, wo er sich in einer Villa einem Luxusleben hingab. Auf der Flucht führte er unter anderem den Namen Anthony Lawlor – mit gefälschtem britischem Pass. Fast zwei Jahre später flog er in Argentinien auf. Dem Mastermind oder „Genie“, als das er sich gerne selbst bezeichnete, wurde ein abgehörtes Telefonat mit einem früheren Freund aus der Justizvollzugsanstalt Rheinbach zum Verhängnis. Wenig aufmerksam. Die Festnahme folgte nach der angekündigten Reise zu einem Konzert der Rolling Stones in Buenos Aires.

Im Jahr 2000 wurde Drach zu vierzehneinhalb Jahren Haft wegen erpresserischen Menschenraubs verurteilt. Thomas Drachs Bruder Lutz musste wegen Beihilfe zur Geldwäsche hinter Gitter. 2011 wurde Thomas Drach der Anstiftung zur räuberischen Erpressung schuldig gesprochen. Er soll mit Briefen aus der Haft heraus versucht haben, einen Bekannten zur Erpressung seines Bruders zu bringen. Es ging offenbar um die Beute der Entführung.

Nach seiner Entlassung 2013 lebte Drach unter anderem auf Ibiza. Der Großteil des Reemtsma-Geldes ist bis heute nicht aufgetaucht. Dass Drach hinter den Überfällen steckt, könnte belegen, dass von der Beute tatsächlich nichts mehr da ist.

Rückblick: Der Fall Jan Philipp Reemtsma

Den Keller lässt man nicht zurück. „Der Keller wird in meinem Leben bleiben, aber so wenig wie möglich von der mir dort aufgezwungenen Intimität soll in meinem Leben bleiben.“ Mit diesen Sätzen umreißt Jan Philipp Reemtsma in seinem Buch „Im Keller“die Entführung 1996. 33 Tage lang musste der Publizist und Erbe der Reemtsma-Tabak-Dynastie in der Hand seiner Entführer ausharren. Angekettet und machtlos, ausgeliefert der Ungewissheit. Ein Jahr nach der Geiselnahme hat der Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung in einem analytischen Buch zu Papier gebracht, was die Angst mit einem Menschen macht. Dass jeder noch so bedrohliche Zustand besser auszuhalten sei als die flirrende Ungewissheit. Wie sehr es ihn später ängstige, in einem Hotelzimmer zu sitzen und auf dem Flur Schritte zu hören. Unbestimmbare Schritte.

Der heute 68 Jahre alte Reemtsma wurde in Bonn geboren. Er studierte Literatur und Philosophie, Anteile am Tabakkonzern veräußerte er und widmete sich dem freiheitlichen Denken. 1984 erfüllte er sich einen Herzenswunsch: Er gründete das Institut für Sozialforschung in Hamburg. Bekannt wurde es vor allem durch zwei Wanderausstellungen über den Vernichtungskrieg und die Verbrechen der Wehrmacht. Die Debatte über die Schuld der Väter entfacht Reemtsma, indem er das Bild der ahnungslosen Nazi-Armee zertrümmert. Es ist eine Debatte, die viele nicht aushalten konnten, die auch den Bundestag erschütterte. Dass er über Gewalt und Folter geforscht hat und selbst zum Opfer wurde, ist eine bittere Wendung in seinem Leben.

Während des Prozesses gegen Entführer Thomas Drach trat er als Nebenkläger auf und hielt im Gerichtssaal ein Plädoyer für die Sicherungsverwahrung. Ihn interessiere nicht, „wie die Lumpen aussehen“, er wolle sie im Gefängnis wissen, hatte er vor Prozessbeginn geäußert. „Angst gibt es in jedem Leben“, sagte Reemtsma bei der Vorstellung seines ersten Kinderbuches vor eineinhalb Jahren. Kindern fehlten aber die Mechanismen für den Umgang damit. Den Vorsitz des Instituts hatte er da bereits abgegeben. Über die 33 Tage im Keller hat auch Johannes Scheerer, Reemtsmas Sohn, ein Buch geschrieben. Er war 13 Jahre alt, als der Vater entführt wurde. Und auch ihn, den Musikproduzenten, veränderte das Verbrechen für immer. Der Vater schrieb ihm Briefe, manche bekam er erst nach der Freilassung zu lesen. Der Keller lässt nicht los. (mft)