- Der Missbrauchsfall aus Bergisch Gladbach hat unerwartete Ausmaße angenommen. Die Polizei hat eine landesweite Großlage ausgerufen.
- Deshalb wurden sogenannte Besondere Aufbauorganisationen ins Leben gerufen. Die Bao Berg hat auch einen Einsatzabschnitt in Köln.
- Der Redaktion der Kölnischen Rundschau wurde Einblick in die Ermittlungen der Kölner Beamten gewährt. Es ist ein Blick in den menschlichen Abgrund.
Köln – Die Frau mit dem dampfenden Becher Kaffee in der Hand hat es eilig. Ob sie kurz vorbei dürfe, fragt sie zwei ihrer Kollegen, die ihr im Weg stehen. „Ich führe gerade eine Vernehmung“, erklärt sie, schlängelt sich durch und verschwindet kurz darauf in einem Nebenraum.
Die Frau ist Ermittlerin im Einsatzabschnitt Köln der sogenannten Bao Berg, die im Fall des massenhaften Kindesmissbrauchs ermittelt. Bao steht für Besondere Aufbauorganisation. Die Polizei ruft sie immer dann ins Leben, wenn es eine landesweite Großlage gibt. Und die gibt es seit dem 31. Oktober 2019.
Hinweise auf weibliche Täter
Der Missbrauchsfall, der an diesem Tag mit der Festnahme eines Mannes in Bergisch Gladbach der Öffentlichkeit bekannt geworden ist, hat nach Informationen unserer Redaktion ein Ausmaß erreicht, das selbst erfahrene Kriminalbeamte vorher nicht für möglich gehalten haben. Demnach ermittelt die Polizei mittlerweile bundesweit gegen 31 Beschuldigte, 16 davon aus NRW, 15 aus acht weiteren Bundesländern.
Der Polizei liegen auch Hinweise auf weibliche Täter vor. Zudem haben die Ermittler Bezüge ins benachbarte europäische Ausland festgestellt. In den Chats, in denen die Täter über den Kindesmissbrauch kommuniziert haben, werde auch über Urlaubsbekanntschaften und Urlaubsorte gesprochen.
Diesen Spuren werde nachgegangen, heißt es aus Sicherheitskreisen. Täter und Tatorte im Ausland seien aber noch nicht gefunden worden. Kölns Polizeipräsident Uwe Jacob erklärt: „Trotz meiner 45 Dienstjahre kenne ich nichts Vergleichbares in Deutschland. Das Verfahren hat gewaltige Dimensionen.“
Missbrauch war Normalität
Einige Missbrauchsfälle reichen viele Jahre zurück. „Wir haben Opfer, die jetzt 15 Jahre alt sind und schon als Kind missbraucht worden sind“, sagt Kölns Kriminaldirektor Michael Esser. Persönlich tief getroffen habe ihn die Reaktion der Kinder. „Die fragen nach wenigen Tagen, wo der Papa sei. Dabei wissen wir, dass ihr Vater sie jahrelang massiv missbraucht hat“, sagt er. Deshalb sind die Ermittler zu dem Ergebnis gekommen: Für die betroffenen Kinder sei es normal, missbraucht zu werden. „Die erkennen das Unrecht nicht, weil sie es nicht anders gewohnt sind.“
Auch Becker belastet das sehr. „Sie sagen nicht, Gott sei Dank, ist alles vorbei. Sie empfinden das nicht als Befreiung. Sie sehen nur, der Papa ist weg.“ Dieses Verhalten habe auch Auswirkungen auf ihre Mütter. „Selbst wenn das kaum vorstellbar erscheint: Die Mütter haben in einer Reihe von Fällen tatsächlich nicht gewusst und nicht gemerkt, was ihren Kindern angetan wird“, sagt Esser.
Manche Frauen hätten sich sofort von dem Tatverdächtigen getrennt, andere reagierten erst einmal nur entsetzt. „Auch die Ehefrauen und Angehörige sind für uns Opfer. Für das Umfeld haben wir Betreuungsangebote, manche nehmen sie an, weitere erst später, andere gar nicht“, sagt Polizeipräsident Jacob.
Täter sind „meisterhafte Schauspieler”
„Wenn wir in die Wohnung kommen, bricht eine Welt auseinander“, sagt Esser. Der Tatverdächtige kommt mit auf die Wache; die in den meisten Fällen ahnungslose Familie wird in ein Hotel gebracht, weil eine Wohnungsdurchsuchung tagelang dauern kann. „Das ist ein riesiger Schock für die Angehörigen“, sagt Esser.
Bislang habe das private Umfeld der Beschuldigten noch in keinem Fall Hinweise auf das Verhalten der Täter geben können. „Sogar engste Freunde und Verwandte scheinen keine Ahnung von den Missbräuchen gehabt zu haben“, sagt Esser. Er beschreibt die Täter als meisterhafte Schauspieler, die ihre Fassade über Jahre hinweg aufrechterhalten konnten. Sie führten ein Doppelleben.
Es seien vermeintlich normale Menschen mit Hobbys und Freundeskreisen; Menschen, die nicht auffielen. Bei ihnen zu Hause sehe es aus wie bei vielen anderen: Fotos mit Freunden und Verwandten hängen an der Wand – eine scheinbar bürgerliche Welt. „Und dann stehst du als Ermittler davor und weißt: Dieser Mensch hat sein eigenes Kind missbraucht. Das ist unmenschlich und unbegreiflich“, sagt Becker.
So laufen die Ermittlungen
Kriminaldirektor Esser leitet die Bao Berg, in der landesweit bis zu 350 Polizisten tätig sind. Wegen der Größe arbeiten an dem Fall landesweit 16 Kriminalhauptstellen mit jeweiligen Ermittlerteams – dazu zählen unter anderem die Polizeipräsidien Aachen, Bonn, Krefeld und eben Köln. Gesteuert wird alles im sogenannten Befehlsraum des Kölner Polizeipräsidiums, in den während der laufenden Missbrauchsermittlungen eigentlich niemand von außen Zutritt hat. Für unsere Redaktion wurde eine Ausnahme gemacht.
Die Ermittler des Einsatzabschnitts Köln, die anderswo im Gebäude sitzen, sind wie die anderen 16 Kriminalhauptstellen direkt mit dem 120 Quadratmeter großen Befehlsraum verbunden, in dem bis zu 50 Ermittler gleichzeitig arbeiten können. An den Wänden hängen sechs große Leinwände. Ein Terminkalender zeigt, welche Besprechungen und Vernehmungen anstehen.
Eine andere Bildfläche dokumentiert die neuesten Entwicklungen in den Ermittlungen; an zwei weiteren Großbildschirmen stehen alle Namen der bisherigen Beschuldigten und deren aktuellen Aufenthaltsorte, zum Beispiel eine Justizvollzugsanstalt. Eine Leinwand zeigt die Beschuldigten, die aus NRW kommen, eine weitere diejenigen aus anderen Bundesländern.
Masse an Chats, Bildern und Videos
Die Ermittler haben 3300 Datenträger und mehr als 4400 Asservate sichergestellt, darunter Sexspielzeug, Kinderkleidung und Fesseln. „Wir haben mit einer Vielzahl an Daten gerechnet, aber diese Masse, die wir vorgefunden haben und immer noch vorfinden, hat uns überrascht“, sagt der Leiter der Kölner Kriminalpolizei, Klaus-Stephan Becker. Selbst erfahrene Analysten aus dem Landeskriminalamt hätten ihm gesagt, dass sie Handys mit so vielen Daten noch nie gesehen hätten: voll mit Chats, tausenden Bildern und Videos.
Kriminaldirektor Esser sagt, dass es unmöglich sei, alles gleichzeitig auszuwerten; deshalb werde priorisiert. „Wir werten also ein Handy, das möglicherweise aktuell zum Austausch von Bildern genutzt wird, eher aus als eine CD“, erklärt der Kriminaldirektor. Bei den Durchsuchungen drehen die Ermittler jeden Stein um, da die Tatverdächtigen die Beweismittel zum Teil sehr gut verstecken. So habe ein Schreiner, erzählt Esser, einen Schrank mit doppelter Tür gebaut, hinter der er sämtliches Material gelagert hatte.
Der Einsatzabschnitt Köln verbirgt sich hinter einer unscheinbaren Tür im weitläufigen Kölner Polizeipräsidium, an der ein am Computer ausgedrucktes Din-A4-Blatt mit der Aufschrift „Bao Berg“ hängt. Der Raum dürfte kaum 50 Quadratmeter groß sein. Voll gestellt ist er mit jeder Menge Telefone und Computer, hinter denen auffällig viele weibliche Ermittler sitzen; geleitet wird dieser Einsatzabschnitt ebenfalls von einer Frau.
Ermittlungen wie riesiges Puzzle
An den Wänden hängen Fotos von mutmaßlichen Verdächtigen und ihren Opfern, Aufnahmen von Männern und Kindern. Die Wände sind so voll gehängt, dass sich kaum noch ein freier Platz für ein Foto finden lässt. Eine großflächige Abbildung, die aussieht wie ein Spinnennetz, zeigt einen Beschuldigten und dessen privates Umfeld – in welchen Beziehungen er zu wem steht. In hinteren Nebenräumen werten Ermittler die Texte der sichergestellten Chatverläufe aus; die Bilder und Videos werden derzeit vorrangig noch beim Landeskriminalamt bearbeitet.
Uwe Jacob erklärt, wie die Ermittler Teil für Teil des Falls wie bei einem Puzzle zusammensetzen: „Wir legen, bildlich gesprochen, beim Auswerten der unglaublichen Datenmengen viele Puzzlestücke zusammen. Bei einem 1000-Teile-Puzzle kann man alle Teile ausbreiten, aber man sieht noch kein Bild. Ich glaube, dass wir den Rand des Puzzles fast fertig haben.
Allerdings die Randstücke sind auch immer die einfachsten. Immer wieder finden wir weitere Puzzleteile, die zusammenpassen und können weitere Personen identifizieren. Ein Beispiel: Ein Tatverdächtiger postet aus einem Urlaub ein Bild, auf dem im Hintergrund ein Hotel zu sehen ist. Über eine Abfrage der Hotelgäste können wir möglicherweise aus einem Spitznamen einen Echtnamen machen. So setzen wir Stück für Stück zusammen.“
Chatgruppe hatte 1800 Teilnehmer
Kommuniziert haben die Kriminellen mittels verschiedener Messengerdienste. „Eine Chatgruppe hatte 1800 Teilnehmer, aber es gibt etliche weitere Gruppen. Wie viele, kann man noch nicht sagen“, sagt Jacob. Interessanter für die Ermittler sind aber die unzähligen Einzelchats mit zwei Teilnehmern. Diese werden von den Pädophilen genutzt, um sich zu verabreden und zusammenzukommen.
Die Auswertung dieser Chats ist mühsam und kostet viel Zeit; ist aber notwendig. „In den Chats gibt es auch Unterhaltungen über völlig alltägliche Dinge wie Grillfeste und Geburtstage. Das ist das Komplizierte“, sagt Esser. Denn diese, vermeintlich banalen Gespräche können Hinweise auf Straftaten geben. Grundsätzlich haben die Ermittler bei den bisherigen Auswertungen festgestellt, dass die Täter sehr konspirativ vorgehen.
So nutzen sie zum Beispiel verschieden Nachrichtendienste im Wechsel, treffen sich auf frei zugänglichen Internetplattformen, auf privaten Tauschbörsen, wo man nie Bilder von missbrauchten Kindern vermuten würde.
Bergisch Gladbacher fühlen sich stigmatisiert
Es ist reiner Zufall gewesen, dass das Verfahren in Bergisch Gladbach aufgedeckt worden ist. „Es hätte genauso gut in einem anderen Bundesland entdeckt werden können. Dann wäre von Bergisch Gladbach heute keine Rede“, sagt Jacob. Die Menschen dort, sagt er, fühlten sich jetzt stigmatisiert. Der dortige Bürgermeister habe ihm die „emotionale Lage seiner Bevölkerung“ bei einem Treffen geschildert.
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Selbst die ermittelnden Täter kennen den Beschuldigten aus Bergisch Gladbach nicht. „Wir identifizieren immer mehr Personen, die mit dem Ursprung der Ermittlungen nichts zu tun haben“, sagt Esser. Aber eines eint sie alle, betont er: „Sie verbindet ihr gnadenloser und unglaublich brutaler Umgang mit ihren eigenen Kindern.“
Die Fahnder im Befehlsraum und im Einsatzabschnitt Köln gehen über ihre Belastungsgrenzen hinaus. „Sie arbeiten seit Wochen sechs Tage die Woche, zwölf Stunden am Tag“, sagt Esser. Kaum einer macht mal zwei Tage am Stück frei. Das bleibt nicht ohne Folgen. Immer mehr Ermittler werden krank. Aber viele machen trotzdem weiter. „Es werden immer noch Kinder missbraucht. Wir müssen diesen fürchterlichen Verbrechen ein Ende setzen“, sagt Jacob.